Im Juli, der ein November war, taufte Berlin seine Besucher. Wasser peitschte die Menschlein, Wasser kroch die Beine empor, Wasser schlug ins Gesicht, machte die Gassen zu Kanälen und die Straßen zu Flüssen und ganz Berlin zum Binnenhafen. Es regnete, es rann, es tropfte zwei Tage ohne Unterlass. Zwischen Regensturm und Sturmregen lud Martin Mosebach in die herrschaftliche Villa des „Wissenschaftskollegs“ nach Grunewald. Sein sechzigster Geburtstag stand zu feiern an.

 

Mosebach hatte 2009/2010 ein akademisches Jahr als „Fellow“ ebendort verbracht, in der 1910 errichteten „Villa Linde“, wohin nun die Taxis und Privatwagen strömten, aus denen Regenschirme sich wanden und Regenschirmträger von menschlicher Gestalt. Hier hatte er in unseren leidenschaftslosen Zeiten an seinem Roman „Was davor geschah“ gearbeitet, hier hatte er den Hundekehlesee kennen und lieben gelernt. Das Gewässer nämlich mit dem bizarren Namen, der „Kunstsee“, wie Mosebach ihn nun nannte, konnte mit „authentischem Meeresrauschen“ prunken, erzeugt von der nahegelegenen sechsspurigen Stadtautobahn.

 

Martin Mosebachs Begrüßungsrede vor rund 130 geladenen Gästen, Schriftstellern und Künstlern und Wissenschaftlern und Verlagsleuten und Journalisten und Priestern, gab ein Muster ab für die typisch nationalfrankfurterische Eigenschaft der Beiläufigkeit. Der gebürtige und leidenschaftliche Frankfurter Mosebach ist bekanntlich überzeugt, dass im Gewand jeder anderen Region Deutschland unvorteilhaft angezogen wäre. So stand denn nun, in tiefschwarzer Regennacht, Martin Mosebach vor keiner kleinen Aufgabe: Wie lobt man Berlin und die gastgebenden Berliner, ohne sich an der Heimatstadt zu versündigen?

 

Martin Mosebach wählte den denkbar elegantesten Weg. Er fragte, links vom Flügel im Vortragssaal zu ebener Ebene, „wofür steht Berlin?“ und gab sich und uns Massenmenschen die Antwort: „Niemandsland und Deutschland gehen hier zusammen und bilden ein neuartiges, noch nicht definiertes Drittes. (…) Wir zogen in die Stadt, und die Stadt zog zu uns.“ Berlin wäre demnach eine Hauptstadt ganz eigener Art. Sie bündelt ein Land, das sie selbst transzendiert, ist Zentrum und zugleich programmatisch Peripherie, mehr Zustand denn Ort, mehr Ausblick als Stätte. Gerade so, folgerte Mosebach, gelang es Berlin, „uns in Frankfurt zu entwurzeln.“ Wurzellosigkeit sei die vornehmste Frucht des Berliner Jahres.

 

Zu den Heimatländern der Seele müssen wir demnach Berlin rechnen, die schroffe Metropole. Der damals eröffnete und vollendete „Kreis aus Licht, Dunst und Wasser“ machte den Dichter aber nicht sentimental. Auch den Ehrengreisen unter den Gästen gab Mosebach keine Gelegenheit zur Rührung. Er dankte den Verlegern, die er ja „sammele“, erinnerte an sein „erfolgreichstes Buch“, die „Häresie der Formlosigkeit“, und wies voraus auf den „bis zum Rand gefüllten Speisesaal“ im Souterrain. Um dort es bequem auszuhalten, möge man sich bitte vorstellen, man sei gerettet, unten dann.

 

Sodann laudatierte ein Lektor mit leiser Stimme, während seine Finger sich an einem Tanz in den Lüften versuchten, auf und ab glitten, sich verknäulten, sich lösten und von neuem ineinander fuhren. Rudolf Borchardt, sagte der leise Lektor, habe den hypochondrisch begabten Hugo von Hofmannstahl an dessen 50. Geburtstag mit der Bemerkung getröstet: „Man wird nicht ohne Schmerzen historisch.“ Auf dem „Weg des Historischwerdens“ befinde sich längst Martin Mosebach.

 

Es folgte ein junger Pianist chinesischer Abstimmung, der am Flügel Satie (erste „Gymnopédie“), Johann Sebastian Bach („Komm der Heiden Heiland“ in Busonis Bearbeitung) und Messiaen sehr einnehmend darbot. Das letzte Stück, „Kuss des Jesuskindes“ aus den „20 Betrachtungen des Jesuskindes“, schichtet schrille, hohe, gleichförmig wiederholte Tonfolgen auf einen Grund aus zarten Harmonien, um dann in langsamen Kaskaden zu enden: scheue Frühlingsschritte auf feuchtem Gras. Draußen gaben Nacht und Regen derweil keinen Blick frei auf den Villengarten mit Rhododendron, Tanne, Apfelbaum.

 

Von den Gesprächen im Souterrain schweigt des Chronisten Höflichkeit, der Spielraum der Freiheit ist ohnehin klein bemessen. Nur soviel sei gesagt, dass tatsächlich, wie Mosebach schelmisch ankündigte, „Erfrischungen gereicht“ wurden. Um Mitternacht gratulierte die singende Schar. Und die Fluten stürzten draußen herab, tauften die dort Rauchenden aufs Neue. Die Natur spielt bekanntlich ihre Symphonie in voller Besetzung auch vor zerstreutem Publikum.

 

Der folgende Tag war der siebte Sonntag nach Pfingsten. In der alten Messordnung im klassischen Ritus, dem auch der Geehrte beiwohnte, heißt es im Graduale, accedite ad eum, et illuminamini – nahet euch ihm, ihr sollt strahlen vor Freude. Allein der Regen ließ sich nicht bekehren und begrub Berlin weiter unter sich.

 

So endete das hohe Fest rein äußerlich ganz so, wie es begonnen hatte. Und obwohl vermutlich das Leben eine Anhäufung aus Gemeinheiten und Enttäuschungen geblieben war, verließen die Gäste Berlin heiterer, als sie gekommen waren.

 

 

(Die kursiv gesetzten Zitate entstammen dem Roman „Westend“)