Monthly Archives: Februar 2010

Das Unwort des Jahres

Das Jahr ist noch jung, viel Raum also für Idiotien jedweder Art. Bekanntlich sind auf diesem Gebiet keinem Politiker, keinem Helden der Öffentlichkeit und auch keinem Schreibenden Grenzen gezogen. Ich schreibe es nieder, fasse mir an die eigene Brust und muss doch fortfahren: Für mich steht das Unwort des Jahres schon fest. Ganz sicher bin ich mir, seit ich vor wenigen Tagen ein Wort kennenlernte, dessen Existenz mir bisher komplett verborgen geblieben ist. Es handelt sich um die Sprengelpflicht.

Für wenige Augenblicke schaffte das kuriose Wörtlein es auf die vorderen Plätze der Radionachrichten. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte nämlich für Recht erkannt: Die kleine Isabell muss weiterhin die Grundschule in Bach an der Donau bei Regensburg besuchen. Die Pforten der Ganztagsgrundschule im Nachbarort Tegernheim bleiben ihr verschlossen. Der Wunsch der Eltern ist nicht von Belang, die Sprengelpflicht steht höher.

Ich lernte: Neben dem Schulzwang gibt es in weiten Teilen Deutschlands die Sprengelpflicht. Die sogenannten Pflichtschulen, also Grund- und Hauptschule, sollen gleichmäßig befüllt werden. Deshalb haben die Kinder die ihrem Lebensmittelpunkt nächstgelegene Schule zu besuchen. Eine Ausnahme ist nur bei „zwingenden persönlichen Gründen“ möglich.

Ein solcher, entschied nun das Gericht, ist weder der Wunsch der Mutter, ins Berufsleben zurückzukehren, noch die Auffassung der Eltern, das pädagogische Konzept der weiter entfernt liegenden Schule sei für ihr Kind besser geeignet. Bereits im August 2009 hat das Bundesverfassungsgericht die Sprengelpflicht für verfassungskonform erklärt.

Deftig ist die im bayerischen Urteil überlieferte Begründung. Der Elternwunsch, lese ich, laufe der staatlichen Schulorganisation zuwider. Und dann folgt der beeindruckend klare Satz: „Ein zwingender persönlicher Grund, der gewichtiger als das Staatsinteresse sei, liegt nicht vor.“ Der Staat hat also, einem Lebewesen gleich, Interessen. Diese können mit anderen Interessen und Wünschen kollidieren, die dann in der Regel zurückzutreten haben.

Schließlich, heißt das wohl, ist der Staat Interessengeber und interessierter Akteur gleichermaßen, er hat Interessen und er teilt sie zu, er wacht über das Interesse, das andere ihm gegenüber anmelden und schneidet es sich zurecht. Freiheit sind dann die Schnipsel, die am Boden liegen bleiben, nachdem der Staat seinen Schnitt gemacht hat.

Der Sprengel war ursprünglich jener Bereich, den der Bischof mit Weihwasser besprenkelte. Er markierte den Einflussbereich einer bestimmten geistlichen, später auch weltlichen Macht, ist also eine Erscheinung aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Heute noch aber fährt der Staat segnend und teilend durch die Lande, sammelt die Kinderlein ein und liefert sie ab, wie und wo es ihm gefällt. Er kommt nicht zu Pferde, ein papierner Pegasus namens Erziehungs- und Unterrichtsgesetz genügt ihm.

Des Preisens muss kein Ende sein. Wie wäre es mit der Volksbank- und Raiffeisenpflicht? Denn wo der Staat den Untertan wohnen lässt, da soll er auch sein Geld lassen. Der teure Ankauf ausländischer Daten-CDs entfiele dann ganz. Oder mit der Urlaubs- und Freizeitpflicht, die Fernreisen nur bei „zwingenden persönlichen Gründen“ zulässt, dem heimatlichen Sprengel zuliebe? Sollte nicht auch Schluss sein mit der Ausbildungs- und Berufswahl? Angeboten wird nur noch, was die heimische Hochschule hergibt, das örtliche Handwerk braucht, dem regionalen Markt ermangelt.

Bleibe im Lande und nähre dich redlich: Vieles ließe sich da noch bessern, von Sprengel zu Sprengel, Scholle zu Scholle. Die Zukunft wird, wie alles einmal war, sie bringt Lohn gegen Fron, Leben für den Leviathan und Gehorsam für mich, Schutz und Schild im Wechsel. Narrhallamarsch!

Missbrauch, Skandal und verschwiegene Fragen

Aus vielen Zutaten ist die aktuelle Debatte über Missbrauchsfälle an jesuitischen Schulen in den siebziger Jahren zusammengesetzt: Eine dröhnende und späte Selbstanklage trifft auf gratismutige Empörung, katholisches Lavieren und Kirchenhass befeuern sich wechselseitig. Diese trübe Suppe kann keinem schmecken.

Dennoch serviert man sie uns täglich. Die, die es schon immer wussten, prosten denen, die es schon immer besser wussten, zu: Mit der Kirche im Allgemeinen und dieser römisch-katholischen im Besonderen sei einfach kein Staat zu machen. Besser wäre es, sie verschwände ganz.

Der Eifer, mit dem der Hexentrunk befeuert wird, täuscht über die Tiefendimension des Falles hinweg. Die Etiketten sind schnell zur Stelle, weil sie argumentative Sollbruchstellen bemänteln. Das vermeintlich Fraglose soll dem Fragen eine strikte Grenze ziehen. Nur sehr selten wird etwa die Frage erörtert, ob es denn gerecht zugehe, wenn mit anklagendem Getöse eine besondere Disposition katholischer Würdenträger zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger unterstellt wird.

Vor elf Jahren etwa, erinnerte jetzt der Berliner Politik-Blog „Spreeblick“, war die säkulare und recht elitäre „Odenwaldschule“ Zentrum derselben quälenden, peinigenden Aufklärung. Im November 1999 wurde der langjährige Leiter der eher linksliberal-multikulturellen Reformschule der Pädophilie überführt. In den 1980er Jahren hatte er laut einem Betroffenen männliche Schüler „in inflationärem Umfang sexuell missbraucht“.

Verständlich ist das gesteigerte Maß an Entrüstung, wenn die Täter zuvor versprachen, ihr ganzes Leben Christus zu weihen. Derber kann man das Versprechen nicht verhöhnen als durch Gewalt gegenüber jenen, die der Nazarener in die Mitte stellte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich gelangen.“

Symptomatisch ist derlei Verbrechen aber nicht. Käme irgendjemand auf die Idee, Männer keine Jungen mehr unterrichten zu lassen, um diese vor jenen zu schützen? Ein solcher Generalverdacht wäre abwegig und ehrabschneidend. Und ebenso abwegig sollte er auch dann sein, wenn er geistliches Personal betrifft.

Die römisch-katholische Kirche sieht sich auf der Anklagebank, weil man mit dem Zölibat das „missing link“ zwischen Pädophilie und Profession meint gefunden zu haben. Davon abgesehen, dass auch andere christliche Bekenntnisse unter derselben Geißel leiden: Der Zölibat ist im 21. Jahrhundert das am deutlichsten sichtbare Zeichen, dem die Welt widerspricht; schließlich bezweifelt er deren gesamte Logik.

Da in der Spätmoderne alles Welt werden soll, da alles aufgehen soll im Ewiggleichen, im Durchschnitt und im Diesseitigen, gilt dem Zölibat ausdauernde Ablehnung. Dass er im Kern ein Hoffnungszeichen ist für die Welt, indem er das Unbedingte zur Bedingung macht einer ganz anderen Existenzform, darf die Welt sich nicht eingestehen.

Der Zölibat hält inmitten all des Vorläufigen und Relativen dem Absoluten die Tür offen. Die Welt aber will mehr vom Gleichen, nichts vom Besonderen; will mehr von der Gegenwart, kaum etwas von der Zukunft und schon gar nichts aus den Tiefen der Vergangenheit. Dort reicht ihr Regiment nicht hin.
Der zölibatär lebende Priester kränkt, allein weil er ist, die Gegenwart fundamental. Sie vergilt es ihm mit Generalverdacht, Sippenhaft, Schuldsvermutung.

Ebenso kränkend mag man einen weiteren, darum verschwiegenen Gedanken empfinden: Die Zeit, in der sich die nun in Rede stehenden Übergriffe ereignet haben, war der Höhepunkt einer inneren Krise der Kirche. In dieser nachkonziliaren Krise wiederum bildeten die Jesuiten die Speerspitze des Neuen. Unter ihrem von 1965 bis 1981 amtierenden Generaloberen Pedro Arrupe, einem Basken, wandelten sie sich von den Prätorianern des Papstes, ihm unüberbietbar ergeben, zu „des heiligen Vaters ungehorsamen Söhnen“ – so ein Buchtitel von 1991.

Es waren Jesuiten, die den lockenden Seim des Marxismus und der Befreiungstheologie in sich aufsogen und den „Arbeiterpriester“ salonfähig machten; Jesuiten stemmten sich gegen die „Pillen-Enzyklika“ Pauls VI. und gegen den Pflichtzölibat, und Jesuiten wurden auch von Johannes Paul II. mehrfach zur (Kirchen-)Ordnung gerufen. Für jede liturgische oder theologische Extravaganz findet sich noch heute zuverlässig ein Jesuit, der sie gutheißt.

Schon Paul VI. fragte 1966 die Generalkongregation der Societas Jesu, ob er „noch“ auf deren besondere Treue bauen könne. Erstaunen und Schmerz erfüllten ihn angesichts der „Übernahme weltlicher Lebensart“ durch einige Jesuiten. Johannes Paul I. sah 1978 die Gefahr, dass jesuitische „Lehren und Publikationen unter den Gläubigen Verwirrung und Desorientierung anrichten“.

Johannes Paul II. dekretierte 1982 vor den Provinzoberen der Jesuiten, die Aufgabe eines Priesters sei nicht „die eines Arztes, eines Sozialarbeiters, Politikers oder Gewerkschafters“. Die Glaubenslehre dürfe nicht von „persönlichen Kriterien oder sozio-psychologischen Theorien“ bestimmt werden. Eine Ahnung dieser Spannung war noch greifbar, als Benedikt XVI. im Januar 2008 an den scheidenden Generaloberen schrieb. Die Gesellschaft möge „das wahre Charisma des Gründers wieder klar und deutlich bejahen“.

Wir lernen: Reformeifer und der Hang zur Selbstsäkularisierung schützen nicht vor Abgründen. Die moralische Lauterkeit in der Kirche wächst keineswegs automatisch, wenn die Kirche sich weltlicher gibt. Das Rüstzeug wider die Versuchung wird nicht mit der Romkritik frei Haus geliefert. Man kann sich moralistisch über Tradition und Konvention erheben und dennoch nicht die bessere Moral gepachtet haben. Der Umkehrschluss gilt natürlich auch – damit aber wäre der weiche Boden des allgemein Fraglosen wieder erreicht.

Guttenbergsche Geschichtsprophetie

Von zweierlei Art kann das akademische Vorwort sein. Oft dient es dem Dank an die Lehrer und stellt die Arbeit umständlich unter den Scheffel, damit sie desto heller erstrahle. Solches Vorwort ist das Graubrot an Deutschlands Universitäten und die Regel.

Manchmal aber schwingt das Proömium sich auf in die Höhen eines Manifests, hebt ab in den Orbit der Globaldeutung, des ein und für alle Mal und sehr zu Recht Gesagten über Mensch, Welt, Kosmos, Geschichte. Von solcher Art ist das Vorwort, mit dem Karl-Theodor zu Guttenberg seine juristische Dissertation einläutete. Sie heißt „Verfassung und Verfassungsvertrag – Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU“.

Wer heute, da der Verteidigungsminister heikel jettet zwischen Hindukusch und Berlin, das 2009 publizierte Bayreuther Werk noch einmal hervorholt, der begreift: Nur in der internationalen Politik konnte dieser Deutungswille eine Form findet. Zu Guttenberg erweist sich auf den zwei sentenzensatten Seiten als Meister der Verknappung.

Essenz ist hier alles: das an Spengler wie Toynbee mahnende morphologische Denken, die Melancholie, das Schaudern zwischen Schimmer, Schemen und dem „Blick nach innen“. Zu Guttenberg hebt nach einer knappen Exposition des Themas – „Europa und die USA“ – an mit dem „Schimmer der Ernüchterung“, der „kleinen wie epochalen Erschütterung“ und „mancher Tradition“, die der Nostalgie gewichen sei. Gemeint ist besagtes Verhältnis von Alter und Neuer Welt.

Dem Historiker klassischer Prägung, der wie zu Guttenberg in der Geschichte ein Gewebe erblickt aus „Kraftfeld“ und „gestaltenden Persönlichkeiten“, wird nicht bang. Er weiß, dass Geschichte ein zyklisch‘ Ding ist und dennoch immer nah am Scheitern. Europa habe seinen „Pfad“, lesen wir, „eklektisch eigen beschritten“, den Weg der Verfassung nämlich, und sei „wiederkehrend am Scheideweg“: „Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen?“

Die asthmatische Rede geht vom europäischen Verfassungsvertrag, der als „Vertrag von Lissabon“ keine Verfassung geworden ist. Eine „Zäsur“ ortet zu Guttenberg, ohne zu verschweigen, dass Zäsuren wie Scheidewege, mögen sie uns auch erschüttern und ernüchtern, „traditionell paradox“ auf Kontinuität deuten: „In jeder noch so brachialen Ablehnung“ sei „immanent der Fortgang angelegt.“ Die Historie lässt sich nicht betrügen, sie geht über den Menschen hinweg. Der Historiker ist in zu Guttenbergs Perspektive ihr rückwärtsgewandter Prophet, nicht ihr Gestalter.

Alles bleibt sich gleich im Haus der Sprache, das hier ein Haus des ganzen Seins sein soll. Wer Geschichte studiert, wie sie hier studiert wird und wie sie etwa im Kaiserreich überall gelehrt worden ist, der steht immer kurz davor zu verzweifeln und zweifelt dann eben nicht. Ihm bleibt das Los auferlegt, noch in den Adverbien, die „demzufolge“ heißen und „indes“ und „gleichwohl“ und „nunmehr“, dem Einst die Treue zu halten.

Zu Guttenberg weiß: Beitragen kann er nur „eigenes Gemurmel“, entstanden trotz „intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse“. Im Winter 2008, als er das Vorwort schrieb, war er bekanntlich Generalsekretär der CSU, zuvor Vorsitzender des CSU-Bezirksverbandes Oberfranken.

Wenn es abschließend heißt, der Verfasser habe eine „verwegene Charakter- und Lebensmelange“ einschließlich einer „beklagenswerten Eitelkeit“, dann ist dieses Bekenntnis mehr als eine Captatio benevolentiae. Karl-Theodor zu Guttenberg müssen wir einen Aphoristiker und Geschichtsmorphologen nennen, den Kairos suchend, Kairo findend.

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