Ob erlaubt sei, was gefällt, oder was sich ziemt – darüber lässt sich trefflich streiten. In Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ taten es stellvertretend der dichtende Held und die Prinzessin Leonore von Este. Tasso zeigte sich als heißblütiger Poet, dem die Freiheit des Dichtens und die Gunst des Publikums über alles gehen. Die adlige Freundin beharrte auf den Grenzen der Schicklichkeit. Dass diese Grenzen schwierig zu ziehen sind, wusste Goethe selbst am besten. Er war 30 Jahre jung, als er mit der Niederschrift begann und so seinen eigenen inneren Zwiespalt am Weimarer Fürstenhof transparent machte.

Foto: H. P. Rabit

Heute ist in der Öffentlichkeit das Meiste erlaubt, weil sich immer jemand findet, dem es gefällt. Einem Applaus, einem Einverständnis widersprechen, hat schnell den Ruch des Intoleranten. Und stößt sich hart mit dem weit verbreiteten Missverständnis, in jedem Nein verberge sich eine Diskriminierung. „Lass sie doch!“, bekommt die Spaßbremse zu hören, die auf dem Unterschied beharrt zwischen privatem und öffentlichem Verhalten oder zwischen Toleranz und Desinteresse.

ARD und ZDF sind öffentlich-rechtliche Anstalten. Sie wirken in der Öffentlichkeit aufgrund sehr stabiler rechtlicher Grundlage. Staatsverträge und Verfassungen schützen ihr Wirken. Öffentlich-rechtliche Anstalten sind ARD und ZDF jedoch auch deshalb, weil sie sich an das Recht halten müssen und weil sie Öffentlichkeit mitgestalten. Die Öffentlichkeit ist nicht nur das Medium, in dem sie agieren und das dem Hinterzimmer und der Privatbühne maximal entgegen gesetzt ist; Öffentlichkeit ist das Objekt, das sie verändern, indem sie daran teilhaben. ARD und ZDF bestimmen über unser Bild von Öffentlichkeit mit. Sie formen Öffentlichkeit.

Darum ist die Aufregung um das „Umweltsau“-Lied des WDR-Kinderchores gerechtfertigt, ja notwendig. Wer an diesem Lied keinen Anstoß nimmt, nimmt die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem Selbstverständnis und ihrem Auftrag nicht ernst. Wer mit einem Achselzucken über solche Entgleisungen hinweg geht, sieht in ARD und ZDF, was sie gerade nicht sind: freie Verbreiter privater Ansichten.

Wer von der Allgemeinheit bezahlt wird, um Öffentlichkeit mitzugestalten, muss sich an die Grenzen der Schicklichkeit halten. ARD und ZDF sind keine Künstler im Dienste eines Mäzens, die heute dieser und morgen jener Laune frönen, solange es dem Fürsten gefällt. Der Souverän von ARD und ZDF sind die Bürger, die ihren Beitrag entrichten, sind wir alle. ARD und ZDF haben Teil an unserer gemeinsamen Öffentlichkeit, weil die Allgemeinheit ihr dieses Mandat erteilt hat. ARD und ZDF übersetzen gewissermaßen die Volonté général in ein plurales Medienangebot. Zumindest der Theorie nach.

Mit dieser Theorie unvereinbar ist es, minderjährige Mädchen ordinäre Texte singen zu lassen und das filmische Dokument dieser Instrumentalisierung weiterzuverbreiten. Welchen kommunikativen Status man auch immer der Liedzeile des WDR-Kinderchores „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“ zusprechen möchte – es ist ein ordinärer Satz. ARD und ZDF verstoßen gegen ihre Geschäftsgrundlage, wenn sie Mädchen zwischen neun und 13 Jahren zu öffentlicher Vulgarität anstiften. Hinzu kommt: Der Auftrag, den die Allgemeinheit ARD und ZDF erteilt hat, fällt in dem Augenblick in sich zusammen, da ARD und ZDF die Allgemeinheit oder wesentliche Teile beschimpfen. ARD und ZDF verlieren das Recht auf Finanzierung durch die Allgemeinheit, wenn sie diese verhöhnen.

ARD und ZDF wird es aufgrund stabiler Verträge vermutlich noch sehr lange geben. Und vielleicht fügt sich manches wieder zum Guten. Es wäre uns allen zu wünschen. Zu wichtig sind unabhängige, kompetente Medien für eine liberale Republik. Vielleicht aber auch war die „Umweltsau“-Affäre rückblickend der Kipppunkt, an dem ARD und ZDF erst ihre Öffentlichkeit und dann ihr Recht auf diese abhanden kam. Allen hier ein gutes Jahr 2020.