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Corona und der Abschied vom Weltbürgertum

Hat es Sinn, viele Worte und manchen Gedanken an die Corona-Krise zu verschwenden? Draußen singen die Vögel, der Himmel trägt sein schönstes Blau, die Sonne strahlt, als gäbe es kein Morgen. Und wirklich kein Morgen gibt es für jene, die täglich ihr Leben lassen, nach viraler Infektion. So landet dieser Tage noch der unschuldigste Gedanke an seinem schlimmstmöglichen Ende. Die Schönheit lügt, denke ich, der blühende Baum lügt, frei nach Adorno, und doch ist da Schönheit, Aufbruch, Neuanfang, unbezwingbar. Von allem aber auch das Gegenteil.

Foto: A. Kissler

Natürlich ist es falsch zu sagen, nach dieser Krise werde nichts mehr sein wie zuvor. Das Allermeiste wird nach dieser Krise exakt so sein wie vor der Krise. Menschen werden Geschichten schreiben und Geschichte machen. Da wird Hass sein und Niedertracht und Fürsorge und Liebe. Die Erde wird nicht untergehen, die Menschheit nicht aussterben. Wir werden uns nicht lebenslang verbarrikadieren, nicht jahrelang mit Mundschutz durch die Supermärkte schleichen. Es wird wieder eine Normalität geben, ein menschliches Minimum. Die Kontinuitäten werden wie immer unterschätzt, die Brüche überschätzt.

Vieles wird sich dennoch ändern. Mehr Digitalisierung wird es geben, mehr Reserve im Umgang miteinander, vor allem aber: weniger Weltbürgertum. Diese Folge scheint mir noch nicht begriffen. Das Bekenntnis zum Weltbürgertum war bis hinein in den März 2020, mit und ohne Goethe, die schönste Krone, die man sich verleihen konnte. Künstler, Politiker, Poeten ohne Zahl taten es. Sie seien Weltbürger, sagten sie. Gebürtig zwar in diesem oder jenem Land, das sie Vaterland zu nennen sich nicht trauten, jene oder diese Sprache redend, die sie Muttersprache nannten, von Herzen aber Weltbürger. Denn nur das sei kein Zufall: auf diese Erde geworfen zu sein wie Milliarden andere auch. Seid umschlungen. Der Rest ist Kontingenz.

So hörten wir Sympathisches und stimmten zu: Dass uns mehr verbinde als trenne. Ja. Dass jeder Mensch des Menschen Bruder sei oder Schwester. Ja. Dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei sei. Ja. Dass die Probleme zu groß seien, um allein gelöst zu werden. Ja. Dass Deutschland unsere Herkunft, Europa unsere Zukunft sei. Ja. Dass man mehrere Heimaten haben könne. Ja. Dass wir nur einen Planeten hätten. Ja. Dass die Sprache der Menschheit universal sei. Ja. Dass wir alle Weltbürger seien.

Nein. Das sind wir nämlich nicht. Warum sonst lautet das zweite Schlüsselwort dieser Tage neben und nach Corona-Krise Rückholaktion? Gerade keine Heimsuchung ist solche Heimholung, sondern rettende Tat. Der Deutschlandfunk vermeldete am 27. März 2020 in seinen Nachrichten um 6h00: „Die Rückholaktion der Bundesregierung für die wegen der Corona-Pandemie im Ausland gestrandeten Deutschen wird nun doch noch mindestens zwei Wochen dauern. Der Krisenbeauftragte des Auswärtigen Amts, Hartmann, sagte der Deutschen Presse-Agentur, bislang seien Menschen aus Hauptferienzielen wie Ägypten, Marokko oder der Dominikanischen Republik zurückgeholt worden. (…) Zahlreiche Staaten haben wegen der Pandemie ihre Grenzen geschlossen und Flugverbindungen gestrichen. Außenminister Maas hatte deshalb in der vergangenen Woche angekündigt, zusammen mit Reiseveranstaltern und der Lufthansa Bundesbürger aus Ländern zurückzuholen, aus denen es keine regulären Flüge mehr gibt. Insgesamt geht es um etwa 200000 Reisende, von denen bis Mitte der Woche mehr als 150000 nach Deutschland gebracht wurden.“

Ich höre es und frage mich ganz naiv: Warum werden Menschen in das Land zurückgebracht, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen, wenn doch angeblich jeder überall zu Hause ist? Hatte Barack Obama gelogen, als er 2008 in Berlin unter Beifall erklärte: „Menschen der Welt, dies ist unser Augenblick“? Haben all die Künstler gelogen, die ihre Identität auf ihr globales Unterwegssein gründeten? All die Politiker und Wissenschaftler, die uns erklärten, das Nomadentum sei unsere Berufung, die Internationalität unsere Chance? Wir trügen alle den Pass der Vereinten Nationen mit uns? Ja und nein. Wahr war und bleibt die Schönheit des Gedankens, dass unser Geist auf Entgrenzung angelegt ist, dass er sich mit keiner Grenze zufrieden gibt, erst recht nicht mit den Grenzen unserer Geburt. Gelogen aber war der Ton der Verheißung, der alles Eigene, alles Vorgefundene zum Vorläufigen erklärte. Wer sich verlieren soll, ohne sich gefunden zu haben, verliert alles.

Das merken wir nun präzise in unserer Seele, unserem Geist, unseren Träumen: Wenn es um die Frage geht, wo wir einen existenziellen Kampf, einen Kampf womöglich um Leben und Tod durchfechten, wo wir widrigenfalls sterben wollen, dann wird der allergrößte Teil der Menschheit darauf mit dem Wort von der Heimat antworten. Und in der Fremde wird man, wenn es Spitz auf Knopf kommt, die Fremden ihren sekundären Status merken lassen. Unmenschlich geht es hoffentlich dennoch nicht zu, die Menschenrechte müssen weltweit und unbedingt gelten. In der Not aber blüht uns nur eine Hoffnung, eine Herkunft. Das Pathos vom Weltbürgertum zerschellt an jeder Rückholaktion.

Dass der Mensch aus Krisen etwas lerne, ist eine vage Hoffnung. Vielleicht aber nehmen wir diese Lektion zur Kenntnis: Zuhause sind wir da, wo wir verstanden werden, weil wir einander verstehen. Zuhause sind wir nicht da, wo wir ein Bett haben und ein Dach über dem Kopf und unseren Hut ablegen. Zuhause ist nicht nur ein Gefühl – und Heimat ist auch ein Ort.

Die Kanzlerin, Corona und die Grenze

Worte setzen eine Welt in Gang oder in Brand. Am Anfang war das Wort, und da wird auch eins sein, wenn alles zugrunde geht. Auf der langen Reise dazwischen, die wir Geschichte nennen, lautet der schönste Traum, der größte Traum, den niemand vergessen kann, dem er sich einmal ins Herz senkte: dass „vor einem geheimen Wort“ das „ganze verkehrte Wesen“ fortfliege. Dass in der Welt alles an seinen richtigen Ort kommt, wenn man sie einmal nur richtig benennt. Wo dieser Traum nicht mehr da ist, hat das Abendland abgedankt. Es ist geradezu das Abendland, dieses Wort vom bannenden Wort, dieser Gedanke, dass der Mensch hineinwirkt in die Geschichte, sie aber nie ganz in der Hand hält. Jedes Menschenwort ist vorläufig, ist geschichtlich, ist ein Machtwort. Jedes Wort vor dem Ende hat Macht, aber ist nie endgültig. Erst am Schluss enträtselt sich unser Stammeln.

Foto: H. P. Rabit

Macht, vorläufige Macht, hat auch das schlingernde, suchende, sogar das falsche Wort, weil es Wirklichkeiten eröffnet, Möglichkeiten begrenzt. Auch die Lüge hat Macht, die Wahrheit erst recht. Das verhüllende Wort enthüllt zumindest die Wahrheit über den, der spricht, wenn auch nicht über das, was er sagt. Womit wir dann doch bei der Bundeskanzlerin gelandet wären. Dass sie eine Meisterin des Wortes wäre, behauptet niemand. Dass das Wort sich ihrer bemächtige, auch nicht. Jetzt ist es halt da, das Wort, und dann spricht sie es aus. Sprache ist für Angela Merkel der Widerstand, den sie bezwingen muss, um wortlos zur Macht zu gelangen, an der Macht zu bleiben. Sprache ist das Präservativ der Gedanken, der Nebel über den Absichten, ein Mantel den Mitteln.

Doch auch dann bahnt die Wahrheit sich einen Weg, wenn sie nicht gesucht wird. Das Wort will es so. Insofern war es ein Moment der Wahrheit, als die Kanzlerin in ihrer ersten Pressekonferenz zur Corona-Krise am 11. März 2020 in der Bundespressekonferenz sagte: „Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv.“ Gefragt worden war sie, ob „die Schließung der Grenzen Österreichs zu Italien“ die „europäische Solidarität“ beeinträchtige. Darauf hatte Merkel zunächst geantwortet, „wir in Deutschland sind jedenfalls der Meinung, dass Grenzschließungen keine adäquate Antwort auf die Herausforderung sind“. Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn später erklären sollte, ob es „irgendwann wie in Italien zu einer kompletten Abriegelung des Bundesgebiets“ komme, gab, zeitlich leicht verzögert, die Kanzlerin das bewusste Wort zur Antwort. Und so geschah ein Augenblick der Wahrheit.

Der Satz erinnert an die bekannte Aussage Angela Merkels aus der Talkshow „Anne Will“ am 7. Oktober 2015: „Das Problem ist ja, Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir haben Grenzkontrollen durchgeführt. Wenn wir die Grenzen schließen würden – Deutschland hat 3000 Kilometer Landgrenze –, dann müssten wir um diese 3000 Kilometer einen Zaun bauen.“ Oder an ihr Interview mit dem Deutschlandfunk, wenige Tage zuvor: „Ich glaube nicht, dass Zäune helfen – das ist müßig. (…) Mit Zäunen werden wir das Problem nicht lösen.“

Nun also: „Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv.“ Müßig, demnach verschwendete Zeit, war es 2015, über Grenzschließungen nachzudenken, denn man könne Deutschlands Grenze gar nicht schließen; dafür sei sie zu lang, die Grenze. Naiv, demnach unaufgeklärt, unreif, soll es 2020 sein, ein Land „abzuriegeln“, um „etwas“ aus diesem Land herauszuhalten. Konkret gemeint ist das Corona-Virus, das in Deutschland und allen umliegenden Ländern sich gerade verbreitet. Gesagt wird weit mehr. Auf eine besondere Frage kommt eine sehr allgemeine, sehr grundsätzliche Antwort: Nichts kann man laut Merkel tun, um zu verhindern, dass „etwas“ ein Land betritt. Sie fuhr dann, wieder ins Konkrete fallend, fort: „Selbst wenn man das eine gewisse Zeit lang schafft, wird das Virus irgendwann trotzdem in dieses Land kommen.“

Die Weiterungen beider Sätze sind enorm. Tief schneiden sie ein in die Geschichte. Wir wohnen hier der allmählichen Dogmatisierung einer Weltanschauung bei. Dröseln wir es vom Ende, vom zweiten Satz her auf – und vergessen wir nicht, dass hier eine Politikerin spricht, die Spitze der Exekutive. Maßnahmen sind also zu unterlassen, die nur kurzfristigen Erfolg versprechen. Ein kurzfristiger Erfolg sei schlimmer als gar kein Erfolg, denn im Unterschied zu diesem bindet er Mittel. Lieber nichts tun, heißt das, als etwas tun, was uns nur vorübergehend guttut. Lieber nichts schaffen, als etwas temporär schaffen.

Diese Handlungsverweigerungsanleitung kollidiert scharf mit der Haupterzählung der Pressekonferenz vom 11. März 2020. Sinn und Zweck aller Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise sei es, hörten wir mehrfach, „die Ausbreitung des Virus und der Infizierungen zu verlangsamen“ (Merkel). Wenn es also eine Tempofrage ist, wenn auf der Zeitachse agiert werden muss, dann verliert alles Vorübergehende seinen Schrecken. Dann muss, wer das Gute will, mit dessen Vorläufigkeit leben. Dann sticht das momentan Geschaffte das gar nicht Versuchte. Merkel ist dazu nicht bereit. Im bewussten Satz triumphiert der Fatalismus – wie weiland am 7. Oktober 2015 bei „Anne Will“, als die Kanzlerin erklärte, „es liegt ja nicht in meiner Macht. Es liegt überhaupt in der Macht keines Menschen aus Deutschland, wie viele zu uns kommen.“ Die einflussreichste Politikerin Deutschlands erklärt sich in der Migrationspolitik und der Corona-Krise in zentralen Punkten für machtlos. Ihr seien da die Hände gebunden. Ein Land, ihr Land, unser Land sei Transitland. Es könne keinem Etwas und keinem Jemand den Weg nach Deutschland verwehren.

Kommen wir zum ersten Satz. „Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv.“ Es wären viele Adjektive denkbar gewesen, um die Absagen an ein Einreiseverbot zu begründen. Der Vorwurf der Naivität ist der aggressivste, anmaßendste. Wer es anders sieht, heißt das, hat „die Situation“ (Merkel) nicht gecheckt, Politik nicht begriffen, seinen „Instrumentenkasten“ (Merkel) nicht im Griff. Ergo ist Deutschland von plumpen Naivlingen umgeben, die Müßiges tun. In derselben Woche, in der Merkel in der Bundespressekonferenz ihren Nichteinmischungsgrundsatz aktualisierte, gaben Dänemark, Polen und Tschechien bekannt, ihre Grenzen zu schließen, auch für Deutsche. Ich habe nicht nachgerechnet, aber ich vermute, dass die Summe der dänisch-polnisch-tschechischen Grenzkilometer größer ist als jene angeblich nicht zu schließenden 3000 Kilometer deutscher Außengrenzen.

Angesichts der Handlungen „im europäischen Verbund“ (Merkel) wird das deutsche Nichthandeln in dieser Frage zum nationalen Sonderweg. Dazu hat jedes Land das Recht. Nur verpufft dann die Rede von der „europäischen Solidarität, ohne die erfolgreiches Handeln nicht denkbar ist“ (Merkel am 13. November 2018). Nur ist dann der Verdacht unabweisbar, das Nichtkönnen camoufliere ein Nichtwollen. Die Kanzlerin gibt vor, nicht zu können, was sie nicht tun will. Sie rationalisiert ihre Abscheu durch Entwertung der Alternativen. Sie dogmatisiert ihre Rede, um ihr Tun und Lassen nicht begründen zu müssen. Die Grenze, an der etwas oder jemand abgewiesen würde, wäre der größte anzunehmende Unfall in der Willenswelt der Kanzlerin. Komme, was da wolle.

Novalis schrieb das abendländische Wort nieder vom „geheimen Wort“, dem wenigen nur gegebenen Wort, das die Welt ein für allemal ins Lot brächte und das gerade darum kein Machtwort wäre. Novalis schrieb auch, in seiner Aphorismussammlung „Blütenstaub“: „Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freiheit Nationen.“ Als freie Republik darf dieses Land hoffen. Als Kommandonation wäre es tatsächlich schutzlos.

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