Das Unwort des Jahres
Das Jahr ist noch jung, viel Raum also für Idiotien jedweder Art. Bekanntlich sind auf diesem Gebiet keinem Politiker, keinem Helden der Öffentlichkeit und auch keinem Schreibenden Grenzen gezogen. Ich schreibe es nieder, fasse mir an die eigene Brust und muss doch fortfahren: Für mich steht das Unwort des Jahres schon fest. Ganz sicher bin ich mir, seit ich vor wenigen Tagen ein Wort kennenlernte, dessen Existenz mir bisher komplett verborgen geblieben ist. Es handelt sich um die Sprengelpflicht.
Für wenige Augenblicke schaffte das kuriose Wörtlein es auf die vorderen Plätze der Radionachrichten. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte nämlich für Recht erkannt: Die kleine Isabell muss weiterhin die Grundschule in Bach an der Donau bei Regensburg besuchen. Die Pforten der Ganztagsgrundschule im Nachbarort Tegernheim bleiben ihr verschlossen. Der Wunsch der Eltern ist nicht von Belang, die Sprengelpflicht steht höher.
Ich lernte: Neben dem Schulzwang gibt es in weiten Teilen Deutschlands die Sprengelpflicht. Die sogenannten Pflichtschulen, also Grund- und Hauptschule, sollen gleichmäßig befüllt werden. Deshalb haben die Kinder die ihrem Lebensmittelpunkt nächstgelegene Schule zu besuchen. Eine Ausnahme ist nur bei „zwingenden persönlichen Gründen“ möglich.
Ein solcher, entschied nun das Gericht, ist weder der Wunsch der Mutter, ins Berufsleben zurückzukehren, noch die Auffassung der Eltern, das pädagogische Konzept der weiter entfernt liegenden Schule sei für ihr Kind besser geeignet. Bereits im August 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Sprengelpflicht für verfassungskonform erklärt.
Deftig ist die im bayerischen Urteil überlieferte Begründung. Der Elternwunsch, lese ich, laufe der staatlichen Schulorganisation zuwider. Und dann folgt der beeindruckend klare Satz: „Ein zwingender persönlicher Grund, der gewichtiger als das Staatsinteresse sei, liegt nicht vor.“ Der Staat hat also, einem Lebewesen gleich, Interessen. Diese können mit anderen Interessen und Wünschen kollidieren, die dann in der Regel zurückzutreten haben.
Schließlich, heißt das wohl, ist der Staat Interessengeber und interessierter Akteur gleichermaßen, er hat Interessen und er teilt sie zu, er wacht über das Interesse, das andere ihm gegenüber anmelden und schneidet es sich zurecht. Freiheit sind dann die Schnipsel, die am Boden liegen bleiben, nachdem der Staat seinen Schnitt gemacht hat.
Der Sprengel war ursprünglich jener Bereich, den der Bischof mit Weihwasser besprenkelte. Er markierte den Einflussbereich einer bestimmten geistlichen, später auch weltlichen Macht, ist also eine Erscheinung aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Heute noch aber fährt der Staat segnend und teilend durch die Lande, sammelt die Kinderlein ein und liefert sie ab, wie und wo es ihm gefällt. Er kommt nicht zu Pferde, ein papierner Pegasus namens Erziehungs- und Unterrichtsgesetz genügt ihm.
Des Preisens muss kein Ende sein. Wie wäre es mit der Volksbank- und Raiffeisenpflicht? Denn wo der Staat den Untertan wohnen lässt, da soll er auch sein Geld lassen. Der teure Ankauf ausländischer Daten-CDs entfiele dann ganz. Oder mit der Urlaubs- und Freizeitpflicht, die Fernreisen nur bei „zwingenden persönlichen Gründen“ zulässt, dem heimatlichen Sprengel zuliebe? Sollte nicht auch Schluss sein mit der Ausbildungs- und Berufswahl? Angeboten wird nur noch, was die heimische Hochschule hergibt, das örtliche Handwerk braucht, dem regionalen Markt ermangelt.
Bleibe im Lande und nähre dich redlich: Vieles ließe sich da noch bessern, von Sprengel zu Sprengel, Scholle zu Scholle. Die Zukunft wird, wie alles einmal war, sie bringt Lohn gegen Fron, Leben für den Leviathan und Gehorsam für mich, Schutz und Schild im Wechsel. Narrhallamarsch!