Monthly Archives: Januar 2010

Mundschenk Merkel und die Wechselwähler

Im pfälzischen Neustadt hat man dem Elwedritsche ein Denkmal errichtet. Der Elwedritsche ist ein scheues Tier. Man hat ihn kaum je gesehen, obwohl Jahr um Jahr sich eine Jägersmeute auf den Weg macht. Sie zieht aus in die pfälzischen Wälder, will das Wesen im Unterholz aufspüren. Fliegen kann der Elwedritsche nicht, obwohl er Flügel hat. Springend, hüpfend muss er sich bewegen, hakenschlagend so schnell, dass manche gar behaupten, es gäbe ihn gar nicht. Das aber wäre gelogen.

Der Elwedritsche von Berlin heißt Wechselwähler. Gewiss, es muss ihn geben, doch unfassbar scheu ist auch er. Kaum hat sich eine Partei auf die Jagd nach ihm begeben, nimmt er Reißaus. Weil das traditionelle Unterholz, Milieu genannt, schwindet, schlage der Wechselwähler mal Haken nach links, mal nach rechts, sei nie da, wo man ihn erwartet.

Die SPD erfand einen „Basta“-Kanzler, um den Wechselwähler, den man weit jenseits des klassischen Proletariertums vermutete, an sich zu binden: Das Experiment missglückte. Die FDP zog sich einen Spaßvorsitzenden heran, der dem Wechselwähler zeigen sollte, wie schön es doch sein kann, wenn man sich beim Geldverdienen auf die Schenkel klopft: Das Experiment misslang. Die ehemalige SED-PDS bot dickschädligen Kommunisten ein Heim, um sich für das westdeutsche Schaufenster heraus zu putzen: das Experiment wird scheitern.

Einzig Angela Merkel weiß es besser. Ihre Partei, derzeit CDU gerufen, stimmt einen Lockruf an namens „Berliner Erklärung“. Nach dieser neuen Melodie will man tanzen, um den Wechselwähler zu beeindrucken: „Weniger als 25 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler sagen heute, für sie käme nur eine einzige Partei in Frage. Es wird daher mehr denn je entscheidend darauf ankommen, die eigenen Stammwähler zu binden und neue Wähler hinzu zu gewinnen. Wahlen werden in der Mitte gewonnen.“

In der Mitte also muss der Wechselwähler sitzen. Dort sitzt er und freut sich ganz ungemein, dass die CDU nun Ja sagt zu „allen Schichten und Gruppen“ und also auch zu ihm. Er lauscht der „Berliner Erklärung“ und freut sich noch mehr, dass die CDU alle „bisherige Wählerinnen und Wähler der SPD“ gewinnen will, „die vom Linksruck dieser Partei enttäuscht sind“ und auch die „Zuwandererfamilien“, dass ferner der CDU „die Bewahrung der Schöpfung ein besonderes Anliegen ist“, ebenso „eine internationale Finanztransaktionssteuer“.

Der Wechselwähler ist demnach ein zoon politikon mit schlechten Manieren. Er nascht von jedem Tisch, auf dem ihm gerade aufgetragen wird. Es macht ihm nichts aus, sich mit „allen Schichten und Gruppen“ an derselben Tafel wiederzufinden. Er ist gerne wie jeder – solange ihm der Eindruck vermittelt wird, er sei etwas ganz Besonderes. Er mag, genäschig, wie er ist, mal dieses, mal jenes, und wenn alles serviert wird, findet er gewiss das Richtige für sich. Die Köchin lässt ihn nicht darben, stets dampfen die Kessel, an alle ist gedacht und also auch an ihn.

So stellt der Wechselwähler aus parteistrategischer Sicht sich dar. Kein einnehmendes Wesen hat er. Bedient will er werden, und die Politik bedient gerne, gibt den Mundschenk der Masse. Noch jemand ohne? Nichts ist aus, alles ist da, kein Problem, komme gleich, komme gern!

Es ist der traurige Unernst, ist das Misstrauen gegen sich selbst, das die „Berliner Erklärung“ zu einem so miserablen Stück Papier macht. Hier ruft eine Partei, die an sich selber zu verzweifeln droht, ganz pathetisch und mit viel Tremolo in der Stimme: Habt uns lieb! Wählt uns! Von uns bekommt ihr alles!

Das mag den einen oder anderen aufhorchen lassen. Schnell aber wird der Wechselwähler aufstehen, zu schwer sein für jeden Gedanken und den Schlaf des Vergessens schlafen. Wenn er aufwacht, wird er von nur einem Vorsatz getrieben sein: Nie wieder ein solches Gelage. Diese Köchin merk’ ich mir. Und dann beginn schönere, ernstere und viel vernünftigere Tage.

In der Panikfalle

Also sprach die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache: „Wir können nicht erwarten, dass der Wirtschaftseinbruch schnell wieder vorbei ist. Manches wird gerade im neuen Jahr erst noch schwieriger, bevor es wieder besser werden kann.“ Also ergänzte wenig später Parteifreund Wolfgang Bosbach: In einem halben Jahr schon werde auf Deutschlands Flughäfen der Körper- oder Nacktscanner probeweise eingesetzt. „Zügige Antworten“ seien beim „Thema Flugsicherheit“ gefragt.

CSU-Fraktionskollege Hans-Peter Uhl sekundierte: „In Zeiten des Massen-Tourismus können wir auf Körperscanner nicht verzichten, um Terroristen aus dem Strom der Fluggäste schnell herauszufischen.“ Die Niederlande und Nigeria haben sich bereits dazu entschlossen, Italien und Großbritannien wollen es ihnen gleich tun. Uhl weiß, man kann Bilder auswerten, „ohne dass Sicherheitsbeamte sie zu sehen bekommen. Erkennt der Rechner einen versteckten Gegenstand, gibt er ein Warnsignal, und der betroffene Passagier wird von Hand durchsucht.“

Vor wenigen Tagen schien die Wirtschaftskrise bereits hinter uns zu liegen. Der Chef-Volkswirt der Allianz prophezeite „ein gutes Konjunkturjahr für die deutsche Wirtschaft“, konkret ein Wachstum von 2,8 Prozent. „Das wäre das stärkste Plus seit 2006.“ Die Kanzlerin selbst jubelte im August mit, als ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 0,3 Prozent im zweiten Quartal als Epilog der Krise galt.

Nun ist Merkel wieder sehr in Moll gestimmt – vergleichbar ihrem Ressortkollegen Rösler, der sich Anfang Dezember öffentlich gegen Schweinegrippe impfen ließ. Der „sicherste und wirksamste Schutz“ gegen das H1N1-Virus sei eine solche Impfung. Einen „Impfgipfel“ berief er ein. Die Mediziner sollten sich rasch informieren, die Patienten aber gedulden, nicht drängeln, jeder komme dran. Einen Monat ist das her.

Heute verhandelt die Regierung mit der Pharmaindustrie, um den Impfstoff Pandemrix kostengünstig zurückgeben zu können. In Deutschland sollen im zurückliegenden Jahr 132 Menschen der Schweinegrippe zum Opfer gefallen sein – also etwa 0,00165 Promille der Bevölkerung. Die Pandemie hat nicht stattgefunden. Die Wirtschaft hat bisher auch nicht kollabiert, Pauperismus ist anderswo, Depression war einmal. Nicht anders wird es der Jagd nach den menschenwürdeschonenden Nacktbildern für Computeraugen ergehen. Kein Halali wird da erschallen.

Die Politik steckt in der Panikfalle. Ein Durchlauferhitzer ist sie geworden. Nachrichten werden nach dem Muster einfacher Reiz-Reaktionsmechanismen in politische Reflexe übersetzt. Der Umweg über das  Gehirn ist nicht vorgesehen. Jedem Problem und jeder Problemvermutung wird mit markigen Worten begegnet, deren Halbwertszeit nach Wochen rechnet.

Immer lautet der Refrain, da dürfe man sich keine Zeit lassen, immer heißt es in der Strophe, wenn man nur könnte, wie man wollte, wäre die Welt eine bessere. Allein die politischen Mitbewerber wüssten nicht, was die Stunde geschlagen hat. Das Bild des Machers will die Menge sehen, und sie bekommt ein Panoptikum energischer Verkünder und Durchblicker geliefert, die sich gegenseitig auf den Zehen stehen.

Die erste Szene des neuen Stücks von Botho Strauß, „Leichtes Spiel“, trägt den Titel „Paniktag“. In einem weitgehend leeren Supermarkt treffen sich „Die Ängstliche“ und „Der linkische Mann“. Sie ist zu spät, die Regale sind wie leergefegt. Er hingegen hat die Meldungen in den Nachrichten, die auf eine allgemeine Drohung deuten, gar nicht gehört. Und so kaufen sie, was noch übrig ist, Topflappen im Dutzend, aber keine Handtücher. Es ist mal wieder einer von den Paniktagen, an denen man den Schauder konsumiert wie sonst das Dosenbier oder den Kurzurlaub.

Wie war das noch mal mit der Vogelgrippe, mit BSE und saurem Regen?

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