Auf Augenhöhe
Gab es ein Deutsch, bevor wir alle miteinander „auf Augenhöhe“ zu reden lernten? Gab es überhaupt Streit, Diskussion, Verständigung in jenen trüben Tagen, da ein Gespräch noch gar kein Gespräch war, weil die Sprechenden nicht wussten, dass sie erst einmal „auf Augenhöhe“ hinauf klettern oder hinunter rutschen mussten? Fanden Politik, Fußball, Gesellschaft denn statt, damals, als unsere allerliebste Hirnverkleisterungsmaschine, die bundesdeutsche Floskelgroßproduktion, diesen umlautreichen, hoch kontagiösen Fünfsilbler noch nicht ausgestoßen hatte: „auf Augenhöhe“?
Allein in den ersten Apriltagen anno 2011 musste ich hören: Schleswig-Holstein plane eine „Diskussion auf Augenhöhe“, um die Planungen für die Fehmarnbelt-Querung voranzutreiben. Der Lotto- und Totoblock wolle den privaten Glücksspielkonzernen künftig „auf Augenhöhe gegenübertreten“. BMW und Peugeot kooperierten „auf Augenhöhe“. Eine „Regierung auf Augenhöhe“ versprach Wahlverlierer Nils Schmid von der baden-württembergischen SPD.
Der neue FDP-Bundesvorsitzende müsse „auf Augenhöhe mit der Kanzlerin agieren“. Bayern München und Borussia Mönchengladbach begegneten sich heute „nicht mehr auf Augenhöhe“. Eine Münchner Vorortgemeinde wollte Stadt werden, um „mit den Nachbarn auf Augenhöhe zu bleiben“. Und ein scheidender Landesbischof pries den „Dialog zwischen den Religionen, der wirklich auf Augenhöhe passiert“, und seine eigene Position „als Landesbischof auf Augenhöhe mit der katholischen Seite“, ja einen „Umgang auf Augenhöhe“ selbst mit dem Papst.
Der Wahn, mit allem und jedem „auf Augenhöhe“ verkehren zu können, speist sich wie jeder Wahn aus der Angst – hier aus der Angst, zu kurz zu kommen, nicht hinreichend gewürdigt, nicht ausdauernd genug gebauchpinselt, also in all seiner Kleinheit enttarnt zu werden. Die 5-Prozent-Partei will mit der 35-Prozent-Partei von gleich zu gleich verhandeln: welch Hybris, welch Pfeifen im Walde. Die eine Kleingemeinde will sich von der anderen Kleingemeinde nicht nachsagen lassen, sie sei ja „nur“ Gemeinde, nicht Stadt: welch Kleinmut, welch Minderbewusstsein. Der Staat will den Wähler einlullen mit dem Trugbild, über jeden Nagel und jede Begrünungsmaßnahme werden nun „ergebnisoffen“ und ohne Zeitdruck mit allen debattiert: welch billiges Manöver.
Der Siegeszug der neuen Schwindelfloskel soll im Reich der Rhetorik jene Gewissheit herstellen, die in der wirklichen Welt fast nirgends zu haben ist: dass wir alle gleich seien, keiner herausrage, keiner zurückbleibe, dass alle Argumente von jeder Seite gleich gewichtet werden. Ach, wie schön, wenn das so wäre.
Weil es aber nicht so ist und weil es letztlich so gar nicht werden soll nach dem Willen derer, die das süße Gift der Augenhöhe lähmend allüberall verspritzen, ist dieses neue Dummdeutsch abermals ein Pflaster, das schmerzt, eine Brille, die blind macht: Im Handbuch des Herrenmenschen wäre es die Schwindelrede von der „Augenhöhe“, die alle Ungleichheit und Abhängigkeit festzurrt auf ewig. Denn die, die so furchtbar klein von sich selbst denken, führen sie freiwillig im Munde.