Er sei da gar nicht involviert. Aber auch kein Einzelfall. Und noch nie im Krankenhaus gewesen. Außer vielleicht bei seiner Geburt. Da sei er sich nicht sicher. Nun aber das: 60 Stunden habe man ihn unbehandelt gelassen im Waldkrankenhaus. Mit Menschenwürde habe das nichts zu tun. 60 Stunden, die letzten ohne Nahrung, ohne Wasser. Es gebe Zeugen. Der Arzt, nur am Umsatz interessiert, ein arrogantes Arschloch. Die Schwestern nicht ansprechbar. Man habe ihm gedroht. Das Bein müsste vielleicht abgenommen werden. Lachhaft. Wegen drei Insektenstichen. Als er sich beschwerte, drohte der Arzt ihm erneut. Er werde dafür sorgen, dass er an keinem Berliner Krankenhaus aufgenommen werde. Natürlich sei er da eingeschüchtert gewesen. Nirgends werde man in dieser Stadt gefördert. In Prag, wo er gerade herkomme, sei das ganz anders. Er sei dann davon gehumpelt, unbehandelt, habe sich eine Plastiktüte über den malträtierten Fuß gestülpt.

Ob er noch einmal kurz rekapitulieren dürfe, was da eben vorgefallen sei, bitte schön? Der Mann im Oberdeck des zum Bahnhof Zoo fahrenden Busses griff sich in seine Haare, dünne, glänzende Strähnen, verschieden lang über den Ohren herabhängend. Er war unrasiert. Schwärze unter den Fingernägeln. Vielleicht 56, vielleicht 62 Jahre alt. Seine Stimme tönte voll, war Monologe gewöhnt. Zwei Kopfhörerknöpfe steckten in den Ohren, ein Ring nur im linken. Die Krücke hatte er auf den Platz neben sich gelegt.

Dort baumelte auch, leicht angewinkelt, der lädierte Fuß. Er habe ihn selbst verbunden, das habe einen Tag gedauert. Durch die Stadt zu laufen, diese riesige feindselige Stadt, und sich alles zusammenzusuchen. Er habe ja keine Erfahrung darin. Verbandszeug, Pflaster, Schere. In sieben Schuhgeschäften sei er gewesen, ergebnislos. Kein einziger Schuh wollte über seinen geschwollenen Fuß passen. Die Leute hätten Reißaus genommen, des Gestanks wegen. Das sei nun glücklich überwunden. Er hinke nur noch. So habe ja diese ganze Misere heute angefangen. Er rekapituliere jetzt noch einmal kurz.

Doch da stand die Fahrerin des Busses schon im Gang und schrie ihn an. Ihre Borstenhaare, gelb gefärbt, waren der Schmuck eines Totems, der die Götter des Untergangs heraufbeschwor. Ob er jetzt endlich Ruhe gebe! Sie habe hier das Sagen, „und wenn du nicht sofort ruhig bist, fliegst du hier raus, kapiert?“ Der Totem verfärbte sich ins dunklere Gelb. Sie wäre bereit gewesen, die schmächtige Wütende, den humpelnden Mann eigenhändig durch den Notausstieg zu werfen. Oder war sie an den Falschen geraten? Sehr laut wurde der augenblicklich wieder, wie vorhin, als alles begonnen hatte: Ob er sich hier duzen lassen müsse? Er spreche 12 Sprachen und sei promoviert. Was sie sich erlaube, ihn so anzugehen. 

Er habe vorhin nur die Passagierin gegenüber darauf hingewiesen, dass er humpele. Höflich. Eine rücksichtsvolle Geste sei das gewesen. Dass er von drei Insekten gestochen worden und unsicher auf den Beinen sei. Wenn diese Frau ihm solche Rücksichtnahme schlecht vergelte und ihren Platz wechsele, sei das diskriminierend und typisch für dieses schlimme Berlin, wo jeder sich in die Angelegenheit anderer einmische, aber niemand einander helfe, niemand ihn unterstütze. „I have the right to complain“, donnerte er der Fahrerin entgegen, die sich mit Blicken und Silben wie von Hera revanchierte. „Noch ein Ton und du fliegst!“ Es hätte eskalieren können. 

Zur Wahrheit gehöre natürlich auch, sagte der große Mann im dünnen Mantel, indem er sich zum Fahrgast hinter ihm wandte und die „Proletentussi“ keines Blickes mehr würdigte, dass er in Marburg studiert habe, Kunstgeschichte, ein Künstler sei und also sensibel, bitte schön. Dafür habe Berlin natürlich kein Verständnis. In Dahlem liefen alle mit diesen Samsung-Boxen herum. Kein Wunder, dass die da verrückt werden.

Neulich erst, vor seinen Augen, landete ein Hubschrauber am Bahnhof, vier Polizisten sprangen aus dem Gebüsch, locker die Pistolen um die Hüfte geschwungen. Eine Frau aus ihren Reihen habe ihm mehrfach auf die Brust geschlagen. Da frage er sich: Warum? Gehe man so mit Menschen um? Er habe einige Tage im Freien schlafen müssen, sein ganzes Geld sei weg. Aber sei das ein Grund? Als er sein Cello abholen wollte aus der Gepäckaufbewahrung, erklärte man ihm dreist, das Fach sei aufgebrochen worden und leer gewesen, aber er habe Zeugen.

Seine tschechische Freundin sei schließlich die zweitreichste Frau des Landes, zweieinhalb Milliarden schwer, nach dem Ministerpräsidenten, „Babitsch oder so“, der habe wohl vier Milliarden. In Tschechien habe er im Keller eines Schiebers echte Picassos gesehen, „12 Stück oder so“, und einen echten Braque. Alle gestohlen natürlich. Beutegut. Und ganz andere Gemälde noch. Wenn man da jeden Monat nur eines für 20000 Euro verkaufe, könne man gut davon leben. Er sprach nun tatsächlich, das erste Mal an diesem Freitagmorgen, in Zimmerlautstärke. Seltener nur drehten sich die anderen Fahrgäste nach ihm um. Der Sicherheitsabstand aber blieb gewahrt. Er hatte sich ein eigenes Reich von sieben leeren Reihen ertrotzt, erkämpft, erschrien. Im Reden war er König. Wer wollte es da mit ihm aufnehmen? Er versprach sich nie.

Angefangen hatte alles mit den Kurzgeschichten eines Zwölfjährigen. Er durfte sie vorlesen, als einer von nur zwei Jungs. Und der andere war, „da kommen Sie jetzt nie drauf“, ein Nachfahre Rippentropps, ein Alexander. Der las auf der großen Bühne. Der schreibe auch heute noch – Alban Nikolai Herbst nennt er sich. Das habe ihn damals im Alter von zwölf Jahren beklommen gemacht, und so blieb für ihn nur eine Besenkammer zum Vortrag, „ich übertreibe jetzt. Nennen wir es doch une chambre privée, das klingt dann gleich nach Proust.“ Da lachte er kurz meckernd auf, und die Strähnen zitterten. 

Jammerschade wirklich, dass er seine tschechische Freundin gerade nicht erreichen könne. Sie lebe auf einem abgeschiedenen Areal, zu Ostblockzeiten völlig unzugänglich und noch heute ohne Telefon. Da wäre vieles jetzt leichter, sagte er, als draußen gerade die Sonne im Triumphzug die Wolken besiegt hatte. In Prag habe er einmal Karlheinz Böhm getroffen, den Schauspieler, „auch ein alter Nazi“. Und Franco Nero, den Mann von Vanessa Redgrave, das wüssten ja die wenigsten. Der Nero und die Redgrave, was ein Paar. Er lachte in sich hinein. 

Damals habe er die Menge zum Rasen gebracht, das sei unglaublich gewesen. Mit seinem Kontrabass, seinem E-Bass, seinem Piccolo-Bass, einfach unglaublich. Mit dem Drummer von Michael Jackson habe er gespielt, es gebe Aufnahmen. Heute sei er solo unterwegs. Mit dem Drumcomputer. Und dazu live sein Bass. Das verlerne man nicht. 

Hier in Berlin fördere einen niemand. Und da rede er jetzt nur von der ersten Instanz. Es ginge ja gar nicht um ihn. Er sei nur ein Symptom. Überall nähmen die Verrückten überhand, Erdogan, der Nordkoreaner, Trump. Er sei da letztlich gar nicht involviert. Aber nun natürlich verängstigt. Wie damals im chambre privée, wo er seine ersten Texte las, die später dann Volker Lechtenbrink aufgenommen habe. Verängstigt, eingeschüchtert, das schon. In diesem verdammten Berlin.