In jener Woche, da Deutschland in einem internationalen Wettbewerbsfähigkeitsranking auf den 17. Rang durchgereicht wurde und in einer Liste der attraktivsten Standorte für zuwandernde Fachkräfte nur noch Rang 12 belegte; in jenem Monat, da das polizeiliche Lagebild zur ausufernden Clan-Kriminalität in Nordrhein-Westfalen vorgestellt wurde; in jenem Jahr, da bekannt wurde, dass deutlich mehr Deutsche Opfer werden von Gewalttaten durch Migranten als umgekehrt – Ende Mai 2019 also machte sich die studierte Physikerin und derzeitige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, auf über den Großen Teich, um an der Harvard-Universität eine ihrer besseren Reden zu halten. Die Rede mündete in ein weitreichendes Bekenntnis: „Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden“.

Zugegeben: Die Hinführung zu diesem Zitat im obigen Absatz war ein klassisches Framing – noch dazu kein Framing, das der Kanzlerin gefallen kann, die ihre „Commencement Speech“ an die diesjährigen Absolventen als transatlantischen Freiheitsgruß begriffen sehen möchte. Alles war in Cambridge auf herzinnige Übereinstimmung geeicht zwischen der linksliberalen akademischen Elite der amerikanischen Ostküste – ja, und wem eigentlich? Bürgerin Merkel sprach von Leitprinzipien ihres Regierungshandelns, als sei damit das Tor zu ihrem Inneren geöffnet. Sie gab als Inneres aus, was sie als objektive Prinzipien darstellte. Sie behauptete die Einheit von Person und Tat, von Politik und Biografie. Ein kühner Ansatz. Der Effekt, der sich einstellen sollte, lautete: Ich bin aus einem Guss. Mein Leben taugt zum Exempel, lernt daraus. Es war eine protestantische Predigt.

Darum gab es ein verhältnismäßig reiches Bouquet von Merksätzen, Sinnformeln, Erbauungsclustern. Beginnend mit Hermann Hesses „Zauber“, der „jedem Anfang“ innewohne, kam die Rednerin über „Jede Veränderung fängt im Kopf an“ und „Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir sie gemeinsam angehen“ hin zu „Überraschen wir uns damit, was möglich ist,“ und schließlich zu „Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden, um den Zauber des Anfangens zu spüren und Chancen wirklich zu nutzen.“ Auf dem Weg dorthin machte Merkel sich die pathetische „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen zu Eigen, als sie in deren Sinn behauptete, „wir können die Erderwärmung stoppen. Wir können den Hunger besiegen. Wir können Krankheiten ausrotten.“ Können wir wirklich? Vielleicht. Werden wir je? Gewiss nicht. Die „Agenda 2030“ zeigt, dass im Wolkenkuckucksheim viele Wohnungen sind, auch eine für die Kanzlerin.

Der Bürgerin Merkel, die in der DDR es sich einzurichten verstand, mögen Selbst- und Systemlob anstehen. Bei der Kanzlerin hat es ein G‘schmäckle. Wenn eine Regierungschefin „Mut“ und „Wahrhaftigkeit“ als leitende politische Prinzipien präsentiert, stellt sie damit ihrer eigenen Politik nicht nur einen Blankoscheck aus. Sie präsentiert ihr 14-jähriges Wirken an der Spitze der gesamtdeutschen Exekutive als idealtypisch gelungen. „Schaut auf diese Frau, betrachtet mich“ war der Subtext der Harvard-Rede: „Ich habe gelernt, dass auch für schwierige Fragen Antworten gefunden werden können, wenn wir die Welt immer auch mit den Augen des anderen sehen. (…) Und wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen. Freilich, dafür braucht es durchaus Mut. Vor allem braucht es Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und – vielleicht am wichtigsten – gegenüber uns selbst. (…) Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen. Es gehört dazu, dass wir Missstände nicht als unsere Normalität akzeptieren.“

Wer fern der Heimat Mut und Wahrhaftigkeit für seinen Lebensgang in Anspruch nimmt, der muss sich fragen lassen: Wäre Wahrhaftigkeit nicht das sicherste Mittel, um bei einer Wahl zu verlieren? Wurden die Kosten der in Harvard bejubelten Merkelschen Flüchtlingspolitik schon wahrhaftig präsentiert? Wo lag die Wahrhaftigkeit verborgen zwischen der Merkelschen Aussage, es werde keine Pkw-Maut geben, und der Ankündigung einer Pkw-Maut unter Merkel? Blieb die Wahrhaftigkeit erhalten zwischen einer marktfreundlichen CDU von 2003 und der staatsfreundlichen CDU von heute? Und, schwieriger noch: Kann eine Regierungs- und Parteichefin wirklich Mut für diese oder jene Entscheidung beanspruchen, breit abgesichert durch Kohorten der Zustimmung in Partei, Parlament, Medien? Generell sollte sich ein Satz des Sinnes „Ich bin mutig, ich bin wahrhaftig“ unter vernünftigen Erwachsenen verbieten.

Am Ende öffnet sich ein Abgrund. Merkel fräst das Loch, in dem ihre Politik versinkt. „Ich glaube, dass wir immer wieder bereit sein müssen, Dinge zu beenden“. Als Nutzanwendung aus Hermann Hesses Gedicht stimmt der Satz. Als Lebensregel darf er diskutiert werden. Als Motto für Merkels Lebensabschnitt „nach dem Leben als Politikerin“ bleibt er denkbar. Als Überschrift für das Politikverständnis der Angela Merkel ist er fatal. Die Kanzlerin gibt als ihre „Erfahrung (…) in der Politik“ eine Absage an das Politische aus. In einer Demokratie beenden nicht Politiker, sondern Wähler die jeweiligen Dinge. Dezisionismus passt nicht zur liberalen Republik. Hat Merkel das „Ding“ namens Kanzlerschaft beendet – oder haben nicht eher erodierende Wahlergebnisse und die Abnutzung der langen Dauer den Schritt erzwungen? Hat am Ende sie, die sich gerne und auch in Harvard als Zuhörende, Abwägende, Moderierende versteht, doch mehr aktivistisch beendet denn im Sachzwang nachvollzogen? An den Atomausstieg, die Abkehr von der Wehrpflicht und das Ende des nationalstaatlichen Deutschlands im Medium der Migrationspolitik lässt sich da denken.

So war es in Harvard ein Augenblick unverschuldeter Selbsterkenntnis: Hier stand eine, die immer anders hätte können, sich aber nie scheute, dem Abgelebten einen Tritt zu geben. Souverän ist, wer über den Endzustand bestimmt. Wer hätte gedacht, dass die Protestantin Merkel uns je einen solchen Carl-Schmitt-Moment bescheren würde.