Mundschenk Merkel und die Wechselwähler
Im pfälzischen Neustadt hat man dem Elwedritsche ein Denkmal errichtet. Der Elwedritsche ist ein scheues Tier. Man hat ihn kaum je gesehen, obwohl Jahr um Jahr sich eine Jägersmeute auf den Weg macht. Sie zieht aus in die pfälzischen Wälder, will das Wesen im Unterholz aufspüren. Fliegen kann der Elwedritsche nicht, obwohl er Flügel hat. Springend, hüpfend muss er sich bewegen, hakenschlagend so schnell, dass manche gar behaupten, es gäbe ihn gar nicht. Das aber wäre gelogen.
Der Elwedritsche von Berlin heißt Wechselwähler. Gewiss, es muss ihn geben, doch unfassbar scheu ist auch er. Kaum hat sich eine Partei auf die Jagd nach ihm begeben, nimmt er Reißaus. Weil das traditionelle Unterholz, Milieu genannt, schwindet, schlage der Wechselwähler mal Haken nach links, mal nach rechts, sei nie da, wo man ihn erwartet.
Die SPD erfand einen „Basta“-Kanzler, um den Wechselwähler, den man weit jenseits des klassischen Proletariertums vermutete, an sich zu binden: Das Experiment missglückte. Die FDP zog sich einen Spaßvorsitzenden heran, der dem Wechselwähler zeigen sollte, wie schön es doch sein kann, wenn man sich beim Geldverdienen auf die Schenkel klopft: Das Experiment misslang. Die ehemalige SED-PDS bot dickschädligen Kommunisten ein Heim, um sich für das westdeutsche Schaufenster heraus zu putzen: das Experiment wird scheitern.
Einzig Angela Merkel weiß es besser. Ihre Partei, derzeit CDU gerufen, stimmt einen Lockruf an namens „Berliner Erklärung“. Nach dieser neuen Melodie will man tanzen, um den Wechselwähler zu beeindrucken: „Weniger als 25 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler sagen heute, für sie käme nur eine einzige Partei in Frage. Es wird daher mehr denn je entscheidend darauf ankommen, die eigenen Stammwähler zu binden und neue Wähler hinzu zu gewinnen. Wahlen werden in der Mitte gewonnen.“
In der Mitte also muss der Wechselwähler sitzen. Dort sitzt er und freut sich ganz ungemein, dass die CDU nun Ja sagt zu „allen Schichten und Gruppen“ und also auch zu ihm. Er lauscht der „Berliner Erklärung“ und freut sich noch mehr, dass die CDU alle „bisherige Wählerinnen und Wähler der SPD“ gewinnen will, „die vom Linksruck dieser Partei enttäuscht sind“ und auch die „Zuwandererfamilien“, dass ferner der CDU „die Bewahrung der Schöpfung ein besonderes Anliegen ist“, ebenso „eine internationale Finanztransaktionssteuer“.
Der Wechselwähler ist demnach ein zoon politikon mit schlechten Manieren. Er nascht von jedem Tisch, auf dem ihm gerade aufgetragen wird. Es macht ihm nichts aus, sich mit „allen Schichten und Gruppen“ an derselben Tafel wiederzufinden. Er ist gerne wie jeder – solange ihm der Eindruck vermittelt wird, er sei etwas ganz Besonderes. Er mag, genäschig, wie er ist, mal dieses, mal jenes, und wenn alles serviert wird, findet er gewiss das Richtige für sich. Die Köchin lässt ihn nicht darben, stets dampfen die Kessel, an alle ist gedacht und also auch an ihn.
So stellt der Wechselwähler aus parteistrategischer Sicht sich dar. Kein einnehmendes Wesen hat er. Bedient will er werden, und die Politik bedient gerne, gibt den Mundschenk der Masse. Noch jemand ohne? Nichts ist aus, alles ist da, kein Problem, komme gleich, komme gern!
Es ist der traurige Unernst, ist das Misstrauen gegen sich selbst, das die „Berliner Erklärung“ zu einem so miserablen Stück Papier macht. Hier ruft eine Partei, die an sich selber zu verzweifeln droht, ganz pathetisch und mit viel Tremolo in der Stimme: Habt uns lieb! Wählt uns! Von uns bekommt ihr alles!
Das mag den einen oder anderen aufhorchen lassen. Schnell aber wird der Wechselwähler aufstehen, zu schwer sein für jeden Gedanken und den Schlaf des Vergessens schlafen. Wenn er aufwacht, wird er von nur einem Vorsatz getrieben sein: Nie wieder ein solches Gelage. Diese Köchin merk’ ich mir. Und dann beginn schönere, ernstere und viel vernünftigere Tage.