Gedränge gab’s um den Altar, die Reihen waren schütter besetzt. Wo war ich nur hinein geraten? Graubärte taten ihren Dienst am steinernen Tisch. Bebrillt waren sie fast alle. Nur einer nicht, rechts außen. Er blickte ohne Glasgestell grimmig auf den Tisch zur Mitte. Bunt schimmerten ihre Kleider, grau auch waren die Haare und ungebändigt. Düster ging den Männern der Sinn. Woran sie wohl dachten bei ihrem offenkundig eingeübten Tun?

 

Ich sah’s ihnen an an der düster umwölkten Stirn, ich hörte es heraus aus ihrem brummenden Gemurmel: Die Freude wohnte hier nicht. Die Männer taten, was sie tun mussten, ihre Pflicht. Dem Volk in den Bänken missfiel es nicht. Sie schienen’s allesamt gewohnt. Und also hub an der in der Mitte, intonierte in gleichförmiger Melodie, was jeder erwartet haben musste, sagte knarzend und wie vom Grame zerfurcht: „Wir leiden…“. Und sofort wiederholte die wackere Schar, „wir leiden.“ Und der Mittlere fiel ihnen fast ins Wort, und die Brüder wiederholten erneut, „…an der Kirche.“ – „…an der Kirche.“

 

Aus dem Credo war hier ein neues Bekenntnis geworden, eine Lamentatio. Ihr kam nun zu, wozu die alte Formel offenbar nicht mehr taugte, Gemeinschaft zu stiften, Trost zu spenden, Zeiten und Räume zu überwinden. Das Leiden, nicht das Glauben hielt die Männer im Talar zusammen.

 

Sie hatten sich darin eingerichtet, durchwanderten die Räume des Missvergnügens gerade so vertraut wie die Altvorderen die Weiten ihrer Zuversicht. Sie litten so weltumspannend, wie sie einst geglaubt hatten. „Wir leiden“, erscholl erneut der psalmodische Sang, „an dem Papst“, bildete ein Echo aus, „…an dem Papst“, und pflanzte sich fort: „…und an den Dogmen und an dem Zentralismus und an der römischen Unbarmherzigkeit.“

 

Fast peinlich berührte es mich, Zeuge sein zu dürfen bei so intimem Werk. Sie wollte nicht gestört, nicht beobachtet werden, die graue Bruderschaft, kein fremder Atem sollte die Andacht unterbrechen. Es war ja ein frommes Tun, das so schnell nicht endete: „…und an aller Hierarchie, an allem, was die Menschenrechte hemmt, die Demokratie relativiert, die Gleichberechtigung erschwert. Wir leiden auch“ – hier holten alle fast im selben Zuge Atem – „an den Bischöfen, die nicht hören wollen auf das Volk, an dem Volk, das nicht hören will auf den Nazarener, und an jeder Struktur, die die Schwachen schwächt und die Starken ermächtigt. Wir leiden ferner…“ – fast sprachen sie nun mit der einen grabestiefen Stimme, der Vorbeter reihte sich ein – „…leiden ferner an einer Sexualmoral, die das Geschenk des Leibes verdunkelt statt es zu feiern, an einer Pastoralmoral, die die Dörfer entvölkert statt soziale Nahräume zu schaffen, an einem Klerikalismus, der das geschwisterliche Miteinander aller Menschen und Menschinnen verhindert, und an einer Drohbotschaft, die die Kirche unbewohnbar gemacht hat und die zu überwinden uns aufgegeben ist mit aller Wut und aller Zärtlichkeit. Wir leiden, wir leiden, wir leiden…“

 

So mag die große Lamentatio noch viele Strophen sich ergossen haben in das nahezu leere Kirchenrund, ich weiß es nicht. Ich erwachte bald. Es war ein Traum, was sonst. Ich hatte die Zukunft gesehen.