Joseph Roth gelesen, die Gegenwart begriffen. Bemerkenswert, was Literatur vermag. Wer einmal litt an seiner Gegenwart, wird zum Propheten der Zukunft, ob er will oder nicht. Es ist die Vernarrtheit ins Jetzt, die blind macht fürs Morgen. So lautet die Nutzanwendung aus der Lektüre der journalistischen Arbeiten Roths von 1929 und 1930. Joseph Roth, sehnsuchtsvoller Habsburger nach dem Untergang des Habsburgerreiches, war davon überzeugt und durchdrungen, „dass die künftigen Geschlechter noch törichter, noch gedanken- und phantasieärmer, noch verworrener dahinleben werden als die heutigen.“

Deshalb habe ihn sein „ganzes Leben hindurch das Bedauern begleitet, nicht fünfzig oder hundert Jahre früher geschrieben zu haben“ – also um 1880 oder um 1830. Am Ende der Goethezeit oder nach der kleindeutschen Reichsgründung, heißt das, in keiner Demokratie. Demokratische Zeiten müssen wir uns durch die Brille des Schriftstellers Roth als unliterarische vorstellen. „Von heute in zehn Jahren“, schrieb er im Juli 1930, werde „die deutsche Literatur aufgehört haben zu leben, werden die meisten jungen Schriftsteller ihre einzig wahre Begabung, nämlich die zur Aviatik und Ozeanüberquerung, entdeckt haben“. An der Technik und dem Mitteilungsdrang, am Leben und am Fortschritt müsse die deutsche Literatur zerschellen, denn „keine einzige europäische Nation hat so wenig Sinn für sprachliche Tradition wie die deutsche.“

Zehn Jahre später war Joseph Roth tot, tobte der Weltkrieg, herrschten nationalsozialistische Barbaren. Insofern war die deutsche Literatur tatsächlich abgetan und begraben. Roth hatte ihr Verdämmern vorausgesehen, weil sein Blick dem Material galt, nicht den Stoffen; der Sprache, nicht dem Leben, gegen dessen billige Seligsprechung er aufbegehrte. Die „barbarische Belletristik“, die schlechten Stil für einen Ausweis von Authentizität hielt, ging der barbarischen Politik voraus.

Und heute? Sind wir nicht alle Zeitgenossen Roths geworden, weil wie damals Nervenkitzel vor Poesie geht und weil wie damals das Private in eine Öffentlichkeit gezerrt wird, die sich so laut Roth als „depraviert“ erweist, als Öffentlichkeit, die „vielleicht, ja wahrscheinlich gar nicht mehr vorhanden ist“? Man mag da gerne an die Netz-Öffentlichkeit unserer Tage denken, aber auch an die Dauerpolitisierung privater Lebensvollzüge, privater Kaufentscheidungen, privater Vorlieben, privater Anschauungen, die nicht mehr privat sein dürfen. Roth wusste, dass eine funktionierende Öffentlichkeit das Tabu des Privaten akzeptieren muss.

Immer wieder traf er in Deutschland Menschen, die ihm sagten, „dass es so nicht weitergehe.“ Menschen, die „von öffentlichen Dingen sprechen und nicht von privaten“, nachdem beide identisch geworden waren. „Die Sorgen der Welt sind eingedrungen in die Häuser, in die Hirne, in die Herzen der einzelnen. Und weil die gewählten und beamteten Verwalter des Landes und der öffentlichen Angelegenheit versagen, verlässt man sich nicht auf sie, und jeder kleine Mann im Lande ist winzig und hilflos preisgegeben den Stürmen der Welt. (…) Er hat kein privates Leben mehr, die einzige Form des Lebens überhaupt.“ Auf welche neuen Barbarismen bewegen wir uns zu in einer antiprivaten Gegenwart?

Joseph Roth gelesen, die Gegenwart begriffen. Das gilt erst recht für seine Beobachtung der inneren Verwandtschaft von Moderne und Mode. Er wundert sich über katholische Kirchen, in denen das Ewige Licht „nicht angezündet, sondern angeknipst“ wird; „wenn ich derlei Manifestationen der Moderne begegne, vermisse ich unter den Heiligenbildern den Mister Edison mit dem Glorienschein.“ Er tadelt jenen adretten Berliner Kaplan namens Fahsel, der sich für eine Illustrierte als Boxer ablichten ließ. Solche Zurschaustellung angeblicher Niedrigschwelligkeit, vermeintlicher Unkonventionalität sei schlicht würdelos. „Es scheint“, folgert Roth, „dass auch die berufenen oder wenigstens traditionellen Kämpfer gegen die flüchtigen Schlagworte der Gegenwart selbst den Schlagworten zu verfallen beginnen und dass also das Wort von der Götterdämmerung wahr werden soll. Jeder Untergang einer Macht beginnt mit der Bereitschaft, das Symbol einer Mode auszuliefern.“

Ist die heutige Kirchenkrise nicht das punktgenau verdiente Resultat einer Auslieferung der Glaubenssymbole an die Mode? Eines Übermaßes an subjektiver Leutseligkeit und eine Mangels an objektiver Überzeugung? So wie die Krise der Politik sich ergibt aus der Implosion ihrer Symbole? Ein Staat, dessen Oberhaupt sich als Betreuer der Braven versteht, kann kaum auf die Loyalität aller hoffen. Parteien, die auf Ausgrenzung setzen, können kaum die Spaltung besiegen und die Gesellschaft einen. Und eine Kunst, die der gespürten Realität den Vorrang vor aller Form einräumt, wird nie das Herz begeistern.

Roth gelesen, die Gegenwart begriffen, die Zukunft geschaut. Retten wir das Private. Retten wir uns.