In der Scheinbar brennt noch Licht. Eine Lokalrunde jagt die nächste. Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Herzlich eingeladen ist jeder, der auf den Unterschied von Schein und Sein pfeift. Jede, die munter mit den Achseln zuckt, wenn manches Ding sich einmal so und einmal ganz anders verhält und grundsätzlich die alte Weisheit gilt: Meistens ist gar nichts dahinter. Meistens ist alles nur Lug. Oder Trug.

Ja, zu derlei alltagspraktischer Moralität rafft sich eine Generation auf, die ein Wort verdrängte, es durch ein anderes ersetzte, das just das Gegenteil meint, zugleich aber an der alten Bedeutung festhält. „Scheinbar“ ist das neue „Anscheinend“. Ein Anschein, der eine hohe Plausibilität besitzt, für den der letzte Beweis aber fehlt, wird neuerdings mit dem sprachlichen Zeichen für das Kontrafaktische versehen.

Eben das, was nicht war und vermutlich nie sein wird, was eben nur dem Scheine nach und also scheinbar war, geben wir nun aus als das, was anscheinend der Fall ist. Die Bedeutung hat sich verkehrt. Wenn jemand scheinbar keine Nudeln mag, dann ist er versessen auf Nudeln. Wer scheinbar mit Geld umzugehen weiß, ist ein Hallodri und Hochstapler und Vermögensvernichter. Wen scheinbar das Grauen überkommt, den erschüttert nichts. Wessen Zukunft scheinbar rosig ist, der hat auf Sand gebaut. Wem scheinbar nichts über seine Gemahlin geht, der lebt längst in innerer Scheidung: So sagt es uns die Sprache, der wir nun die Gefolgschaft gekündigt haben.

Im nur scheinbaren Schein, korrekt verwendet, schlummerte die große ehrwürdige Menschheitserfahrung, dass der doppelte Boden einerseits die Ausnahme ist und dass die Fassade andererseits ihren Schrecken verliert, weil sie erkannt und durchschaut werden kann, so rar sie auch auftritt.
Nun ist alles vollendet scheinbar geworden, auch das Anscheinende, das kaum noch im Munde geführt wird. Umgangssprachlich gilt nun auch das, was stimmt, als scheinbar – und nicht länger nur das, was sich von selbst demontiert.

Politiker und Hochleistungssportler und Stammtischbelegschaft haben diese Begriffsumkehrung im Tagesgeplauder verankert. Wenn die FDP alle Anstalten macht, die Fünf-Prozent-Hürde zu meistern, dann befindet sie sich neuerdings „scheinbar“, nicht anscheinend im Aufwind. Wenn gewisse Spielzüge endlich wieder funktionieren, dann hat die Mannschaft diese „scheinbar“, nicht anscheinend trainiert – was, im Lichte betrachtet, ein echter Schmarren wäre.

Selbst der Duden hat fast kapituliert: Im Universalwörterbuch von 2010 wird „scheinbar“ in der falschen Bedeutung von „anscheinend“ mit dem Zusatz „ugs.“ für „umgangssprachlich“ versehen. Darunter steht der resignative Hinweis, fein säuberlich eingerahmt und so in letzter Verzweiflungsgebärde hervorgehoben: „Das Adverb anscheinend besagt, dass etwas allem Anschein nach tatsächlich so ist, wie es sich darstellt. Die Wiedergabe eines solchen Sachverhalts durch das Adverb scheinbar ist (…) standardsprachlich nicht korrekt.“

Es ist ein vergeblicher Kampf. Die Umgangs- wird die Standardsprache besiegen und schließlich selbst als solche gelten. Der Sprache Gesetz ist schließlich, dass sie wird und also sich entringt. Zum Jubel besteht indes kein Anlass. Es wird der nunmehr auch sprachliche Triumph sein der Virtualität über das Reale, des allgegenwärtigen Scheins zulasten des differenzierenden Blicks auf Sein und Schein. Auch das, was der Fall ist, mit den Malen der Verstellung zu belegen, deutet auf einen großen Gestaltwandel hin: Wir halten den Schein, wo immer er uns trifft, für das eigentlich Mitteilenswerte. Der Schein ist der Goldstandard unseres Umgangs miteinander.

Vermutlich hat die Sprache klug erkannt, dass dem wirklich und nicht nur scheinbar so ist, und uns darum von der standardsprachlichen Leine gelassen.