Woran erkennt man einen konservativen Revolutionär? Was hätte er zu tun, wäre er keine bloß historische Erscheinung? Er müsste im Widerspruch stehen zur Mehrheitsmeinung, zum Zeitgeist aus wohlüberlegten Gründen. Er müsste die Gegenwart so sehr lieben, dass er sie umstürzen wollte mit Mitteln, die ihm die Vergangenheit an die Hand gibt. Er müsste durchdrungen haben, was er ablehnt, und begehren, was war, und also in etwa so reden, wie es zum „Aschermittwoch der Künstler“ Martin Mosebach in der Münchner Muffathalle tat.

Eingeladen hatte der Erzbischof und Kardinal, gekommen waren Künstler und Bistumsbeschäftigte und Öffentlichkeitsarbeiter, standen in der sonst für Pop- und Rockkonzerte genutzten Halle an Bistrotischen, auf denen kleine Brezeln, Brot und Brötchen und Wasser im Glas aufruhten. An den Hallenwänden, weit oben, hingen zu beiden Seiten Monitore. Sie zeigten später dunkle Farben im Fluss, Blau dominierte. Vorne gab es Stühle für die geladene und mitunter betagte Kirchenprominenz, davor eine Bühne, darüber eine Leinwand. Sie bot einem etwa zehnminütigen Film das Ziel, der festhielt, wie eine Tanzcompanie im Münchner Liebfrauendom einmal Asche zu Boden geworfen und darauf getanzt hatte.

Als es hell wurde in der Halle, legte Mosebach sein „Lob der Lourdes-Madonna“ dar: ein kühnes Unterfangen. Die Lourdes-Madonna hat keinen guten Ruf unter jenen „gebildeten, kunstliebenden, lesenden Menschen“, eben „in unserem Milieu“, das Mosebach jetzt als seine Herkunft benannte und das wohl die Mehrheit in der Halle bildete.

Auch die von Mosebach im Vortrag kritisierten „westeuropäischen Liturgieexperten des zwanzigsten Jahrhunderts“, selbst die gleichfalls kritisierten „oberen Etagen der Hierarchie, Päpstlichen Räte für die Kunst und ähnlichen ehrwürdigen Institutionen“ haben ihr Urteil gesprochen: Die Lourdes-Madonna sei Kitsch und darum abzulehnen.

Mosebach kämpfte gegen dieses Urteil nicht an, sondern nahm es ernst. Ja, das mag wohl sein – doch wie kommt es dann, so die listige Überlegung des Dichters, dass dieselben Experten und Räte und Hierarchen sich mit anderen Formen des Kitsches gar nicht schwer tun? Namentlich mit dem kahlen und dem sauren und dem grünen Kitsch, mit dem Betroffenheits- und Authentizitätskitsch?

Über „moderne Betonkirchen“ echauffiert sich kaum ein zeitgenössischer Kunst- und/oder Kirchenkunstexperte. Dort wird vielmehr das „kleine, zart geschminkte Puppengesicht“ der Lourdes-Madonna zum Zeichen des Widerstands. Mit ihr begehrt das „gläubige Volk“ auf gegen den verordneten „Individualismus und Subjektivismus“, an den die kirchliche Kunst ausgeliefert worden sei. Mit der Lourdes-Madonna rebelliert die Volksfrömmigkeit wider den Zwang zur Abstraktion und praktiziert so eine machtvolle „Re-Ikonisierung“ von unten. Die Lourdes-Madonna sei „die Ikone des Westens.“

Was zeichnet eine Ikone aus? Dass sie keiner Erfindung eines Künstlers sich verdankt, gar keine Kunst sein will, sondern göttlichen Ursprungs ist. So verhält es sich bei den Ikonen des Ostens, die auf das „Tuch der Tücher“ mit Jesu Antlitz zurückgehen, so ist es bei der Ikone des Westens, die in den Visionen der Bernadette Soubirous von 1858 ihren Anfang nahm. Wo seither „die Lourdes-Madonna steht, ist die katholische Kirche. Angesichts solcher Durchsetzungsgewalt – und wie sanft ist diese Gewalt! – schnurrt jedes Geschmacksurteil über sie zum höchst belanglosen persönlichen Schön- oder Hässlichfinden zusammen.“

Außerdem ist eine Ikone stets nach „strengen Gesetzen“ gearbeitet, ist „immer eine andere und immer dieselbe“, verbannt alles Zufällige zugunsten fest gebundener Formen, hat demnach einen geradezu antisubjektivistischen Zug; so auch die Lourdes-Madonna. Als bewusste Absage an den Individualismus werden die Ikonen vom Volk verehrt, von den Theologen und Künstlern des Westens aber beargwöhnt.

Dergestalt heilt die Lourdes-Madonna laut Mosebach einen kulturgeschichtlichen Bruch. Mit der weißen Frau in der Beterpose, den Rosenkranz über den gefalteten Händen tragend, ende ein fast tausendjähriger westlicher Sonderweg, die Abkehr von der „Tradition der Bilder der alten Kirche.“ Daraus darf man wohl folgern: Die oft belächelte Lourdes-Madonna nimmt eine Einheit vorweg, die es theologisch (noch) nicht gibt. Sie ist das Unterpfand der Hoffnung auf eine Versöhnung von westlicher und östlicher Kirche, von Katholizismus und Orthodoxie, letztlich deren vorauseilende Realpräsenz. Spe salvi.

Und dass sie industriell vom Band läuft, die lächelnde Frau, aus Gips meist nur ist, spricht etwa nicht gegen sie? Mosebach schloss mit dem kristallenen Satz: Ja, eine Massenprodukt sei sie durchaus, die Lourdes-Madonna, aber „wer wagt es zu behaupten, wir hätten Besseres verdient?“