Freising ist ein schöner Ort. In dem oberbayrischen Städtchen wirkte der große Bischof, Zisterziensermönch und Historiker Otto – Otto von Freising. Unweit des Domes steht ein Denkmal, das an Otto erinnert. Dessen Hauptwerk heißt „Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten“. Nach einem Denkmal des jetzigen Freisinger Erzbischofs wird man dereinst vergeblich suchen. Dabei hat auch Reinhard Marx Bücher geschrieben. Seine Dissertation von 1989 heißt „Ist Kirche anders? Möglichkeiten und Grenzen einer soziologischen Betrachtungsweise“, sein populäres Sachbuch von 2008 „Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen“. Einerseits: Ha, ha. Marx und der Kapitalismus. Ha, ha. Andererseits: Es ist zum Traurigwerden, Verrücktwerden, Fremdschämen.

Die Türme der Münchner Frauenkirche (hinten). Foto: H. P. Rabit

Der Freisinger Bischof der Jahre 1138 bis 1158 stellte in seiner „Chronik“ Weltgeschichte als Heilsgeschichte dar, als Kampf zwischen der civitas Dei und der civitas terrena, himmlischem und weltlichem Staat. Die Kategorien sind erkennbar von Augustinus inspiriert. Reinhard Marxens Doktorarbeit ist unlesbar. Um gerecht zu sein: Lesen kann man sie schon, aber es ist eines jener Bücher, aus denen man dümmer heraus- als hineinschaut. Was man gar nicht allein dem jetzigen Freisinger Erzbischof anlasten kann. Es ist eine soziologische Arbeit. Ihrem Genre hält sie durch angeschlaumeierte Verquastheit die Treue. Weder Theologie noch Geschichte sind die Interessensfelder des Reinhard Marx.

An all das und auch an meine erste historische Proseminar-Arbeit über Otto von Freising und den „Zerfall der Welt“ musste ich denken, als mir ein Satz unterkam, den ich leider nicht vergessen kann. Es sei also gewarnt. Der Satz lautet: „Ich weiß, wie groß die Probleme des vergangenen Jahrzehnts waren, und sie werden künftig nicht kleiner werden.“ Natürlich ist das ein harmloser Satz, ein kleiner Satz, ein Nebensatz. Doch er führt hinein in die Selbst- und Weltwahrnehmung des Erzbischofs, für die mir kein besseres Wort einfällt als ambitiös. Reinhard Marx hat ein ambitiöses Verhältnis zur Wirklichkeit.

Der Satz fiel in der Silvesterpredigt. Da stand also ein augenscheinlich pumperlgsunder, gut genährter Berufsprediger der Besoldungsklasse B10 – immerhin 13231 Euro brutto im Monat, überwiesen vom bayrischen Staat – und teilte seinen Schäfchen mit, dass er erstens in die Zukunft zu schauen vermöge und dass er zweitens da nichts Gutes erblicke. Die Gegenwart – die Gegenwart des Publikums – sei schon in den vergangenen zehn Jahren durch „Probleme“ gekennzeichnet gewesen, und daran werde sich nichts ändern. Bestenfalls. Vielleicht werde es sogar schlimmer. „Nicht kleiner“ würden die Probleme. Liebe Gemeinde, gewöhnt euch dran. So ist es halt.

Luther wusste die Welt voller Teufel, Marx sieht sie voller Probleme. Ein Problem ist ein Sinnhindernis, das im Weg steht. Es verknotet verschiedene Aussagen oder Ansprüche, mindestens deren zwei. Was sollen die Katholiken tun, um es aus dem Weg zu räumen? Reinhard Marx empfahl in seiner Silvesterpredigt: Habt mehr Phantasie! Habt „große Lust, Neues zu denken“. Das kann man zynisch nennen – denn was immer man mit kirchlich verordneter Phantasie auch anstellen mag, die Probleme bleiben ja. Marx hat ihnen gerade eine Bestandsgarantie gegeben. Andererseits ist es ein riskanter Rat, den der Prediger in persona falsifiziert. War vom jetzigen Freisinger Erzbischof je Neues zu hören, das sich einem Denkprozess verdankte, vielleicht gar einem theologischen? Soweit ich sehe: Nein. Wo Marx redet, da redet die Gesellschaft wie die Gesellschaft zur Gesellschaft. Da werden moralische In-sich-Geschäfte abgeschlossen zum höheren Ruhme des handelnden Akteurs. Da kommt die Welt in ihr loderndes Einverständnis.

Zum Beispiel hat Reinhard Marx gerade zum dritten Mal 50000 Euro „gespendet“ für die „Seenotrettung“ im Mittelmeer. Es waren 50000 Euro im Oktober 2018 für „Lifeline“ – jenen Verein, der gerade bei Twitter den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz als „Baby-Hitler“ verunglimpfte. Es waren 50000 Euro Anfang 2019 für „Sea-Eye“, und es sind nun 50000 Euro für das Bündnis „United 4 Rescue“, das der Organisation „Sea-Watch“ ein Schiff schenken will. Freilich: Marx hat nicht gespendet. Er hat Gelder, die seinem Bistum zuflossen, umgewidmet. Er hat die Mittel anderer Leute, der Kirchensteuerzahler vor allem, verwendet, um auf der Drehbühne des täglichen Moraltheaters ins Schweinwerferlicht der guten Gesinnung zu rücken. Das ist nicht mutig, das ist wohlfeil. Das ist so phantasielos, dass es kracht. Kein Serienschauspieler, der etwas auf sich hält, kommt heute ohne öffentlich hinaus posaunte Spendentätigkeit aus. Mit dem Unterschied, dass Serienschauspieler das Geld, das sie weiterreichen, zuvor selbst verdienen müssen.

Wer Neues denken will, der müsste dem Besoldungskünstler von der Isar sagen: Probier’s mal ohne Kirchensteuer! Lass dich mal nicht vom Staat bezahlen! Red‘ mal nicht von dir oder der Gesellschaft! Fühl‘ dich mal nicht als Prophet der eigenen Denkungsart! Sei weniger selbstgewiss, weniger dreist, weniger ambitiös. Denn Ambitionen, steht zu befürchten, stecken hinter den Haupt- und Nebensätzen, den Neben- und Staatsaktionen einer finanziell verfetteten Kirche, für die ein Freisinger Bischof eben doch nur ein Symbol ist. Die Ambitionen lauten auf Sichtbarkeit, Applaus und Selbstergriffenheit. Auf Augenhöhe mit den Großen und Abspeisen der Kleinen: Wer Probleme hat, der wird sie auch behalten. Eure Phantasielosigkeit ist nicht mein Problem.

Otto von Freising gründete Klöster. Reinhard Marx gründet Arbeitskreise.