Monthly Archives: August 2011

Kuh Yvonne und andere Kulte

Das hat im Portfolio der neuen säkularen Götter noch gefehlt: eine „Kult-Kuh“. Die Lücke schloss „Yvonne“. Der scheue Wiederkäuer hält seit Wochen die Boulevardpresse in Atem. Die „Kuh, die ein Reh sein will,“ büxte bereits im Mai aus, entkam dem Schlachter und ward seitdem nicht mehr gefunden. Wie sie wohl enden wird? Wir werden es todsicher erfahren.
An „Stil-Ikonen“ herrscht schon lange kein Mangel. Jedes zweite Starlet und jede dritte Nebenrollenfilmschauspielerin taugt zu diesem Attribut. Verena Pooth, geschiedene Bohlen, gilt neuerdings als „Werbe-Ikone“. Sprach ich schon vom „Kult-Kaiser“, dem nachgemachten Franz Beckenbauer in der Persiflage des Komikers Matze Knop? Und ganz ohne Frage verdient auch jeder Film das kultige Präfix, sobald er von mehr Leuten gesehen als produziert worden ist.

 

Gleiches gilt von Cocktails, die zur selben Zeit in derselben Stadt dutzendfach getrunken werden, und von Liedern, die in vielen Diskotheken parallel aus den Boxen dröhnen, und von Kleidern, die plötzlich jeder haben will: alles Kult. Selbst beim Kauf von Rasierklingen für Damen geht es gegenweltlich zu. Sie hören auf den Namen „Mystique“.
Den Klimax aber der Selbst- und Fremdverblödung durch religiöse Rhetorik erklomm souverän die linke Tageszeitung „tageszeitung“. Journalist Falk Lüke betextete den Wechsel an der Spitze eines US-amerikanischen Kommunikationskonzerns mit den berückend verrückten Worten: „Apple heißt Schönheit. Apple heißt Fortschritt. Apple heißt: Das, was selten nervt. Und Apple heißt: Kult.“ Zum Anbeter von Mobiltelefonen wird der Journalist, nachdem alle nicht-säkulare Anbetung journalistisch zum Teufel gejagt worden ist.
Ohne Kult ist kein Auskommen in spätmodern agnostischer Zeit. Ohne Ikonen und Mythen klingeln die Kassen zu leise. Wie kommt das? Zum einen ist die inflationäre Rede ein Verkaufstrick, ein Etikett an vermeintlich heißer Ware, ein Stempel für Massenkompatibilität. Kult soll sein, was alle kaufen, woran alle teilhaben dürfen.

 

Am liturgischen Kult hatte und hat das ganze Volk Gottes teil; er kulminierte und kulminiert in der punktuellen Verwandlung des Alltags, dessen auch dinglich fassbarer Entrückung in eine höhere Sphäre. Der „Kult“ um die „Ikonen“ soll auf vergleichbare Weise – durch Kauf, nicht Gebetshandlung – eine tendenziell unendlich große Gruppe um das jeweilige Ding- und Kaufsymbol versammeln, damit dieses jene momentweise transzendiere. So werden aus großen Erfahrungen kleine Mythen und schließlich billige Münzen.
Zum anderen hat in der überspringenden Sprache ein globales Menschheitswissen seine feste Stätte. Die Sprache bewahrt, wenn auch an meist untauglichen Objekten, die Einsicht, dass zur conditio humana das Ausstrecken nach dem, was droben ist, immer gehört. Und dass die Erfahrung des inkommensurabel Besonderen dem Menschen zustößt, ihn trifft, ihn anfällt aus Höhen, die nicht er geschaffen hat. Mit einem Wort: dass der Mensch in der Lage ist, ganz aus sich heraus zu treten, ohne für immer entrückt zu werden. Genau mit diesem falschen Versprechen treten die „Kult“-Produzenten auf den Markt.
In der kompensatorischen Rede sitzt also und wartet und lauert das uneingestandene Erlösungsbedürfnis – solange, bis ein neues Geschlecht die alten Fragen wieder zu stellen wird wissen.

Martin Mosebach feiert Geburtstag

Im Juli, der ein November war, taufte Berlin seine Besucher. Wasser peitschte die Menschlein, Wasser kroch die Beine empor, Wasser schlug ins Gesicht, machte die Gassen zu Kanälen und die Straßen zu Flüssen und ganz Berlin zum Binnenhafen. Es regnete, es rann, es tropfte zwei Tage ohne Unterlass. Zwischen Regensturm und Sturmregen lud Martin Mosebach in die herrschaftliche Villa des „Wissenschaftskollegs“ nach Grunewald. Sein sechzigster Geburtstag stand zu feiern an.

 

Mosebach hatte 2009/2010 ein akademisches Jahr als „Fellow“ ebendort verbracht, in der 1910 errichteten „Villa Linde“, wohin nun die Taxis und Privatwagen strömten, aus denen Regenschirme sich wanden und Regenschirmträger von menschlicher Gestalt. Hier hatte er in unseren leidenschaftslosen Zeiten an seinem Roman „Was davor geschah“ gearbeitet, hier hatte er den Hundekehlesee kennen und lieben gelernt. Das Gewässer nämlich mit dem bizarren Namen, der „Kunstsee“, wie Mosebach ihn nun nannte, konnte mit „authentischem Meeresrauschen“ prunken, erzeugt von der nahegelegenen sechsspurigen Stadtautobahn.

 

Martin Mosebachs Begrüßungsrede vor rund 130 geladenen Gästen, Schriftstellern und Künstlern und Wissenschaftlern und Verlagsleuten und Journalisten und Priestern, gab ein Muster ab für die typisch nationalfrankfurterische Eigenschaft der Beiläufigkeit. Der gebürtige und leidenschaftliche Frankfurter Mosebach ist bekanntlich überzeugt, dass im Gewand jeder anderen Region Deutschland unvorteilhaft angezogen wäre. So stand denn nun, in tiefschwarzer Regennacht, Martin Mosebach vor keiner kleinen Aufgabe: Wie lobt man Berlin und die gastgebenden Berliner, ohne sich an der Heimatstadt zu versündigen?

 

Martin Mosebach wählte den denkbar elegantesten Weg. Er fragte, links vom Flügel im Vortragssaal zu ebener Ebene, „wofür steht Berlin?“ und gab sich und uns Massenmenschen die Antwort: „Niemandsland und Deutschland gehen hier zusammen und bilden ein neuartiges, noch nicht definiertes Drittes. (…) Wir zogen in die Stadt, und die Stadt zog zu uns.“ Berlin wäre demnach eine Hauptstadt ganz eigener Art. Sie bündelt ein Land, das sie selbst transzendiert, ist Zentrum und zugleich programmatisch Peripherie, mehr Zustand denn Ort, mehr Ausblick als Stätte. Gerade so, folgerte Mosebach, gelang es Berlin, „uns in Frankfurt zu entwurzeln.“ Wurzellosigkeit sei die vornehmste Frucht des Berliner Jahres.

 

Zu den Heimatländern der Seele müssen wir demnach Berlin rechnen, die schroffe Metropole. Der damals eröffnete und vollendete „Kreis aus Licht, Dunst und Wasser“ machte den Dichter aber nicht sentimental. Auch den Ehrengreisen unter den Gästen gab Mosebach keine Gelegenheit zur Rührung. Er dankte den Verlegern, die er ja „sammele“, erinnerte an sein „erfolgreichstes Buch“, die „Häresie der Formlosigkeit“, und wies voraus auf den „bis zum Rand gefüllten Speisesaal“ im Souterrain. Um dort es bequem auszuhalten, möge man sich bitte vorstellen, man sei gerettet, unten dann.

 

Sodann laudatierte ein Lektor mit leiser Stimme, während seine Finger sich an einem Tanz in den Lüften versuchten, auf und ab glitten, sich verknäulten, sich lösten und von neuem ineinander fuhren. Rudolf Borchardt, sagte der leise Lektor, habe den hypochondrisch begabten Hugo von Hofmannstahl an dessen 50. Geburtstag mit der Bemerkung getröstet: „Man wird nicht ohne Schmerzen historisch.“ Auf dem „Weg des Historischwerdens“ befinde sich längst Martin Mosebach.

 

Es folgte ein junger Pianist chinesischer Abstimmung, der am Flügel Satie (erste „Gymnopédie“), Johann Sebastian Bach („Komm der Heiden Heiland“ in Busonis Bearbeitung) und Messiaen sehr einnehmend darbot. Das letzte Stück, „Kuss des Jesuskindes“ aus den „20 Betrachtungen des Jesuskindes“, schichtet schrille, hohe, gleichförmig wiederholte Tonfolgen auf einen Grund aus zarten Harmonien, um dann in langsamen Kaskaden zu enden: scheue Frühlingsschritte auf feuchtem Gras. Draußen gaben Nacht und Regen derweil keinen Blick frei auf den Villengarten mit Rhododendron, Tanne, Apfelbaum.

 

Von den Gesprächen im Souterrain schweigt des Chronisten Höflichkeit, der Spielraum der Freiheit ist ohnehin klein bemessen. Nur soviel sei gesagt, dass tatsächlich, wie Mosebach schelmisch ankündigte, „Erfrischungen gereicht“ wurden. Um Mitternacht gratulierte die singende Schar. Und die Fluten stürzten draußen herab, tauften die dort Rauchenden aufs Neue. Die Natur spielt bekanntlich ihre Symphonie in voller Besetzung auch vor zerstreutem Publikum.

 

Der folgende Tag war der siebte Sonntag nach Pfingsten. In der alten Messordnung im klassischen Ritus, dem auch der Geehrte beiwohnte, heißt es im Graduale, accedite ad eum, et illuminamini – nahet euch ihm, ihr sollt strahlen vor Freude. Allein der Regen ließ sich nicht bekehren und begrub Berlin weiter unter sich.

 

So endete das hohe Fest rein äußerlich ganz so, wie es begonnen hatte. Und obwohl vermutlich das Leben eine Anhäufung aus Gemeinheiten und Enttäuschungen geblieben war, verließen die Gäste Berlin heiterer, als sie gekommen waren.

 

 

(Die kursiv gesetzten Zitate entstammen dem Roman „Westend“)

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