Monthly Archives: August 2019

Igor, Elena und ich

Die Menge teilte sich, als Igor Dodon hinab stieg. Und schloss sich gleich wieder um ihn, vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Er war der Magnet, der einen engen Kreis der Anziehung schuf, einen wandernden Kreis. Mütter drängten sich zu ihm vor, riefen nach ihren Kindern, die aus dem Dunkel gereicht wurden, sich schüchtern, aber schnell in den Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit stahlen. Väter schoben ihre Wange in Igor Dodons Atemnähe, damit der Sohnemann, hart dahinter, den Rahmen des Smartphonefotos nicht sprenge. Babuschkas, ganz ohne Handy, den Haarkranz unter einem bunten Tuch, die Beine unter einem breiten Rock verborgen, verbeugten sich tief, griffen nach Igor Dodons Hand, wollten sie küssen, taten es vielleicht, die Schwerkraft zog sie zu Boden. Igor Dodon strahlte durch den Rücken nach hinten. Dort stand ich, 100 Zentimeter vom Staatspräsidenten der Republik Moldau entfernt, an einem Samstagabend im August, in Chisinau, und es war sehr warm.

Foto: A. Kissler

Die Präsident hatte geladen, und die halbe Hauptstadt schien auf den Beinen. Der Boulevard des Großen und Heiligen Stefan war vor dem Regierungspalast gesperrt, eine Bühne aufgebaut worden, groß genug für eine Hundertschaft von Chören, Musikern, Sängern, eine Moderatorin, einen Moderator. Feierlicher Ernst stieg aus den Darbietungen zum Himmel hoch. Stockende Rhythmen, nach dramatischen Pausen neu zusammengebunden, jubilierende Akkorde, vor dem Höhepunkt abgebrochen, breite Bögen, kraftvoll im Ab und Auf und Ab, Texte zwischen Deklamation und Credo, ironiefrei, schnell im Ausrufezeichen endend. Man sprach auf der Bühne viel Russisch in der freien Republik Moldau, deren Amtssprache das Rumänische ist, aus einem historischen Anlass. Er stand im ovalen Bogen über dem Bühnengestell: „75 Jahre Befreiung von der faschistischen Besatzung“.

Im Juli 1941 war das damalige Bessarabien von rumänisch-deutschen Truppen besetzt worden, zuvor war es eine sozialistische Sowjetrepublik gewesen, Landkollektivierung und Zwangsumsiedlungen inklusive. Unter den neuen Herren gab es dann Pogrome und Todesmärsche. Eine aufwendige Dokumentation zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wird an diesem lauen Augustsamstag auf der großen Bühne gezeigt. Am 20. August 1944 sorgte die 75 Jahre später immer wieder als zeitlicher Index eingeblendete „Operation Iasi-Chisinau“ für die sowjetische Rückeroberung. Igor Dodon, an dessen Nähe zu Russland niemand zweifeln darf, wird von Frieden sprechen in seiner kurzen Rede auf der Bühne später und vom deutschen Faschismus.

Was aber sind fest gesetzte Worte gegen Silben wie Pfeile, Blicke wie Donner, Töne wie Salven, gegen Elena also? Elena Vaenga trat auf, als die Nacht so schwarz geworden war wie das knielange Kleid, das sie trug, eine Uniform fast, die schwarzen Haare streng nach hinten gebunden. Dem Star aus Russland war nicht zum Lachen zumute. Sie war die Frau, mit der nicht zu spaßen ist, Mnemosyne und Demeter zugleich. Sie besang „Leningrad“ und das siegreiche „Bataillon“, stampfende Märsche, die sich zuverlässig emporschraubten zum eruptiven Ende. Hinter ihr, auf der großen Leinwand, robbten Soldaten durch eine Ebene, auf die Bomben niedergingen, fuhr die Kamera an Soldatengesichtern unter schwerem Helm vorbei. So war das gewesen mit der ruhmreichen Sowjetarmee.

Foto: A. Kissler

Auf kleineren Monitoren rechts und links liefen in Endlosschleife Mahnmäler, trauernde Männer mit Maschinengewehren, kämpfende Männer mit Granaten, Gesten der Vergeblichkeit nach bitterer Schlacht, Arme fallen schwer zu Boden, Panzer im gefrorenen Tanz auf brüchigem Grund, kantige Gesichter in rotem Beton, grauem Stein, schwarzem Granit. Heldengedenken, Totengedenken, Männergedenken. Elena sang, ihr zwölfköpfiges Orchester blies sich die Backen wund, zupfte die Saiten heiß, ließ das Akkordeon glühen. Pace. Leningrad. Mir.

Nach einem Solo für zwölf Orchestermänner und drei Chorsängerinnen entpuppte sich Mnemosyne als Demeter. Elena war zurück auf der Bühne, nun aber im weißem Kleid, das körperfüllend einen goldenen Pokal zeigte mit überquellenden Früchten der Erde, Blumen und Weizen und Obst, vielen Rosen. Sie wollte nicht mehr erinnern an Schlimmes, sondern künftiges Glück nähren. Sie wollte tanzen und singen, Spaß haben, Freude. Die ährenbindende war die fruchtbringende Frau geworden. Welch Rollentausch, welch Stilwechsel. Salsa erklang nun, Funk, Pop, auf der Leinwand drehten sich bunte Chakren im jagenden Kreis, das Leben ein Fest aus Farbe und Flamme, endlich auch hier. Igor Dodon kam zum zweiten Mal auf die Bühne, überreichte dem Stargast einen Strauß mit dreißig sehr langstieligen Rosen. Deren zwei fielen prompt zu Boden. Überfluss war alles und Gelächter und Heiterkeit.

Foto: A. Kissler

Ein Feuerwerk explodierte über dem Regierungspalast, Vivaldi erklang, Beethoven jubilierte. Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Die Smartphones waren weit nach oben gerichtet, ein Oh, ein Ah, ein Gold und ein Blau und ein Rot und noch einmal von vorne, bis die Bühne leer war und nur noch der Himmel tanzte. Dann war auch das vorbei, die Menge trollte sich beseelt. Vom Stadtpark drang eine leichtere Weise herüber, junge Leute spielten Folkmusik, griffen zur Gitarre, Nicoleta Plămădeală sang betörend, kraftvoll und schattiert, eine Stimme wie Haley Heynderickx. Warm war es noch immer an diesem Samstagabend im August, in Chisinau.

Foto: A. Kissler

Nachhaltigkeit

Mein altes Lexikon ist dumm. Es kann nichts dafür, denn es stammt von 1984. Und damals reichte es vollkommen, hinter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ einen Pfeil zu platzieren, der weiterleitete zu „Holzeinschlag“. Der Eintrag für „Holzeinschlag“ klärte dann auf: „In einer geordneten Holzwirtschaft ist der Holzeinschlag streng an die Nachhaltigkeit gebunden, das heißt, es darf jährlich nur so viel Holz im Wald eingeschlagen werden, wie der Zuwachs beträgt.“

Foto: H. P. Rabit

Glückliche Zeiten waren das, anno 1984, als die Nachhaltigkeit streng begrenzt war auf den Raum der Natur, des Waldes, des Holzes. Mein Lexikon hätte nicht zu träumen gewagt, dass eines fernen Tages Nachhaltigkeit zum Etikett werden würde, das man jeder Erscheinung der belebten oder der unbelebten Natur verpassen kann. Es bezeichnet nicht mehr die schonende Bestandspflege der Bäume unter industriellen Bedingungen, sondern etwas ungleich Simpleres: die lange Dauer.

Nachhaltig soll heute alles sein: der Abbau von Schulden ebenso wie der Aufbau von Elektromobilität. Der Konsum und der Tourismus. Die Politik und die Wirtschaft. Der Sport und der Joghurt. Wir werden ermahnt, nachhaltig zu shoppen, nachhaltig zu reisen, nachhaltig zu essen, nachhaltig zu duschen, nachhaltig zu lieben. Der entgrenzte Begriff dient einem moralischen Imperativ: Handle stets so, dass dein Tun in einer möglichst weitreichenden Zukunft möglichst wenig negative Spuren hinterlässt.

An einem solchen Konzept ist einerseits nichts zu tadeln – andererseits büßt es in rhetorischer Endlosschleife seinen Ernst ein, nachhaltig sozusagen. Wer auf allen Feldern an Nachhaltigkeit appelliert, entwertet den Grundsatz, den er verwirklichen will. Es ist schlicht unmöglich, jedes Handeln an der Elle zukünftiger Folgenminimierung zu messen. Folgen sind oft unkalkulierbar, und eine Nachhaltigkeit hier kann geradewegs in die Mittelverschwendung dort führen. Wie etwa sollte man umgehen mit jenem Batterieschrott, veritablem Sondermüll, den flächendeckende Elektromobilität verursachte?

Vor allem aber halten die Nachhaltigkeitsapostel sich zu selten an das erste Nachhaltigkeitsgebot überhaupt: Rede stets so, dass deine Worte einen klaren Sinn haben und ihn auch in Zukunft behalten werden. Die Wette wag‘ ich: In dreißig Jahren wird kein Lexikon mehr wissen, was in die seltsamen Menschen des Jahres 2019 gefahren war, die nicht wussten, wohin die Reise gehen soll, wohl aber, dass es nachhaltig geschehen müsse – unbedingt. 

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