Helmut Kohl, mein Vater und ich
Ich war ein Kind der CDU. Zunächst natürlich war ich das Kind meiner Eltern und ein Kind der Pfalz. Dort aber regierte, als ich aufwuchs, die CDU, und in Bonn und Berlin tat sie es auch, angeführt von einem Pfälzer. Helmut Kohl war sein Name, sein Pfälzer Statthalter hieß Bernhard Vogel, Georg Gölter war mein Kultusminister. Bernhard Vogel verlor Ende 1988 seinen Posten als Landesvorsitzender und Ministerpräsident, gescheitert an parteiinterner Kabale, vielleicht auch an sich. Seine Nachfolger hießen Hans-Otto Wilhelm und Carl-Ludwig Wagner. Ich sah sie einmal bei einer Veranstaltung in Bad Dürkheim, vor überschaubarem Publikum. Sie trugen den Dolch im Gewande. Helmut Kohl soll meinen Vater gekannt haben. Ich war ein Kind der CDU.
Nur deshalb erzähle ich davon, weil es die Helmut-Kohl-und-Bernhard-Vogel-CDU schon lange nicht mehr gibt. Bernhard Vogel, der Rheinland-Pfalz 1988 wie ein geprügelter Hund verlassen musste, wurde 1992 weithin respektierter Ministerpräsident in Thüringen. Bei der Landtagswahl 1999 bescherte er der thüringischen CDU mit 51 Prozent die absolute Mehrheit. Der Abschied der CDU von der Macht in Rheinland-Pfalz begann mit Bernhard Vogels Vertreibung und dauert an bis heute. Seit 1991 regiert in Mainz die SPD. Heute begann nun der Abschied der CDU von sich selbst – in Thüringen. Von der Partei, der sie war, hin zur Partei, die sich nicht kennt. Thüringen wurde abermals zur Wegscheide. Die Geschichte hat Humor, doch niemandem in der CDU ist zum Lachen zumute.
Mir auch nicht. Obwohl ich nie Mitglied der CDU (oder einer anderen Partei) war oder bin, und obwohl ich kein CDU-Stammwähler war oder bin. Doch die CDU prägte meine Heimat und mein Land, ohne dass man sich dafür schämen musste. Die CDU hat es, mit wechselndem Geschick und schwankendem Personal, verstanden, der Mitte ein Gesicht zu geben, das weder nach übermorgen schielte noch im Gestern gefangen blieb. Man sprach vom rheinischen Kapitalismus, von Westbindung, von Eigenverantwortung und Solidargemeinschaft. Die CDU konnte pragmatisch sein, ohne sich selbst zu verleugnen. Damit ist Schluss. Die Selbstverleugnung ist seit heute eingepreist ins Profil der CDU. Weshalb sie seit heute kein Profil mehr hat. Die CDU hat sich von der Dame ohne Unterleib zum Zombie ohne Text entwickelt.
Heute nämlich wurde bekannt, dass die thüringische CDU dem Kandidaten der Linkspartei ins Amt des Ministerpräsidenten verhelfen will. Die CDU Thüringens will beim nächsten Wahlgang im Erfurter Parlament alles Nötige tun, damit Bodo Ramelow weiterhin in jener Konstellation regieren kann, die bei der letzten Landtagswahl abgewählt worden ist, mit Linkspartei, SPD, Grünen. Die thüringische CDU wird durch Wahl oder Wahlenthaltung oder Wahlabwesenheit zum Königsmacher der Linkspartei. Zum Juniorpartner ohne Mitsprache. Die thüringische CDU liegt laut Umfragen bei 12 Prozent.
Das ist der Stand vor der Pro-Bodo-Volte. Schwer vorstellbar, dass eine Partei, die sich zum Funktionsfortsatz der sozialistischen Konkurrenz verzwergt, dauerhaft auf zweistellige Ergebnisse kommt. Mit ihrer Entscheidung hat die thüringische CDU faktisch den gesamten Osten für die CDU aufgegeben. Man wird nirgends mehr sagen können, mit der CDU gebe es im Osten eine bürgerlich-konservative Gestaltungskraft. Man könnte ab heute ehrlicherweise nur sagen, die CDU sorge dafür, dass auch die CDU ein Stückchen vom Kuchen der Macht abbekommt – und seien es die Brosamen, die der jeweils amtierende Ministerpräsident vom Tisch herab fallen lässt. Als CDU sagt man besser künftig gar nichts mehr. Auf Plakate müsste man sonst schreiben: „CDU. Wir sind auch noch da.“
Zur, wie man in Bayern sagt, Adabei-Partei hat sich die CDU entkernt. Sie gehört zur Politik dazu, ohne dass sie etwas Eigenes zur Politik beitragen wollte. Die CDU hat eine Tradition, die sie nicht begreifen will, eine Zukunft, die sie sich nicht ausmalen mag, und darum eine Gegenwart, die sie nicht gestalten kann. Sie hat sich aus dem Spiel genommen. Sie ließ alle Ansprüche fahren. Wer heute die Linkspartei toleriert und damit nobilitiert, der kann auch morgen noch die AfD verdammen und übermorgen trotzdem mit ihr koalieren. Der kann an Parteitagen donnernde Reden halten und zu programmatischen Beschlüssen gelangen, ohne programmfähig zu sein. Der ist mit allen anschlussfähig, weil er mit sich selbst abgeschlossen hat. Die CDU empfiehlt sich für diskrete politische Haustürgeschäfte. Sie war mal was.
Spät, aber desto brachialer holt die Postmoderne die CDU ein. Nur noch die CDU glaubt, Anything goes sei ein Ausweis von Zeitgenossenschaft. Sie sortiert sich bei den sonstigen Parteien ein, wo künftig derjenige nach ihr schauen wird, der ihrer gerade bedarf. Im Westen thront die CDU noch auf einem schmelzenden Sockel der Gewohnheit. Dieser wird verschwinden, denn nichts ist gewöhnlicher als Ehrgeiz ohne Gestaltungswille. Erst in Rheinland-Pfalz, nun in Thüringen, bald in der Bundespolitik schiebt sich die CDU in die Kulisse. Sie wird vom Charakterdarsteller zum Etappenhasen. Sie erscheint nur noch auf der Hauptbühne, wenn andere sie rufen. Die CDU lässt sich die Stichwörter reichen, weil sie keine eigenen Worte mehr hat. Sie schweigt, weil sie nichts von sich zu erzählen weiß.
Helmut Kohl, Hans-Otto Wilhelm, Carl-Ludwig Wagner und mein Vater sind nicht mehr unter uns. Die CDU gibt es noch.