Das schöne Jahr 2020 geht in seinen zweiten Monat, und endlich ist sie wieder da: die Burka-Debatte! Ich habe, muss ich gestehen, in meinem Leben schon mehr Burka-Debatten gesehen als Burkas, beiden aber begegne ich mit Skepsis. Die eine, die leibhaftige Burka (oder war es ein Nikab?), sehe ich nicht gerne. Da krampft sich inwendig etwas zusammen, da fühle ich mich provoziert und herabgesetzt und missachtet, wenn der schwarze Sack mich anschaut, ohne dass ich zurückschauen kann in Augen. Die Weigerung, angeblickt werden zu können, ist der schlimmste Anblick. So geschah es im vergangenen Jahr an einem Samstag in einem Berliner Karstadt. Die andere, die Burka-Debatte, mag ich auch nicht. Die Burka-Debatte spült gar zu viele Selbstverständlichkeiten im Gestus des mutigen Bekenntnisses an die Gestade der Öffentlichkeit, als dass da noch Selbstverständlichkeiten wären. Die Burka-Debatte schabt an der Freiheit, indem sie diese einklagt. Herrschaftszeiten, ist es so schwer zu verstehen? Das Recht der Freiheit muss es sein, da zu sein. Wo sie begründet werden muss, ist sie schon fast weg, die Freiheit.

Foto: H. P. Rabit

Sei’s drum. Man muss die Früchte der Erkenntnisse sammeln, solange sie prangen. Insofern begrüße ich die erste Burka-Debatte des Jahres 2020 ausdrücklich. Komm herein, altes Haus, wie ist es dir ergangen? Bist gar nicht gealtert, Respekt. Und ein Dank an jene Hamburger Oberverwaltungsrichter, die erklärten, eine 16-jährige Schülerin dürfe vollverschleiert am Schulunterricht teilnehmen. Die „vorbehaltslos geschützte Glaubensfreiheit“ gelte auch in diesem Fall. O Freiheit, du Donnerwort, wie wirst du schräg gesungen. Besonderer Dank aber an den schleswig-holsteinischen Landesverband der Grünen. Dieser hat im heldinnenhaften Alleingang ein Verbot von Burka und Nikab an der Universität verhindert. Und warum wohl? Weil die Religionsfreiheit einen hohen Rang im Grundgesetz habe.

Doch zitieren wir Ann-Kathrin Tranziska korrekt. Frau Tranziska steht den schleswig-holsteinischen Grünen vor, und sie erhielt ihre fünf Minuten Fame, weil sie sagte: „Eine weltoffene und rechtsstaatliche Gesellschaft zeichnet aus, dass religiöse Symbole getragen oder auf sie verzichtet werden kann.“ Vielleicht ist es einer mündliche Rede geschuldet, vielleicht hat der berichtende Journalist geschlampt. Vielleicht aber korrespondieren hier staatspolitische und grammatikalische Unordnung in bezeichnender Weise – mein Verdacht ist das schon lang: dass mit der Ordnung im Satzbau die Ordnung im Denken stirbt und dass diese Unordnung sozialer Ordnungsflucht den Weg weist. Halten wir nüchtern fest: „Symbole“ sind Mehrzahl und verlangen ein Verb in der Mehrzahl. Wer sagt, „Symbole kann getragen werden“, der hat die symbolische Ordnung, auf die er sich beruft, bereits inwendig zerstört. Womit wir beim Thema wären, der Weltoffenheit.

Frau Tranziska von den schleswig-holsteinischen Grünen, die in Kiel mitregieren, sähe durch ein Burka-Verbot an Universitäten die Weltoffenheit gefährdet. Daraus folgt Verschiedenes: Weltoffenheit ist gut. Weltoffenheit muss sein. Weltoffenheit darf keine Verbote aussprechen. Weltoffenheit geht vor Rechtsstaatlichkeit. Hätte Frau Tranziska sonst diese Reihenfolge gewählt und sich auf die „weltoffene und rechtsstaatliche Gesellschaft“ als höchste Instanz berufen? Dummerweise ist Weltoffenheit der McGuffin unter den Begriffen. Immer dabei, nie definiert und am Ende leer. Auf Weltoffenheit beruft man sich, wenn man Scheu hat vor Festlegungen. Weltoffenheit ist das Lob, das man sich spendiert, wenn die Gründe schütter sind. Weltoffenheit ist die Schlafmaske der Vernunft, das Baldrian des Denkens. Wo Weltoffenheit gedeiht, wächst kein Argument mehr. Wollte jemand gegen Weltoffenheit sein? Pfui, ab in die Ecke.

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist. Sie hat keine Qualität und kennt keine Moral. Weltoffenheit meint zweierlei, und beides wird eingesetzt zu strategischen Zwecken. Weltoffenheit ist Offenheit für die Welt und ist die Offenheit der Welt. Für die Altvorderen: genitivus subiectivus und genitivus obiectivus. Offenheit für die Welt kann es, streng genommen, nicht geben. Wir alle sind Welt. Alles ist Welt. Sollen wir also offen sein für uns? Soll das Sein das Sein willkommen heißen? In diesem Sinn markiert Weltoffenheit den Nullpunkt des Denkens. Ist Bullshit für Akademiker.

Wie steht es mit der anderen Bedeutung, der Offenheit der Welt? Sinnvoll offen sein kann die Welt nur für das, was nicht Welt ist. Die Welt, in der wir leben, könnte offen sein für andere Welten, für Marsianer und Lunarier oder für das Übersinnliche. Auch das meinen die Apostelinnen der Weltoffenheit nicht. Sie reden von Weltoffenheit und meinen die Offenheit für Kulturen, Religionen, Bräuche von weither. Meinen also, dass jeder und jede an jedem Ort der Welt alles tun dürfe, unterschiedslos, qualitätslos. Das hat mit Weltoffenheit nichts und mit geistiger Selbstumzirkung alles zu tun. Man muss sich systematisch unter das einmal erreichte intellektuelle Niveau begeben, um die Weltanschauung, die Burka und Nikab hervorbringt, anspruchsberechtigt für Weltoffenheit zu halten. Härter formuliert: Eine Welt, die offen ist für die Unterdrückung der Frau, verdient keine Offenheit, sondern „zivilisierte Verachtung“ (Carlo Strenger sel. A.).

Burka-Debatte, altes Haus, du hast es wieder geschafft. Ich habe mich an dir beteiligt, obwohl ich es nicht wollte. Obwohl es der Freiheit nicht guttut, wenn Freiheit von der Selbstverständlichkeit zum begründungspflichtigen Einzelfall wird und wenn Religionsfreiheit missverstanden wird als Freiheit zur Unterjochung der Freiheit. Ich tröste mich damit, dass die Freiheit auch ungebetene Verteidiger wie mich erträgt. Und mit der Hoffnung, dass die schleswig-holsteinischen Grünen erkennen werden, dass Weltoffenheit nie und nicht und niemals eine Entschuldigung sein darf für Kulturen der Unfreiheit. Es gibt nur eine einzige Weltoffenheit, die immer gilt: die Offenheit des Geistes für die Welt und ihre Wirklichkeit. Davon hat sich verabschiedet, wer im Namen der Weltoffenheit die Welt der Freiheit verschließt.