Monthly Archives: März 2010

Dampfplauderei und Dünkel

Wenn nichts mehr geht, geht immer noch das: Billiger ist kein Beifall zu haben als mit der Kritik am Zölibat. Warum nur, heißt es, werden Männer gezwungen, ein Leben lang enthaltsam zu leben? Ist das nicht gegen die Natur? Sieht man nicht am Zölibat, wie weltfremd die Kirche immer noch ist?

Deutschland debattiert über eine Vielzahl sexueller Übergriffe, die sich in evangelischen, katholischen und säkularen Bildungseinrichtungen ereignet haben und die von der jeweiligen Leitung zögerlich oder gar nicht aufgeklärt worden sind. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel, ist eine Sünde und eine Schande; jeder einzelne Fall macht unrettbar traurig und verlangt nach juristischer wie moralischer Aufarbeitung. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die meisten Übergriffe in der Familie stattfinden. Die Familien und die bisher kaum befragten Sportvereine sind das Hauptrisikogebiet für Heranwachsende.

Statt über dieses sehr ernste Problem zu reden, statt nach der Verantwortung der Erwachsenen für die Kinder zu fragen, holt man einen Ladenhüter aus dem Keller und attackiert den Zölibat. Bischöfe, Laienvertreter und antikirchliche Splittergruppen überbieten sich in Scheinheiligkeit. Selbstverliebte Dampfplauderer wie Hans Küng und Heiner Geißler halten ihre angestaubten Reden: Zwar sei der Zölibat nicht allein schuld an den Übergriffen, aber eben doch ein menschenfeindliches Relikt aus dem Mittelalter. Er habe zu verschwinden.

Wenn, wovon wir ausgehen müssen, Zölibat und Missbrauch nicht ursächlich verbunden sind – warum soll jetzt eine gewiss ergebnislose Debatte über seine Abschaffung geführt werden? Wollen wir auch über die Abschaffung von Sportvereinen reden, weil dort Männer und Frauen getrennt trainieren? Wollen wir die Familie abschaffen, weil nicht jeder Vater seiner Verantwortung gerecht wird? Nein: Wir brauchen zuverlässige, lautere und dabei leidenschaftliche Priester, Sportler und Eltern.

Der Zölibat ist eine theologische Einrichtung, keine Erfindung, um Seelen zu knechten. Nur auf theologische Weise kann sinnvoll geurteilt werden. Die Kritiker führen vor allem pragmatische Gründe und Vorurteile ins Feld.

Darüber werden einige Selbstverständlichkeiten vergessen: Niemand wird zum Zölibat gezwungen, niemand muss Priester einer Kirche werden, die an der Ehelosigkeit festhält. Wer es aber tut – wer es nach reiflicher Überlegung und aus freien Stücken tut –, von dem muss erwartet werden können, dass er nicht wortbrüchig wird; dass er sein Versprechen nicht wegwirft wie ein Hemd, das ihm zu eng geworden ist.

Priesterliche Ehelosigkeit ist ein Zeichen rückhaltloser Hingabe an Christus. Wer sich für diesen Weg frei entscheidet, der gibt zu verstehen: Mit meiner ganzen Person will ich dem dienen, dessen rettende Wiederkehr ich erwarte. Jesus selbst, schreibt der Theologe Klaus Berger, „lebte ehelos, damit die Menschen glauben konnten, dass Jesus es ernst meint mit Gottes zukünftiger Ehe mit seinem Volk.“

Jesus hielt sich demnach durch seine Ehelosigkeit für die endzeitliche Vermählung von Gott und Glaubensvolk bereit – gerade so wollen es auch seine priesterlichen Nachahmer halten. „Die Neigung zu geistlicher Ehelosigkeit“, fährt Klaus Berger fort, „wächst mit dem Glauben an die Auferstehung.“ Könnte es sein, dass der Sinn für den Zölibat verloren ging, weil kaum noch jemand an die Auferstehung glaubt?

Missbrauch und Missbrauch

Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich, täglich herrlicher werden die Zeiten. Im Minutentakt lassen sich Meinungen in die Welt hinaus trompeten, die ohne Gedankenarbeit aus dem Griffel perlen. Bisher war es so: Man hat eine Ahnung und eine Absicht, aber partout keinen Schimmer. Also muss man mit Leuten reden, die sich auskennen, muss durch Bücher sich quälen, denken, formulieren, überdenken, und am Ende bleibt dann vielleicht von der ganzen schönen Absicht ein Schweigen. Man hat sich geirrt, nun weiß man es besser. Riskant ist das Denken auf eigene Rechnung.

Wie anders geht es heute zu. Das Denken lähmt nicht das Reden, wunderbar leicht, losgekettet von jeglichen Gedankens Schwere, hat das Plappern befreiende, ja moralische Kräfte. Ein Wort, das auf absolut verwerfliche Umstände deutet, hat das Reden entriegelt: Missbrauch. Weil eben jener sich in katholischen und evangelischen und säkularen Bildungseinrichtungen ereignet hat, vor allem aber offenbar in römisch-katholischen, darf nun jeder und jede der Rechthaberei die Zügel schießen lassen.

Eine Zeitung titelte: „Kirche in ihrer schwersten Krise“. Ergo waren die Kirchenspaltungen von 1054 und 1517 heitere Randnotizen, ergo sorgten auch Kreuzzug und Dreißigjähriger Krieg für Kriselchen, allerhöchstens. Eine andere Zeitung forderte, überführte Priester dürften keine Priester mehr sein – als ließe sich das Weihesakrament, das eben mehr ist als ein unverbindlicher Berufseinstieg, abwaschen.

Der neckischste Witz aber gelang jener Agentur, die eine Meldung mit der Zeile überschrieb: „‘Wir sind Kirche‘ setzt Papst Benedikt unter Druck“. Bekanntlich handelt es sich bei dem als „Basisbewegung“ titulierten Verein um einen Seniorenlesezirkel, der sich an den Stellungnahmen seines Sprechers Christian Weisner und dessen politischer Theologie erfreut. Ähnlich ernsthaft wäre eine Schlagzeile der Art, „Gemeinderat von Neutraubling fordert Barack Obama zum Rücktritt auf.“

Auch der kaschubische Großdichter Grass weiß, was die Stunde geschlagen hat. Die katholische „Sündenauffassung innerhalb des Sexualbereiches, diese Verklemmtheit“ habe „Fälle zur Folge, wie sie jetzt ans Licht kommen“. Der Erwerb etwa eines Handbuchs theologischer Fachbegriffe oder des Katechismus sei dem Pfeifenschmaucher und Potenzlyriker empfohlen. Und hätte nicht ein festeres Bewusstsein der eigenen Sündenhaftigkeit, eine stabilere Sexualmoral manchen Kleriker vor Abirrungen bewahren können?

Eine Gesellschaft, die jede Hoffnung auf Lauterkeit aufgegeben hat, weil sie selbst sie nicht durchhält, will die einzig verbliebene Gegengesellschaft auf den Pfad der eigenen moralischen Anspruchslosigkeit zwingen. Die Wegweiser sollen fallen, weil man selbst gerne querfeldein unterwegs ist, die Ampeln und Stoppschilder verschwinden, weil man selbst gerne tüchtig auf die Tube drückt. Da soll nichts mehr sein, was das Ich hemmen könnte in seinem Drange.

Keine Frage: Jedes einzige Vergehen ist eines zu viel, jede einzige Untat verlangt nach Recht und Sühne, nach Reue und Bestrafung. Wer lügt, trickst, vertuscht, der potenziert das Leid, der wird zum Handlanger des Bösen, der schließt sich selbst aus jener Gemeinschaft aus, der er formal noch angehört. Die inflationäre Rede aber vom Missbrauch hat längst missbräuchliche Züge. Das Wort wird Tabuwort, das zudeckt, nicht aufdeckt. Es bündelt einerseits viel zu viele verschiedengestaltige Phänomene, als dass es erklärenden Charakter hätte.

Andererseits trägt es eine Unwucht in sich. Was nämlich wäre sein Gegenstück? Wenn der Missbrauch von Menschen – woran kein Zweifel besteht – schlecht ist, wäre dann der Gebrauch gut? Kann man Menschen gebrauchen oder missbrauchen, je nach dem Stand des eigenen ethischen Projekts? Sind beides also relative Größen, die auf einen mal mehr, mal weniger angemessenen zwischenmenschlichen Umgang deuten?

Nein. Menschen sind keine Sachen, auch der Gebrauch wird ihnen nicht gerecht. Das Chiffrewort ist Ausdruck eines falschen Denkens. Es muss für Schuldzuweisungen und Differenzierungsverbote herhalten, weil es unschicklich scheint, eine böse Tat als böse auszusprechen. Das ungeachtet aller Umstände Böse, das in sich Böse, mit dem die Täter, christlich gesprochen, sich ihr eigenes Gericht bereiten, soll mit ein und demselben Ersatzwort relativiert und perpetuiert werden.

Die böse Tat wird zum „Missbrauchsfall“ umetikettiert und damit zum rein säkularen Phänomen. In den Kernbereich des Christlichen, den Umgang mit Schuld, Sühne und Vergebung vor Gott, will die Diesseitsmoral eindringen.
Die Lektion soll lauten: Eine solchermaßen entkernte Religion braucht kein Mensch, ja darf kein Mensch mehr brauchen. Wir, die mobile Einsatztruppe des richtigen Verhaltens, müssen am moralischen Herzen dieser Sinnstiftungsagentur operieren, um Schaden von der Welt abzuhalten. Die Operation gelänge, wenn der Patient stürbe.

Es liegt nun an den Christen selbst, ob sie diese Angriffe im Gewand des Heilens und Helfens ebenso mutig wie selbstkritisch parieren. Sonst gibt es eine Alternative weniger zu den Dogmen der Diesseitigkeit und den Gelübden der Selbstverdummung.

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