Kategorie: Tagebuch

Scholzen in Solingen

Foto: A. Kissler

Floskeln wie Gitter, zu denen das Sein keinen Zugang hat, Phrasen als Rüstung vor den Zumutungen der Wirklichkeit: Nach diesem Prinzip kommuniziert der deutsche Bundeskanzler selbst im Angesicht des Grauens. Er kann es nicht anders.

Olaf Scholz ging nach Solingen, drei Tage, nachdem dort ein abgelehnter syrischer Asylbewerber drei Menschen zu Tode gestochen hatte. Der Islamist hätte ausreisen müssen, entzog sich aber trickreich den Versuchen der Behörden, seiner habhaft zu werden.

Der Syrer züchtete den Hass auf den Westen in einer Flüchtlingsunterkunft, die ihm die arbeitenden Steuerzahler des Westens finanziert hatten. Er ermordete drei Menschen jenes Volkes, das ihm Obdach gewährte, obwohl er über Bulgarien eingewandert war – von Flucht kann keine Rede sein. Welchen Grund hätte es geben sollen, aus jenen drei oder vier europäischen Ländern zu fliehen, die er durchquerte, ehe er Deutschland erreichte?

Er wollte in ein Land, das für seine hohen Sozialleistungen und seine geringe Ausschaffungsenergie und seine sich selbst fesselnden Gesetze bekannt ist, und stach dann viele Male in den Hals von Stadtfestbesuchern, womöglich aus „Rache für Palästina“.

Und nun, da alldies eben geschehen war, da wieder einmal ein abgelehnter Asylbewerber zum Mörder und eine Stadt zum Tatort geworden war, da kam Olaf Scholz, der Kanzler der blutig gedemütigten Bundesrepublik Deutschland und sagte diesen Satz: „Das ist etwas, das wir niemals hinnehmen werden und das wir niemals akzeptieren werden.“

Worte sollen bezeichnen, was ist. Sie können erklären oder ermahnen, ermuntern oder niederdrücken. Auch Lügen werden aus ihnen gesponnen. Keineswegs aber sind Worte entstanden, um das zu tun, was Olaf Scholz ihnen antut: einen eisernen Vorhang zu ziehen zwischen dem Sprecher und der Welt, die ihn umgibt.

Scholzens Vorliebe für das neutrale Pronomen „das“ ist Ausfluss seiner Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich zur Realität in ein Verhältnis zu setzen. „Das“ ist bei Scholz alles, was nicht der Fall sein kann, „das“ ist alles, was ihn nichts angeht, alles, worüber er in Worten schweigt. Dieser Kanzler redet, als sei ihm die Wirklichkeit egal.

Natürlich weiss jeder und wissen es die Angehörigen der ermordeten Menschen von Solingen erst recht, dass der Terror nach Deutschland gekrochen ist und dass „das“ faktisch hingenommen wird von Scholz und seiner Regierung. Die hilflosen Versuche, in Solingen Handlungsbereitschaft zu simulieren, bekräftigen das Missverhältnis.

Scholz hält es beim Blick auf zugewanderte und weiter zuwandernde Messertäter für „offensichtlich“ notwendig, „dass wir die waffenrechtlichen Regelungen, die wir in Deutschland haben, noch einmal verschärfen.“ Olaf Scholz ist der Feuerwehrmann vor dem brennenden Haus, der auf die Flammen im Dachgiebel schaut, die herunterstürzenden Balken zählt, die steigende Temperatur misst und schwitzend versichert, nun brauche es wirklich ein Feuerzeugverbot.

Die Sprache als Rüstung, ein „das“ als Gitter: Weiter ging es in Solingen mit der Vertreibung von Trauer und Ergriffenheit, indem Scholz sie zusammenleimte, denn „das ist etwas, das uns alle berührt und uns alle betrifft.“ Weniger Betroffenheit lässt sich nicht in Worte fassen. Der Notar nimmt ungerührt die Insolvenz der eigenen Ambitionen in die Bücher. Ich ist ein anderer, sagt Scholz, und ich bin nicht Kanzler, und dieses Land ist nicht Deutschland, da ist nur, allgewaltig thronend, drohend, dröhnend das „Das“, aus dem ein Nichts gemischt ist, das Grau, das jede Farbe verschlingt.

Meister – sofern auf diesen Meistertitel jemand erpicht sein kann – ist Scholz in der Fähigkeit, jeden Hauch von Aktivität in einem diffusen Nichts verschweben zu lassen: „Unser Ziel ist, dass wir gemeinsam mit den Ländern betrachten, wie wir diese Praxis weiter voranbringen können.“ Gemeint ist die in Solingen am deutschen Behördenmikado gescheiterte Regelung, Asylbewerber tatsächlich dort zu belassen oder dorthin zu überstellen, wo sie zuerst den Boden der EU betreten haben.

Scholz hat keineswegs das Ziel einer neuen Handlungsschnelligkeit, sein Ziel ist die Betrachtung. Er hofft, dereinst in der Lage zu sein, die Situation gemeinsam betrachten zu können. Sollte dieses Ziel erreicht sein – was keineswegs sicher ist –, könnte im Rahmen der Betrachtung die Praxis vorangebracht werden. Scholz ist der Schienenwärter, auf dessen Gleis sich ein Hochgeschwindigkeitszug scheppernd nähert, und der, ehe er die Weichen stellt, noch einmal nach Hause geht und hofft, dort das Buch mit den Instruktionen zu finden.

Das alles könnte komisch sein, könnte tragisch sein und taugt weder zum Einen noch zum Anderen. Die Selbstverzwergung regiert, kein Kraut ist gewachsen gegen eine so hartnäckige Wirklichkeitsallergie. Ob die Bundesrepublik einen Kanzler hat? Sie ist mit Scholz geschlagen.

Weihnachten ist ein Skandal

Mit dem Motiv
„Verkündigung des Engels an die Hirten auf dem Feld“ wirbt die Post.

Größer könnten die Unterscheide kaum sein: Man wünscht sich „Frohe Festtage“, erhält Karten mit „Seasonal greetings“, doch auf der Sondermarke der Deutschen Post steht im selben Jahr 2023 unverdrossen biblisch, „Euch ist heute der Heiland geboren“. So laute die „Botschaft des Engels“. Selbiger ist auf der Zuschlagsmarke zu sehen, mit zwei riesigen weißen Flügeln, wie er mit seiner nach unten gereckten Rechten zu einem Hirten auf der Anhöhe zeigt nebst Stab und Lamm. Was würde Gilbert Keith Chesterton zu einer solchen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sagen?

Jahr um Jahr versuchte der 1936 gestorbene englische Schriftsteller den „Geist der Weihnacht“ zu ergründen. In seinem letzten Text hierzu schrieb er: „Wir haben Schritt für Schritt, im majestätischen Marsch des Fortschritts, zuerst Weihnachten zu etwas Vulgären gemacht und es dann als vulgär angeprangert.“ Hitler verglich er mit dem in der Weihnachtsgeschichte bei Matthäus verbürgten König Herodes, der Kleinkinder ermorden ließ, damit die Botschaft des Engels nicht wahr werden konnte.

Herodes scheiterte. Weihnachten kam in die Welt und ist aus dieser bis zu ihrem Ende und weit über Hitler und Konsorten hinaus nicht fortzudenken. Die von Chesterton beklagten „Angriffe gegen Heim und Herd und gegen die Menschheitsfamilie“ werden nicht triumphieren.

Warum ist das so? Woher rühren die Attacken auf Weihnachten, das heute in seiner materiellen wie seiner geistigen Substanz unter die Räder zu kommen droht? Weihnachten ist als geweihte Nacht in erster Linie ein religiöses, ein spezifisch christliches Ereignis. Das missfällt vielen modernen Christen. Sie meinen, angefeuert von traditionsallergischen Kirchenvertretern, bei Weihnachten handele es sich um ein humanistisches Hochamt – eine Einladung von Menschen an Menschen, doch bitte ganz doll lieb zueinander zu sein. So habe es das Kind in der Krippe gewollt.

Chesterton entgegnet solchen Umdeutungsversuchen, Wurzeln hätten „einen Vorteil, und sein Name ist Frucht“. Steril wird jede Feier, jede Erinnerung, versichert sie sich nicht immer wieder ihres Grundes. Weihnachten ist stets neu, weil da immer wieder ein Schrei in der „Höhle von Bethlehem“ die Menschen zur Vernunft, zur Hoffnung und – ja, auch das – zum Glauben rufen will. „Der Mensch, der nichts von neuem beginnt, der wird nichts Bedeutendes leisten“, und darum steht ein tumber Traditionalismus Weihnachten ebenso entgegen wie jene Fortschrittlichkeit, die sich ihre Bildungslücken als Erkenntnis anrechnet.

Eben dieser Trend hat längst Bischofssitze und Pfarrhäuser erobert. Da faselt das geweihte Personal von der Augenhöhe Gottes mit den Menschen, von den Abgründen des Kapitalismus und der korrekten Weise, Politik zu treiben und Regierungen zu wählen, und merkt nicht, wie fade, wie feige solche Predigt geworden ist. Sie erhebt das Herz nicht, erbaut die Seele nicht, erfreut nicht, tröstet nicht, lehrt nicht. Da herrscht das Einheitsgrau des handelsüblichen Floskeltums – und zeitigt gerechte Ergebnisse.

Eine Umfrage ergab, dass in Deutschland immer weniger Menschen Weihnachtsgottesdienste besuchen wollen. Auch wachsen die Austritte stabil. So ernten die Kirchen, was sie säten: den getauften Glaubenslegastheniker. Wer seit Jahr- und Jahrzehnten Säkularismus predigt, darf sich auf die Schulter klopfen. Zumindest diese Mission wurde erfüllt.

Neben solcher spirituellen Selbstaustreibung gibt es feindliche Angriffe der brutalen Art. Krippen werden ebenso geschändet wie Kirchen, ein Weihnachtsmann wurde jüngst verprügelt, ein neuerlicher Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verhindert. „Die Kirche“, so Chesterton, habe „gewiss nie all die Aufzeichnungen über alte Götter hinweggefegt, so wie Mohammed die alten Götzenbilder hinwegfegte.“

Fanatisierte Muslime nehmen in ihrer verkehrten Vernichtungsgier den christlichen Kern des Weihnachtsfestes tödlich ernst: dass da einst Gott in der Gestalt eines Menschenkindes auf die Erde gestiegen und damit das letzte Wort über Mensch, Welt und Gott gesprochen worden sei.

Als Unglaube erscheint den einen, als Fehlglaube den anderen Verächtern des Weihnachtsfestes, was jedes Jahr an „Heim und Herd“ gefeiert wird. Weihnachten ist ein Fest der Häuslichkeit, wusste Chesterton, ist die Feier eines jeweils ganz spezifischen Heimes, das zugleich der Menschheitsfamilie offensteht.

Das einsame Weihnachten ist nicht minder traurig als das entkernte Weihnachten. Niemand muss es feiern, niemanden müssen die christlichen Wahrheiten überzeugen. Wer sich aber auf Weihnachten beruft, sollte auch von Weihnachten sprechen, vom angreifbaren Gott, und nicht von den eigenen Befindlichkeiten oder der eigenen politischen Agenda. Das instrumentalisierte ist das erdrosselte Weihnachten, die politisierte die leere Kirche.

Der tiefste Grund, warum Weihnachten ein Skandal ist und weshalb es heute auf derart schwache Verteidiger und derart brachiale Feinde stösst, liegt an einer ganz anderer Stelle – und auch sie suchte Chesterton auf: Der „Geist der Freiheit“ werde an Weihnachten zelebriert, paradoxerweise „hinter verschlossenen Toren, hinter geschlossenen Fensterläden, hinter Türen, dreifach verrammelt und verriegelt.“ Die Einladung zur Freude über die Inkarnation, über die Idee also, „eine gute Absicht selbst zu verkörpern“, kann nur in Freiheit ausgesprochen, angenommen oder abgelehnt werden. Und ohne die Freiheit des menschlichen Willens hätte die Menschwerdung von Bethlehem sich nicht ereignet.

Insofern trifft die freiheitsfreundliche Botschaft von Weihnachten in freiheitsskeptischen Zeiten natürlich auf Gegenwehr. Wahr aber ist auch: „Nur die Dinge, die niemals sterben, werden totgesagt.“ Frohe Weihnachten!

Olaf Scholz, always alone

Foto: A. Kissler

Irgendwann steht kein Bett mehr im Kornfeld, sind sieben Fässer Wein ausgetrunken, ist die Fiesta Mexicana vorbei und wartet niemand mehr ganz in weiß mit einem Blumenstrauß. Nur Olaf Scholz steht noch immer an einem Pult, im Reichstagsgebäude oder anderswo, und redet und tut, was Jürgen Drews, Roland Kaiser, Rex Gildo und Roy Black nicht mehr täten, und gibt seine liebste Coverversion von anno dunnemals zum Besten.

Der deutsche Bundeskanzler ist am 28. November des Jahres 2023 in die Epoche seines Nachlebens eingetreten. Er wird von Stund an sein, wie er einmal gewesen sein wollte. Das anzusehen, schmerzt. Denn Olaf Scholz könnte noch zwei zähe Jahre Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein und also der Politiker mit dem Sprung in der Platte bleiben.

Am drittletzten Tag des Novembers 2023 gestaltete Olaf Scholz eine Regierungserklärung als Medley seiner wenn nicht beliebtesten, so doch bekanntesten Hits. Vom „Unterhaken“ war abermals die Rede, abermals auch von der „Transformation unserer Wirtschaft“ und der „klimaneutralen Welt“. Vor allem aber zitierte Olaf Scholz Olaf Scholz, wie er Gerry and the Pacemakers zitierte, die wiederum den Komponisten Richard Rodgers zitierten. So kompliziert sind die Herkunftsverhältnisse der Fußballhymne „You never walk alone“.

Olaf Scholz sagte am 28. November 2023 unter der vom Sonnenlicht gleißenden Berliner Reichtstagskuppel: „’You’ll never walk alone‘, das habe ich im vergangenen Jahr versprochen, und dabei bleibt es.“ Versprochen hatte Olaf Scholz es damals den von staatlichen Anticoronavirusmassnahmen gebeutelten Bürgern. Ob diese aber am Fiskalband der Bundesregierung gerne und gut durch das pandemische Grusical liefen, sei dahingestellt.

Olaf Scholz auf jeden Fall rechnet sich die „umfangreichen Coronahilfen“ der zurückliegenden Jahre wie jede von ihm verantwortete politische Entscheidung hoch an: „So und nur so ist Deutschland besser durch diese Jahrhundertpandemie gekommen als viele andere Länder.“

Im „Nur so“ liegt die ganz Tragik eines alternden Revivalkünstlers beschlossen: Er hat den Song gelernt, er ist textsicher, aber eben nur in der Weise von ehedem. Er haucht die Vokale und gurrt mit den Konsonanten, weil das Hauchen und Gurren seine Rolle ausmacht und er keine andere beherrscht.

Olaf Scholz stand da am 28. November 2023 mit Patina in Blick und Stimme und beharrte trotzig auf der Unvergleichlichkeit seiner Rede. Er wich nicht ab, er lernte nicht dazu, er ging nicht in sich, denn er muss sich entäußern auf die immer selbe Art: Hier steht er, der Kanzler, und hat alles richtig gemacht, gestern, heute, morgen. Keine andere Melodie kommt ihm von den Lippen.

Der Kanzler ist Gefangener seiner Rolle. Er sitzt fest im Bild von sich selbst. Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Haushalt verworfen, die Bevölkerung ist seiner überdrüssig, die Aussicht auf eine Wiederwahl schwindet ebenso rasch wie die Hoffnung auf einen Aufstieg Deutschlands aus dem konjunkturellen Tal. Nichts ficht Olaf Scholz an. Er kann nur sagen, was ein für allemal in ihn gelegt worden ist, er kann die Lippen nur spitzen zum identischen Song. Unterhaken, Transformieren, never alone. Und noch einmal, und wiederum.

Olaf Scholz kann nicht aus seiner Haut, mag sie auch nur lose zum Inhalt des Gesagten passen. Das ist komisch, das ist tragisch, das ist traurig. Eine Rede, die den Bund mit der Wirklichkeit gekündigt hat, wird Monolog und ist das Ergebnis von Autosuggestion.

Und Winde sammeln sich aus anderen Höhen, fernen Regionen, rütteln und schütteln an diesem kleinen Land inmitten Europas und könnten schon bald über es hinwegfegen, als wäre da nichts gewesen. Always alone.

Hat der Westen den Westen auf dem Gewissen?

Ich war jung, liebte das Theater, und das Stück, bei dem ich assistierte, hieß „Die Palästinenserin“. Joshua Sobol erzählt darin die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Die titelgebende Palästinenserin mit israelischem Pass verliebt sich in einen jüdischen Israeli aus rechtsnationalen Kreisen. Das konnte nicht gut gehen, doch das Stück war der Schrei einer Hoffnung. Der Autor sympathisierte mit der Titelheldin und verurteilte die Siedlungspolitik seines Landes.

Foto: A. Kissler

Nicht nur zeitlich ist der Abstand zur Gegenwart gewaltig. Der Angriff einer islamistischen Terrorbande namens Hamas auf Israel hat viele Hoffnungen hinweggefegt. Eine friedliche Koexistenz vermag sich auf absehbare Zeit niemand vorzustellen. Die Hamas wird getrieben vom Wunsch, den Staat Israel zu vernichten und das jüdische Volk auszulöschen. Israel sieht sich von diesem eliminatorischen Antisemitismus auf buchstäblich existenzielle Weise herausgefordert. Das Überleben der, wie es biblisch heißt, zwölf Stämme steht auf dem Spiel.

Der Überlebenskampf Israels ist die eine Seite der Katastrophe. Die andere betrifft den gesamten Westen, als dessen Brückenkopf in feindlicher Umgebung Israel fungiert. Was sich gerade ereignet auf diesem kleinen Flecken Erde hat das Potential, den Westen umzuschreiben mit „blutziehender Feder“ (Rudolf Borchardt). Nicht nur die Fundamente Israels stehen im Feuer, sondern auch jene des Westens im allgemeinen und Deutschlands im besonderen. Gewissheiten erweisen sich als trügerisch, Beschwörungen als lügnerisch, Prinzipien als hohl. Der Westen hat den Westen auf dem Gewissen.

Theoretisch sind die Dinge klar: Der Westen, das ist die Trias aus Athen, Rom und Jerusalem, aus den Fragen nach dem Guten, dem Gerechten und dem Wahren. Im Westen, der sich einmal Abendland nannte, kann es keine Gerechtigkeit geben ohne Wahrheit, kein Gut ohne Recht, keine Wahrheit ohne das Gute. Wo nur einer dieser Pfeiler bröckelt, stürzt der gesamte Westen in sich zusammen. Freiheit im westlichen Sinne ist nur denkbar, wo diese drei Kräfte walten.

Das heißt aber auch: Wer das Gute, das Gerechte und das Wahre nicht verteidigt, wird in Unfreiheit enden. Diesen Kipppunkt erleben wir gerade. Breit macht sich in den Debatten, auf den Straßen und in den Gerichten des Westens ein Werterelativismus, der letztlich der Unfreiheit zuarbeitet. Aus Sorge um die formale Reinheit seiner Prinzipien entkernt der Westen sich selbst. Er meint, das Erbe zu bewahren, indem er es verschleudert. Er gibt sich wehrlos im Angesicht seiner Feinde, weil er Feinde nur für bisher unaufgeklärte Freunde hält und weltanschauliche Fundamentaldifferenzen für bloße Schattierungen im globalen Konsens.

In London und Paris, in Hamburg, Essen, Düsseldorf und Berlin schreien zornige Muslime ihren Hass auf Israel in den unbestirnten Himmel. Unter sie mischen sich in begieriger Vergeltungsfreude langjährige Profiteure des Westens, aktivistische Studenten, woke Dozenten und andere Tagelöhner des Geistes. Flaggen islamistischer Terrorbanden wehen durch die Metropolen des Westens. Der Wunsch, Israel vernichtet oder zumindest ultimativ gedemütigt zu sehen, eint intellektuell Verarmte aus allen Kontinenten. Es ist nicht nur eine Internationale des Hasses, die sich da radebrechend versammelt, sondern auch eine Kommunität der geistigen Verlierer.

Und ich sitze hier und lese bei Karl Wolfskehl, der nach seiner Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland schrieb: „Euer Schicksal ist das meine, / Eins mit euch auf Hieb und Stich.“ Dem untergehenden Land hielt der Exilant die Treue, weil er wusste, dass an der trotz allem gemeinsamen Geschichte „Jude, Christ und Wüstensohn“ ihren Anteil haben. Heute spricht Deutschland sich selbst das Gericht, wenn es beschwört, was es nicht halten kann, den „Schutz jüdischen Lebens“. Dieses jüdische Leben steht schutzlos da, wenn deutsche Polizisten den Geleitschutz geben für mannigfache Explosionen eines antisemitisch verschärften Hasses auf Israel wie nun in Hamburg, Essen, Düsseldorf, Berlin und nicht nur dort.

„Allahu Akbar“ droht es dröhnend, ein „Palästina“ ohne Israel wird herbei gebrüllt, Zehntausende Muslime und mehr zeigen ihre Verachtung des Rechtsstaats, weil dieser es zulässt. Wer solche Aufmärsche nicht zu verhindern weiß, der sollte abtreten. Ein kollektives Bussschweigen der politmedialen Klasse am kommenden 9. November wäre die einzig angemessene Reaktion auf ein ebenso kollektives Versagen zuvor. Das jüdische Leben wurde nur verbal geschützt und solange es risikolose Reputations- und Einkommensgewinne versprach im „Kampf gegen rechts“. Weil diesem selbst die Unterstützung der Ukraine nach dem russischen Überfall eingefügt werden konnte, wehten damals ukrainische Flaggen von deutschen Balkonen und wehen heute keine israelischen Flaggen. Der Westen mag sich nurmehr dann verteidigen, wenn es nichts kostet. Er ist zum Virtuosen der gespalteten Zunge geworden.

Der Westen entwaffnet sich. Einer in den Metropolen sich andeutenden Landnahme durch die „Wüstensöhne“ von einst tritt er als Beobachter, nicht als Verhinderer entgegen. Ein Bundeskanzler, ein Bundespräsident, ein Regierender Bürgermeister schwadronieren vom Antisemitismus, der in Deutschland keinen Platz habe, und überlassen ihm zugleich die öffentlichen Plätze. Eine ehemalige Kanzlerin meinte, ihre Politik der offenen Grenzen trüge dazu bei, dass Deutschland das Urteil der Geschichte nicht fürchten müsse. Das Gegenteil erweist sich als wahr: Ein forcierter Zustrom an Antisemitismus wird nur im Geschichtsbuch der Antisemiten gnädig beurteilt werden. Es ist auch Merkels Mob, der seinen Judenhass da austobt.

Der Westen war immer ein Raum der unstillbaren Neugier. Jede Lösung war ihm der Anfang eines neuen Problems, mit jeder Antwort begann das Fragen von vorn. Insofern kann er womöglich aus der Asche seiner gebrochenen Versprechen neu auferstehen. Nötig dazu sind: das Ende aller Schönrednerei, der Mut zur Wahrheit, die Bereitschaft zur Abwehr. Will der Westen überleben, muss er im Angesicht seiner Feinde erkennen, dass nicht alles relativierbar ist und dass das große Wort die entschlossene Tat nicht ersetzt. Sonst vollführen die Fanatiker der Unfreiheit bald Freudentänze auf den Ruinen von Athen, Rom und Jerusalem.

Der lange Abschied eines deutschen Papstes

Drei Tode starb Joseph Ratzinger. Am 19. April 2005 wurde er als Nachfolger Johannes Pauls II. zum Papst gewählt. Er selbst sprach vom „Fallbeil“, das im Konklave auf ihn niedergegangen sei. Fortan gab es nur noch Benedikt XVI., Joseph war Geschichte. Am 28. Februar 2013 verließ der 265. Pontifex seit Petrus gegen 20 Uhr im Hubschrauber den Vatikan und flog nach Castelgandolfo. Damit war sein ebenso rätselhafter wie historischer Rücktrittsentscheid vom 10. Februar wahr geworden. Jetzt sollte es nur „Vater Benedikt“ geben, den Beter im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae. Der leibliche Tod, der ihn dort am 31. Dezember 2022 ereilte, im Alter von 95 Jahren, klopfte zur Morgenstunde an.

Knapp acht Jahre lang war Joseph Ratzinger Papst, über neun Jahre dann Papa emeritus.

Das Ende bedenken, vom Ende her denken: diese philosophische Lebensregel war dem 1927 in Marktl am Inn geborenen Theologen, Bischof und Schriftsteller früh geistliches Programm. Mit 28 Jahren habilitierte er sich in München mit einer Arbeit über die apokalyptische Geschichtstheologie Bonaventuras, eines Denkers und Heiligen des 13. Jahrhunderts. Er leitete daraus die Warnung ab, keine „Vollerlösung in der Geschichte“ zu erwarten. Utopien waren Ratzingers Sache nie. Darum befremdete ihn der Erlösungsfuror der Achtundsechziger. Der junge Professor floh 1968, wie er rückblickend schrieb, vor einer „sehr gewalttätigen Explosion marxistischer Theologie“ an der Universität Tübingen nach Regensburg. Ebenfalls 1968 legte er seinen Long- und Bestseller „Einführung in das Christentum“ vor, bis heute eine frische und anregende Lektüre.

Neun Jahre später veröffentlichte er die Schrift „Eschatologie, Tod und ewiges Leben“, die ihm sehr am Herzen lag. 1995 stellte er knapp fest, es werde „innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absoluten idealen Zustand geben“, und 2002 wies er darauf hin, dass eine „endgültig heile Gesellschaft“ das Ende der Freiheit bedeutete. Im darauffolgenden Jahr weitete er in einem Vortrag über das Lehramt Johannes Pauls II. die utopiekritische zur antirelativistischen Mahnung: „Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.“ Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Und warum dann dieses vorzeitige Enden, dieser freigewählte Abschied im Februar 2013 von der Würde eines Amtes, das binden sollte bis zum Tod?

Als Pontifex Maximus – wenngleich ohne Tiara, die er aus dem päpstlichen Wappen entfernte, – wollte Benedikt die Fundamente des Christentums befestigen, Glaube und Vernunft versöhnen, den inneren Menschen rehabilitieren: „…und das Denken wird zum Glauben.“ Reisen, Enzykliken, Predigten, nicht zuletzt Mittwochskatechesen waren Mittel der Wahl. Bei diesen wurde er seinem halb spöttisch, halb bewundernd genannten Spitznamen „Professor Dr. Papst“ gerecht. Mittwoch für Mittwoch lud er in die vatikanische Audienzhalle oder auf den Petersplatz zur Kurzvorlesung. Ein aufgeklärter Glaube, wie er ihn einforderte, war für Ratzinger ein Glaube, der aus dem Wissen zehrt, auf Traditionen fußt und deshalb auskunftsfähig bleibt. Sein Abend mit Jürgen Habermas in der Münchner Katholischen Akademie am 19. Januar 2004 über eine „entgleisende Modernisierung“ (Habermas) und die „notwendige Korrelationalität von Vernunft und Glaube“ (Ratzinger) war insofern ein papables Präludium.

Die Katechesen bei der Generalaudienz widmeten sich zunächst und in Fortsetzung der Ansprachen Johannes Pauls II. den Psalmen, dann den Aposteln und „anderen wichtigen Persönlichkeiten der Urkirche“, danach den Kirchenvätern zwischen Cyprian von Karthago, Athanasius von Alexandrien und Aphrahat dem Weisen, im Paulusjahr 2008/09 dem heiligen Paulus. Es folgten weitere Denker des Christentums, darunter Ambrosius Autpertus, „ein ziemlich unbekannter Autor“, schließlich Frauen des Mittelalters, eine „Schule des Gebets“ und zuletzt das „Jahr des Glaubens“ 2012/13. Am Ende, in seiner letzten Generalaudienz erläuterte Benedikt noch einmal seinen Amtsverzicht: „In diesen letzten Monaten habe ich gespürt, dass meine Kräfte nachgelassen haben, und ich habe Gott im Gebet angefleht, mich mit seinem Licht zu erleuchten, um mir zu helfen, die Entscheidung zu fällen, welche nicht für mein eigenes Wohl, sondern für das Wohl der Kirche die richtigste ist. Ich habe diesen Schritt im vollen Bewusstsein seines schwerwiegenden Ernstes und seiner Neuheit, aber mit einer tiefen Seelenruhe getan.“ Überzeugt diese Erklärung?

Ein typischer Deutscher war der ehemalige Erzbischof von München und Freising nicht.

Von seinen drei Enzykliken „Deus Caritas est“ über die Liebe, „Spe salvi“ über die Hoffnung und „Caritas in Veritate“ zur sozialen Lage ist die mittlere von 2009 die stärkste Probe auf das Exempel voraussetzungsloser Gesprächsbereitschaft. In der Hoffnung, durch die Hoffnung bereits jetzt gerettet sollen sich Christen fühlen dürfen. Darum prägte Benedikt eine griffige Formel, deren Präsens die Botschaft ist: „Wir sind frei. Wir sind gerettet“. In „Spe Salvi“ diskutiert Benedikt Theodor W. Adorno, schreibt in der ersten Person Singular und bekennt sich zur „Hoffnungsgewissheit“. Der Glaube ziehe „Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Nochnicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein.“ Der Dreischritt vom Glauben über die Hoffnung zum Tun ist die argumentative Grundfigur von „Spe salvi“. Entfaltet wird sie im Dialog mit Kirchenvätern und Theologen, Marxisten und Philosophen.

Drei Enzykliken in knapp acht Jahren waren wenig im Vergleich zu den 14 Sendschreiben des polnischen Vorgängers, dem Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation treu gedient hatte. Doch das Pontifikat Johannes Pauls II. währte 25 Jahre. Benedikt hinterließ in einem Drittel der Zeit rekordverdächtige 144 Apostolische Schreiben, schrieb 278 öffentliche Briefe und hielt knapp 1500 Ansprachen. Er schonte sich nicht. Georg Ratzinger machte sich von Beginn an Sorgen um die schwächliche Konstitution des jüngeren Bruders. Die 24 Reisen außerhalb und 30 Reisen innerhalb Italiens standen dem freilich nicht im Weg.

Benedikt reiste in die Türkei, wo nach seiner Regensburger Rede über das voluntaristische Gottesbild im Islam Konflikte befürchtet worden waren, er reiste nach Großbritannien, wo der organisierte Neoatheismus Proteste angekündigt hatte, in die USA und zu den Vereinten Nationen, nachdem Fälle priesterlichen Kindesmissbrauchs für Bestürzung gesorgt hatten, nach Frankreich, dessen laizistische Tradition sich herausgefordert sah, ins Heilige Land, wo jeder Schritt der falsche hätte sein können, schließlich und endlich in den Libanon, dessen fragiles religiöses Gleichgewicht gefährdet war. Überall wusste er die Situation durch bescheidenes Auftreten und nachdenkliche Reden zu entkrampfen.

Kern von Benedikts Überlegungen im September 2010 in Londons Westminster Hall, wie sie sehr ähnlich ein Jahr später im Deutschen Bundestag erklingen sollten, war die Warnung vor einem bloß prozeduralen Demokratiebegriff. „Wenn“, so Benedikt, „die den demokratischen Abläufen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung der Demokratie.“ Der Konsens kann heute diese, morgen jene Gestalt annehmen, ohne sich die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Guten je zu stellen. Aus diesem Grund brauche die bloße Vernunft die „Korrekturfunktion der Religion“ und bedürfe die Religion „der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft“. Es war ein Hauptanliegen des Pontifikats gewesen, Vernunft und Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Wahrheitsfrage virulent bleibt.

Überzeugen durch Nähe, Bescheidenheit und zielgruppenadäquate Ansprache: Diesem Grundprinzip folgten Benedikts Reisen, beginnend beim Weltjugendtag in Köln im August 2005, endend im Libanon im September 2012. Neben den Visiten in gegenwärtig oder ehemals stramm katholischen Ländern wie Polen, Spanien, Österreich, Portugal, Mexiko galt sein Augenmerk den Krisenregionen der Erde. Auch Treibhaustemperaturen in Kamerun und Angola Anfang 2009 oder schwierige organisatorische Umstände in Benin im November 2011 und ein politisches Minenfeld auf Kuba im März 2012 rangen ihm keinen Seufzer ab. Ein schöner Lebensabend sieht anders aus.

Im Libanon zuletzt plädierte Benedikt für menschliche Einheit über alle Spaltung hinweg und ortete sie im „angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre“. So mündet christlicher Humanismus in eine ästhetische Pointe. Das Gute verspricht Schönheit im umfassenden Sinn. Schönheit befreit, Schönheit erlöst: Hier liegt der Kern des Weltzugangs eines bayerischen Katholiken und Mozart-Liebhabers. Seinen tiefsten Satz sprach Benedikt in Barcelona aus, bei der Einweihung der Kirche Sagrada Familia von Antonio Gaudi: „In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

Mit Schönheit ist in Deutschland kein Staat zu machen. Hier war prompt der Widerstand gegen Benedikts Liberalisierung der klassischen lateinischen Messe durch das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ (2007) am plumpsten. Auch der Appell im Freiburger Konzerthaus bei seiner letzten Rede auf deutschem Boden im September 2011, „die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen“ und auf Privilegien zu verzichten, stieß im Land der Kirchensteuerkirche auf taube Ohren: „Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Nichts ist davon bis heute zu spüren, die ekklesiale Verweltlichung schreitet munter voran, aktuell unter der Überschrift eines
„Synodalen Wegs“. Ratzinger hätte allen Grund, noch einmal, wie bereits als Münchner Erzbischof im Gespräch mit Robert Spaemann zu konstatieren: „Wissen Sie, was das größte Problem der Kirche in Deutschland ist? Sie hat zu viel Geld.“

Unschönes zuhauf blieb einem Pontifikat unter dem Banner der Schönheit nicht erspart: Zum Schreckensjahr entwickelte sich 2010, vom Missbrauchsskandal überschattet und vom obskuren Bischof und Holocaust-Relativierer Richard Williamson von der Piusbruderschaft, mit der die Kurie gerade verhandelte. Das Krisenmanagement des Meisterdenkers war wenig meisterlich, im Umfeld überboten sich Unfähige und Missgünstige. Mit der Faust auf welchen Tisch auch immer schlagen: das wäre dem scheuen Intellektuellen nicht in den Sinn gekommen. Er spürte die Grenzen seiner Persönlichkeit. Die Ringe unter den Augen wuchsen. Sommer wollte es in diesem Annus horibilis nicht werden.

Auf den Namen „Vatileaks“ hörte die Krise des Jahres 2012. In einem Fernsehsender referierte der Journalist Gianluigi Nuzzi aus zwei Briefen von 2011 an den Papst über finanzielle Unregelmäßigkeiten im Governatorat, der Verwaltung des Vatikanstaates. Eine Tageszeitung veröffentlichte zwei Tage später weitere vertrauliche Briefe an den Papst und an Staatssekretär Bertone. Das Spiel setzte sich fort mit mehreren ergänzenden Veröffentlichungen. Nuzzi reichte ein Buch über seine Funde nach. Wie waren diese Dokumente in die Öffentlichkeit gelangt? Ein Kammerdiener des Papstes wurde als Schuldiger überführt. Ihn begnadigte Benedikt kurz vor Weihnachten. Der Chef der Vatikanbank, ein Mann Benedikts, war mittlerweile zurück getreten. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Sommer 2012, predigte Benedikt über Judas und „die Falschheit, die das Zeichen des Teufels ist.“ Die Eschatologie war Medium der Gegenwartskritik.

Eine eigene Betrachtung verdiente die Kunst der Epigrammatik, wie Joseph Ratzinger sie beherrschte. Er prägte zahlreiche Apercus und Aphorismen. Über seiner ersten Deutschland-Visite stand als Motto „Wer glaubt, ist nicht allein“. Er wusste, „die Demut ist das Tor jeder Tugend“, die „Verpflichtung zur Wahrheit die Seele der Gerechtigkeit“ und „die Schönheit das Siegel der Wahrheit.“ Er musste erfahren, dass „die größte Verfolgung der Kirche nicht von den äußeren Feinden kommt, sondern aus der Sünde in der Kirche erwächst“, vor allem aber: „Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der die Lüge Macht hat.“

Zwei Kisten standen zwischen Benedikt und dessen Amtsnachfolger auf einem Foto, das die beiden Anfang 2013 beim Gespräch zeigt. Darin befinden sich Dokumente, vermutlich zur „Vatileaks“-Affäre. Spielten sie eine Rolle beim Amtsverzicht, der ein Mysterium bleibt, eine Überraschung war und teils für Applaus, teils für Enttäuschung sorgte? Eine Emeritierung steht deutschen Professoren besser zu Gesicht als römischen Bischöfen. Benedikts Rücktritt war eben auch eine Flucht vom Stuhl Petri, der mehr ist als ein Lehrstuhl. In das Konzept einer Ecclesia Militans, einer kämpfenden Kirche, wie es Benedikt noch wenige Monate zuvor entworfen hatte – „Wir sehen, wie das Böse die Welt beherrschen will, und dass es nötig ist, in den Kampf gegen das Böse einzutreten“ – passt eine Demission aus Altersschwäche nicht.

Zurück ließ der große Gelehrte und prinzipielle Nonkonformist, der Mystiker aus Einsicht, der utopieskeptische Antirelativist und moderne Modernitätskritiker eine Kiste voller Fragen und offener Enden. Sein Pontifikat brach ab. Darauf folgten seit jenen merkwürdigen Tagen Anfang 2013 Stillosigkeit und Orientierungsmängel in einem Maße, das auch Vater Benedikt in Mater Ecclesiae ins Grübeln gebracht haben dürfte: Franziskus, eine Nemesis? Wenn „Spe Salvi“ Recht haben sollte, werden wir es erfahren. In den Worten Ernst Blochs, dem Joseph Ratzinger in Tübingen begegnete: „Hoffnung hat den Morgen für sich, der noch wieder kommt, die Arbeit, der noch kein Umsonst gesetzt ist, die Glückszeichen, die noch nicht erstarrt sind, die Lichtzeichen, die selbst die Erstarrung überdauern.“

Eine Documenta auf der Höhe der Zeit

Das Fatale am Enden: es geht fast immer weiter. Der Mensch lässt sich nicht unterkriegen, glücklicherweise, und dennoch hört irgendwann alles auf, endgültig. Abschiede folgen auf Neuanfänge, die sich den Tod bereiten, bis das Rad stillsteht. Momentan ereignen sich im nordhessischen Kassel nicht die letzten Tage der Menschheit, vermutlich wird auch die Kunst den Antisemitismus-Skandal der Documenta überstehen.

Zu Ende aber ging – oder hat sich zumindest der Lächerlichkeit überführt – eine bestimmte Art, die Welt ins Raster politischer Erwartungshaltungen zu pressen. Diese Art der instrumentellen Zurichtung von Welt hat den Antisemitismus-Skandal erst möglich gemacht. In Kassel enden viele Erzählungen. In Kassel stirbt die Postmoderne.

Um nur einige dieser kollabierenden Irrtümer zu nennen: Das Kollektiv sei dem Individuum überlegen. Der globale Süden sei eine immer wertvolle kulturelle Bereicherung. Der Westen befinde sich grundsätzlich und zu Recht auf der Anklagebank. Alles sei relativ, es gebe keine absoluten Werte. Der Mensch sei, als was er sich empfinde. Aktion schlage Kontemplation, die Betroffenheit das Argument. Es genüge, für eine bessere Welt einzutreten.

Foto: HP Rabit

Der Antisemitismus-Skandal entzündete sich an judenfeindlichen Darstellungen, die das kuratierende „Künstler*innenkollektiv“ Ruangrupa aus Jakarta nach Kassel gebracht und die ein anderes indonesisches Künstlerkollektiv namens Taring Padi zu verantworten hat. Ein Jude mit Schweinsgesicht, ein Jude mit Raffzähnen waren zu sehen auf einem gigantischen Wimmelbild. Es wurde am vierten Tag der Ausstellung nach einem Proteststurm abgehängt.

Obwohl das Plakat rund zwanzig Jahre alt ist – Auftragsarbeiten waren programmatisch unerwünscht –, hat sich die Documenta-Leitung nicht darum gekümmert, was da wohl eingeflogen werde. Ruangrupa steht seit langem unter Antisemitismusverdacht. Der Direktorin bleibt jetzt nur der Rücktritt. Auch die grüne Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth, erweist sich durch ihre Verharmlosungen als fehlbesetzt.

Momentan wird vielerorts ein Triumphzug der Kollektive in der Kunstszene behauptet. Wenn es so wäre, wäre es ein reaktionäres Vergnügen, denn die selig entschlummerten 1970er Jahre waren die hohe Zeit der kollektiven Autorschaft. Auch im Warschauer Pakt wurde, zumindest rhetorisch, das Kollektiv hochgehalten. Kollektive Kunst aber ist misslungene Kunst, ist oft gar keine Kunst. Wo kein Künstler Verantwortung übernimmt für seine Musen, kann der Freiheitsfunke nicht überspringen. Kollektive Kunst entspricht der Individualität einer Pauschalreise.

Schmerzlich zu lesen und darum erhellend ist die Hymne, die wenige Tage vor der Eröffnung die Wochenzeitung „Die Zeit“ anstimmte. Eine „Documenta der globalen Verschwisterung“ sei es, nichts liege den Ruangrupa-Leuten ferner als Hass, Hetze und „Herumpolitisieren“, das oberste Ziel laute Einvernehmlichkeit.

Auch die antisemitischen Pinsler von Taring Padi bekamen eine Extraportion Lob. Ihre Protestbanner seien „eindrückliche Bilder, angefüllt mit kämpferischen Figuren, die für eine bessere Welt eintreten.“ Dass diese bessere eine judenfreie Welt sein soll, lässt sich am erst später aufgehängten Poster sehen. Dort, gaben pseudoklug die Documenta und deren Generaldirektorin zu Protokoll, könnten gewisse Figuren zwar „antisemitisch gelesen“ werden, das Ganze müsse aber im Rahmen der indonesischen Gewalterfahrung verstanden werden.

So hohl läuft die Rede, wenn sie sich von der Welt entkoppelt. Da ist nur ein zynisches Schwatzen übrig. Der Antisemitismus-Skandal ist eben auch ein Abgrund an Realitätsblindheit und Folge eines hermetisch zugespitzten Werterelativismus, wie er Gemeingut wurde in den Gesellschaften des Westens. Von je weiter her eine Botschaft kommt, mit desto größerer Achtung wird ihr begegnet. Geografie zählt mehr als Vernunft, denn Vernunft hat keinen Ortsstempel. Antisemitismus kann jedoch durch keine regionale Spezialerfahrung gerechtfertigt, toleriert oder relativiert werden. Antisemitische Indonesier sind Antisemiten und nicht Weise aus dem globalen Süden, dieser denkfaulen Chiffre für Standpunktlosigkeit.

Foto: A. Kissler (aus dem Kurzführer documenta X)

Der Westen unterspült seine Fundamente, ohne Not. Er beruht auf einer durch Gewaltenteilung verbürgten und darum belastbaren Liberalität, die im Recht ihre Grenzen findet. Recht aber wird zur Fiktion, wenn das subjektive Empfinden den Richter abgibt – und bestellte Richter findet, die ihm im Gerichtssaal beispringen. Wenn der Mensch ist, als was er sich gerade empfindet, dann gilt das Recht nur situativ, momentan, kontingent und also nicht. Objektivität wird zum diskriminierenden Akt. Und wer wollte dann Menschen verwehren, ihren subjektiven Judenhass situativ zu äußern und nichts daran zu finden?

Auch die Kunst implodiert in der Endmoräne des Subjektivismus, widmet sie sich doch, so abermals „Die Zeit“, auf der diesjährigen Documenta der „Bienenzucht, Milchwirtschaft, Heilpflanzen, der Initiative ZukunftsDorf22 oder auch der eminent politischen Frage, wie sich Äcker, Wälder oder ein Steinbruch kollektivieren lassen“. Der Ungeist des Kollektivismus verheert alles, in erster Linie aber das Denken. Wer darin, wie es die Macher dreist behaupten, einen Fortschritt erblickt, ist nicht nur realitäts-, sondern auch geschichtsblind. Diese Documenta ist dem Wortsinne nach eine idiotische Veranstaltung, empfindet doch der Idiot „alles, was er empfindet, als selbstgemachte Empfindung. Von keiner Welt, keinen Sternen, keinen fremden Augen verursacht.“ (Botho Strauß)

Einer weltlosen, sternenfernen Documenta aber kann man ihre Blindheit letztlich nicht vorwerfen. Sie gibt getreulich wieder, woraus in den letzten Jahren und Jahrzehnten weite Teile des öffentlichen Redens im Westen bestand: aus einem zynischen Werterelativismus, einer stolzen Instrumentalisierung des Anderen zu politischen Zwecken und einer allumfassenden Scheu, über das Subjektive hinaus zu gelangen.

Diese Documenta kann darum schon heute, an ihrem fünften Tag, für beendet erklärt werden. Sie hat ihren Zweck erfüllt. Sie wird uns alle überleben in der Chronik von den späten Tagen des Westens.

Deutschland im Marianengraben

Manche Sätze tragen ein Fragezeichen, doch sie sind ein einziges Ausrufezeichen: „Und warum denn noch nicht?“, war ein solcher Satz. Ich hörte ihn unlängst mit mindestens drei Fragezeichen, sehr laut und sehr von oben ausgesprochen, doch es war keine Frage. Es war Ausdruck eines kolossalen Unverständnisses. Da tat sich binnen Sekunden eine Kluft auf, so tief wie der Marianengraben. Ein solches „Und warum denn noch nicht?“ wäre die angemessene Reaktion gewesen, hätte jemand ganz heiter eröffnet, er besitze zuhause einen Lottoschein, der zu einem Gewinn von zehn Millionen Euro berechtige, aber habe ihn seit zwei Jahren nicht eingelöst. Oder wenn jemand gelassen erklärt hätte, ihm stehe eine lebenslange Leibrente zu, aber er komme nicht dazu, sein Bankkonto anzugeben. Ja warum denn nicht? Was steht dem Großglück im Weg?

Foto: A. Kissler

Doch es verhielt sich kolossal anders. Der Marianengraben verlief an anderer Stelle. Dass der Mann, der ihn gerade vermessen hatte, ihn von oben herab diagnostizierte, ist ihm nicht vorzuwerfen. Er war größer, jünger, blonder als sein Gegenüber, das ein Gegenunter war. Als solches stand es vor ihm, unter ihm und spürte die Silbenkanonade auf sich niedergehen: „Und warum denn noch nicht?“ Die Heftigkeit des Anwurfs hatte ihn überrascht. Gerade eben war man sich noch jovial begegnet, und nun eröffnete das Gegenober ein Vorwurfsfeuer. Aus dem Nichts, so schien es. Man kannte sich, flüchtig, aber länger. Guten Morgen – Auf Wiedersehen – Wie geht es der Familie – Was machen die Schlagzeilen: All das hatte ihren regelmäßigen Begegnungen den Schein der Vertrautheit gegeben.

Nun riss der Schein entzwei. Zu Boden schaute der kleinere Mann, als lägen da die Fetzen ihrer Konventionen, ihres vergangenen Einvernehmens, die Scherben des Verständnisses. Oberflächlich war es gewesen, doch kein Trug, keine Lüge. So war es ihm erschienen. Der andere, der mit diesen schrecklichen sechs Silben zum Riesen angewachsen war, zum Goliath der Ferne, hatte sich in Sekundenfrist aus jeder Vertrautheit herauskatapultiert. Und ihn, den kleineren Mann, verlegen gemacht, in einem Wimpernschlag ihn verstoßen aus der Gemeinde der Gleichwertigen, Gleichgesinnten. Anklage und Schuldspruch fielen zusammen in diesem Tribunal des Alltags, für alle erkennbar, alle hörbar. Warum sonst hätte der größere, der jüngere, der blonde Mann sonst just mit diesen sechs Silben die Stimme erhoben, so dass es jeder vernehmen, und den Abstand durch einen Schritt erweitert, so dass es jeder sehen musste? Er wollte ein Exempel statuieren in der Lobby.

Bewusst vielleicht nicht, aber unbezwingbar war aus dem Mitmensch der Widerpart geworden. Was, mag der kleinere Mann gedacht haben in diesen grauenhaften Sekunden, habe ich mir zuschulden kommen lassen? Er trug eine Maske, doch es schien, als schwitzte er dahinter. Er wich zurück, krümmte sich ein wenig, wurde leiser mit jedem Wort, das er heraus stammelte, schüchtern, stotternd, stolpernd. Er wollte sich erklären, gerne auch entschuldigen, aber was eigentlich hatte er sich zuschulden kommen lassen? Er fiel aus allen Wolken hinab auf Beton. Er war noch nicht geimpft.

Das verstand der andere, der Hiesige, der Ansässige ganz und gar nicht. „Und warum denn noch nicht?“ Er hatte für vieles, für fast alles Verständnis, er lebte in Berlin und tat es gern. Aber damit war wirklich eine Grenze erreicht. Auch ihm wurde es heiß unter der Virenschutzmaske. Da ging man jahrein, jahraus an dieser Pforte vorbei, grüßte sich, scherzte, „auf Augenhöhe“, jawohl, er hatte keine Vorurteile gegen türkischstämmige Deutsche, gar keine. Den Begriff „Gastarbeiter“ hielt er für rassistisch. Keiner Unterschriftenliste für mehr, für bessere, für nachsichtigere Integration hatte er sich je verweigert. Und nun das. Der Pförtner wollte sich nicht impfen lassen. Welch Ausmaß an Verstocktheit. Da blieb noch viel zu tun.

Die Zeit drängte. Er musste rasch hinein ins Gebäude, der andere heraus auf seinen Wachtposten. Sie würden sich wieder begegnen. In ein paar Stunden schon. Morgen auch und übermorgen. Der kleinere Mann würde stumm in seinem Tee rühren und nicht aufschauen. Der größere Mann würde rascher vorbeigehen und lauter telefonieren. Sie waren Fremde geworden. Der Marianengraben hatte sie verschlungen.

Herr Spahn, Professor Wieler und ihr Publikum

Kein Tag vergeht ohne Medienkonferenz des Bundesgesundheitsministers. Auch am heutigen Freitag stellte Jens Spahn sich den Fragen der Bundespressekonferenz. Als Überbringer schlechter Nachrichten hat Deutschlands oberster Corona-Manager Routine entwickelt. Leicht von den Lippen ging ihm die Bestandsaufnahme: „Die Lage bleibt angespannt. Die Fallzahlen steigen wieder.“

Screenshot

So oder so ähnlich klingt es seit Monaten, unterbrochen von Schüben der Erleichterung. Mittlerweile ist es fast egal, ob die Sätze stimmen oder nicht: Die Botschaft hat sich erschöpft. Spahn dringt nicht mehr durch.

Dasselbe Schicksal widerfährt seinem Kompagnon auf dem Podium, Lothar Wieler. Der Chef des Robert-Koch-Instituts ist notorisch in Sorge – aus seiner Sicht zurecht, denn „die Fallzahlen steigen.“ Gemeint freilich sind stets und ausschliesslich die Zahlen der Inzidenz, der positiven Tests pro 100.000 Menschen.

Wie sollen diese nicht steigen, wenn sich das Testgeschehen dank Schnell- und Selbsttests intensiviert? Wieler gab zu Protokoll: „Durch die Selbsttests wird die Dunkelziffer sinken. Wir werden ja mehr Fälle ermitteln dadurch, und das wollen wir ja auch.“

Spahn und Wieler sind in einer Endlosschleife gefangen. Sie starren auf die eine Zahl, die aber an Aussagekraft verliert, desto beharrlicher sie zum Universalschlüssel der Pandemie erklärt wird. Monokausalität führt zur Monotonie. Das Publikum wendet sich ab.

Wenn sie ihren Ton und ihre Betrachtungsweise nicht ändern, führen Spahn und Wieler bald nur noch Selbstgespräche.

Was hat die Achtundsechziger so ruiniert?

Es ist ja nicht so, dass ich nur gelitten hätte. Im Gegenteil. Ich bin ein Kind der Achtundsechziger in jenem Sinn, dass ich von ihnen erzogen wurde. Anders war es in der späten alten Bundesrepublik nicht oder nur unter allergrößten Anstrengungen möglich. Die Eltern waren keine Achtundsechziger, doch erzogen wurde man von Lehrern, Freunden, Sängern, den Umständen, und diese waren alle Achtundsechziger. Sie misstrauten Traditionen und Autoritäten und der Macht und teurer Kleidung. Sie wollten lässig sein, Kumpel sein und anders als alles Vorgefundene. Achtundsechzig war für uns, die Nachgeborenen, zu gegenwärtig, um hinterfragt zu werden. Wir waren so jung, wie sie ewig bleiben wollten.

Foto: A. Kissler

Erwachsen werden, das hieß, den Geist, der einen umwehte, zu verstehen, den Geist von Achtundsechzig. Hieß begreifen, warum die Lehrer wurden, was sie waren, und weshalb auch uns es frommte. Kein Marcuse war nötig, kein Adorno, doch das feuchte Gras unter den Zehen, der Schoppen vom Bio-Weingut, das kommunale Kino, der Kaffee aus Nicaragua, die Schokolade aus dem Eine-Welt-Laden, Haare unter den Achseln. Achtundsechzig, das waren andere Genüsse und frische Gedanken. Und immer der Blick auf ein Versprechen: dass das Leben ein Fluss ist, dessen Geschwindigkeit unsere Füße machen.

Irgendwann wurde ich wirklich erwachsen und emanzipierte mich von den Emanzipierten. Nicht im Groll, doch aus eigenem Antrieb, aufrechten Gangs. Wege werden zu den eigenen, wenn man die Richtung ändert. Trittsicherheit gewinnt man nicht in fremden Fußstapfen. Der Geist will mehr, als die Seele anderen versprach. Adieu denn, adieu, bleibt den Genüssen verbunden und dem tieferen Schwur, haltet für verwandelbar, was euch drückt, fragt nach, hakt nach, redet in den Sonnenuntergang hinein und hofft am Morgen, das Licht sei für euch aufgegangen.

Heute hat der Marsch durch die Institutionen nicht die Macht, aber die Achtundsechziger verwandelt. Der Apparat, gegen den sie rebellierten, hat sie zu Apparatschiks gemacht. Die Altachtundsechziger und die Neuachtsechziger treffen sich im Rechthaberischen. Sie fragen nicht, sie stellen fest. Sie hinterfragen nicht die Macht, sie wollen Macht. Sie klöppeln sich Dogmen. Sie fremdeln nicht mit dem System, sie sind es. Nicht überall, nicht immer, natürlich, aber längst allgemein geworden ist ihre Vernarrtheit in den Status quo. Sie wollten agieren und wurden Reaktionäre.

Wie kam es dazu? Was hat die Achtundsechziger so ruiniert? Ich vermute: Die Widerstände sind zu schwach geworden. Auf roten Teppichen organisiert man keine Revolten. Im Applausorkan ruft man nicht zum Barrikadensturm. Der Geist der Achtundsechziger, wie er sich in SPD und CDU und traditionell den Grünen manifestiert, wie er zur ewigen Krönungsmesse lädt in Medien und Büchern, ist fraglos geworden – und also stellt er keine Fragen mehr. Er hat das Gedankenfett des Saturierten angesetzt. Gesellschaft und Politik haben sich in ihren wesentlichen Protagonisten entschieden, gut zu finden, was die Achtundsechziger einmal als gut erkämpfen mussten, den Internationalismus, den Antimilitarismus, den Antikapitalismus, das Gefühl, den Leib, das ewige Gespräch. Die Wirklichkeit auf der Anklagebank des Vorgestellten. So wurden aus Differenzerfahrungen Dominanzgesten: Bist du schon oder wirst du noch?

Die Pandemie bringt es an den Tag. Sie zwingt uns alle, uns zu ihr zu verhalten. Sie ist die Probe auf das Exempel unseres Selbstverständnisses. Sie entstellt Ängste zur Kenntlichkeit. Sie formt uns nach dem Bild, das wir uns von anderen machen. Systemkritiker verteidigen Systeme, weil sie systematisch Rendite einstreichen. Staatsskeptiker sprechen den Staat von allen Sünden frei, weil er sie nährt, mal geistig, mal im Fleisch. Widerständler preisen die Verhältnisse, die sie zum Experten schlagen. Das Denken verpufft im Haben, der Ehrgeiz im Sein. Links geht es nur an der Ampel voran.

Die Pandemie zeigt: Wer Freiheit nicht vermisst, der war nie frei.

Angst ist keine Lebensform

Optimismus, sagt das Bonmot, sei nur ein Mangel an Information. Man müsse eine rosarote Brille tragen und weite Teile der Wirklichkeit ausblenden, um sich in dieser komplett wohlzufühlen. Man werde nie erwachsen, wenn man vor den Schattenseiten der Welt davonlaufe. Dummen Optimismus, blinden Optimismus, gefährlichen Optimismus: das gibt es. Wir leben nicht auf Wolke 7, und wer daran wider alle Erfahrung festhält, der wird zur Witzfigur, zum Tagträumer. Den belächelt man, den nimmt man nicht ernst. Schau dich doch um, entgegnet man ihm, dann werden dir die Augen aufgehen, ja übergehen vor all dem Elend, den Schwierigkeiten. Unerschütterliche Optimisten können unfassbare Nervensägen sein. Manche Probleme sind echte Probleme und nicht nur verpackte Chancen. Manche Krisen sind kein Geschenk, sondern führen schnurstracks in die Katastrophe. Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Foto: A. Kissler

Was es aber auch gibt: dummen Pessimismus, blinden Pessimismus, gefährlichen Pessimismus. In diesen Tagen bekommen wir eine Ahnung, was es heißt, unter dem Banner einer Düsternis zu leben, die noch die kleinste Freude niederdrückt. Weihnachten, sagt ein Ärztepräsident, könne zum „Fest mit Todesrisiko“ werden. Die Lage, sagt ein Bundespräsident, sei „bitterernst“. Ein Ministerpräsident aus Bayern erklärt, „es zerrinnt uns zwischen den Fingern“. Ein Ministerpräsident aus Sachsen weiß, dass beim medizinischen Personal „eine große Angst vor Weihnachten“ herrsche. Ein Ministerpräsident aus Thüringen rät zum Geburtsfest Christi, „einfach negativ bleiben“. Auch wenn damit sachlich korrekt beschrieben ist, dass negative medizinische Testergebnisse eine gute Botschaft sind, gilt das Motto weit über den konkreten Zusammenhang hinaus. Wir alle drohen uns im Negativen einzukapseln. Oder uns einspinnen zu lassen?

Vorsicht bleibt die Mutter der Porzellankiste, und Unvernunft macht nie gesund. An der Ernsthaftigkeit der jeweiligen Anlässe, deretwegen Minister- und Ärzte- und Bundespräsidenten zu bitteren Worten greifen, gibt es nichts zu deuteln. Es wäre eine Realitätsleugnung ganz eigener Art, hielte man solche und zahlreiche andere Äußerungen für unbegründet, die Gefahr, die sie beschwören, für eingebildet. Das wäre dann tatsächlich ruchloser Optimismus nach dem Muster jener Blumenkinder, die auf Schlachtfeldern Kanonen bekränzen und dadurch den Krieg hinfort zu zaubern meinen. Ein Risiko bleibt ein Risiko.

Dumm aber ist ein Pessimismus, der erst mit allem und dann nur noch mit dem Schlimmsten rechnet. Ein solcher Pessimismus raubt den Menschen alle Neugier, den Gedanken jede Kraft. Worüber sollte man sich den Kopf zerbrechen, wenn jeder Tag mit schicksalsergebener Gewissheit nur eine neue Weggabelung markiert, an der jedes Mal mit destruktiver Zuverlässigkeit ein Pfad in den noch tieferen Abgrund eingeschlagen wird? Der Mensch hat keinen Anlass, sich das Hirn zu zermartern, wenn das Resultat aller Überlegung schon im vornherein feststeht: Schlimm war’s, schlimm ist’s, schlimmer wird es werden. Der Mensch wird dann zum Spielball böser Zahlen, die er nur quittieren kann. Er wird zurückgestuft auf die Funktionsweisen Furcht und Fatalismus – und dann und wann eine kleine Erleichterung, eine Lockerung für das Gemüt im Lockdown des Kopfes.

Blind ist ein Pessimismus, der seine überwältigende Kraft aus einer starren Blickrichtung bezieht. Der komödiantischen Witzfigur des Optimisten, der vor jedem Abgrund die Augen verschließt und hofft, dass das Gewitter fern bleibt, wenn er nicht hinsieht, entspricht die tragische Gestalt des Pessimisten, der nicht aufhören kann, das Unheil zu fixieren – und nur das Unheil. Man kann ebenso in das Gelingen wie in das Untergehen verliebt sein. Letztere Liebe wird meistens erwidert. Zum Straucheln, wusste Kleist, braucht es nichts als Füße. Zum Untergehen nicht einmal die. Es reicht, bewegungslos die Augen auf ein Unglück zu heften, und schon wird es haften bleiben im Kopf, in der Seele. Der blinde Pessimist blendet wie der blinde Optimist alle Wirklichkeit aus, die seiner Weltempfindung widerspricht. Er richtet sich die Realität zu. Beide treiben dem Leben seine Neuheit und den Menschen ihre Neugier aus.

Gefährlich ist ein Pessimismus, der es sich im Teilnahmslosen einrichtet. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, dass das Schlimme des Schlimmeren Feind ist, wird man wehrlos vor jeder nächsten Gefahr. Ein neuer Standard ist ja gesetzt: die „große Angst“, die stete Negativität, der unwiderrufliche Ernst. Die Lagen mögen sich dann ändern – und jede Bedrohung erlischt irgendwann –, bleiben werden das Achselzucken, mit dem man sie hinnimmt, und die erlahmende Widerstandskraft. Gabelt sich ein Weg oft genug und wählt man dieselbe fatale Richtung, dreht man sich unweigerlich im Kreis. Der Circulus vitiosus ist nicht teuflisch, weil da ein Fluch waltet. Er ist teuflisch, weil und wenn der Mensch sich daran gewöhnt, dass der Kreislauf das Normale sei. Wer nur Böses und nichts Neues unter der Sonne erblickt, ergibt sich dem Bösen.

Der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe schreibt in seinem Roman „Von Zeit und Fluss“ über das „große Webstück aus blinder Grausamkeit, Hass, Schmutz, Lust, Tyrannei und Ungerechtigkeit, aus Freude, Zuversicht, Liebe, Mut und Hingabe, aus dem das Leben besteht und das die Welt ausmacht“ – das ganze Leben, die ganze Welt. Angst ist keine Lebensform. Frohe Weihnachten.

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