Im Stollen der Vergangenheit sind viele Schächte. In den meisten brennt noch Licht, und in vielen lebt ein Klang. Es sind nicht nur Gerüche und Geschmäcker, die uns an Vergangenes erinnern, sondern erst recht Geräusche. Musik fasst Zeitalter zusammen, unsere eigenen und unsere gemeinsamen. Töne rühren an Saiten, die wir überwunden meinten. So kam es, dass ich die Überschrift dieser Tage auf einer CD von 2004 fand. Sie benennt die Übung der Gegenwart auf mehr Ebenen, als es ihr Verfasser hat ahnen können damals. Alles heute nämlich kommt darauf an, zu wissen, was das ist, was es bedeutet, wie es einem gelingt: „Rechtzeitig gehen“ ist hohe Kunst geworden.

Foto: A. Kissler

„Rechtzeitig gehen“ war der Titel eines musikkabarettistischen Programms, das ich damals in Mannheim sah, im „Schatzkistl“, vermutlich 2004 oder 2005. Man saß an Tischen, Sekt vor sich oder Wein, Käsehappen oder Würstchen. Vorne am Klavier saß der glatzköpfige Herr Töpel, gut gelaunt, programmatisch höflich, systematisch unzynisch, und also ein Gegenentwurf zu den üblichen Besserwisserkabarettisten, die in jedem Lachen eine politische Gesinnungstat wittern. Arnim Töpel spielte ausnehmend gut Klavier. Später kaufte ich mir auch seine Musik-CD und hörte sie viele Male. Am meisten beeindruckte damals wie heute der Titel des Programms: „Rechtzeitig gehen“. Kann man das überhaupt? Hat man das in der Hand? Ist es überhaupt erstrebenswert?

„Das Geheimnis der Macht ist Beständigkeit“, heißt es einmal in der britischen Politsatire „Yes Minister“. So sprunghaft sich auch ein Alphatierchen gebärden mag: Dauern will es, die immerselben Kunststücke vor wechselndem Publikum zum Besten geben, bis der Letzte das Licht ausmacht, und dieser Letzte ist man nie selbst. Der selbstbestimmte und darum glückliche Abgang ist eine Kunst, die selten gelingt. Man lese Roger Scrutons Aufsatz „Rechtzeitig sterben“: Der Tod sei „ein Licht entlang des Weges, der auf ihn hinführt.“ Man schaue in die Krankenhäuser mit ihren beatmeten Patienten. Auf Statistiken und Kurven und Grenzlinien. Man hat es selten in der Hand, und meistens ist das gut so. Doch welche Verheißung schlummert in der Vorstellung, das Leben biete lebenslang die Möglichkeit, rechtzeitig zu gehen, ohne für immer zu verschwinden. Arnim Töpel sagte damals: „Wir planen und regeln alles Mögliche und wappnen uns doch zu wenig für die Zukunft.“

Bestechend der Einfall, einen Abend lang am Klavier nachzudenken über eine Dorfgemeinschaft der reifen Aussteiger, der Fourtysomethings. Diese, rund 300 Leute, sollten sich ein leerstehendes Dorf suchen in Mecklenburg-Vorpommern und dort einander in Ruhe lassen. Das mache man viel zu selten. Der Einsatz sei also gering, der Preis hoch: In der Phantasie des Klavierspielers lebte man dann „entspannt, zufrieden und gelassen.“ Das Dorf der rechtzeitig aus den Städten Gegangenen werde nicht daran leiden, woran das ganze Land leide, an Schlafdefizit. „Wir werden“, sprach damals der Mann am Klavier, „regiert, gelenkt und geleitet von Leuten, die sich damit brüsten, den Schlaf überwunden zu haben. Welchen Steuerkompromiss wollen wir denn erwarten, morgens um vier, von einer Runde dämmernder Sekundenschläfer?“ Anders werde es in Meck-Pomm. Ein siebenmonatiger Winterschlaf sei dort Pflicht, und so „werden wir etwas schaffen, was uns keiner je zugetraut hätte. Wir werden ein ausgeglichenes, ein sympathisches, ein zufriedenes Völkchen. Drum gute Nacht, Deutschland.“ So endete das Programm. So endet die CD.

Das war natürlich ein Witz. Auch dem Mann am Klavier dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass selbst in Mecklenburg-Vorpommern Häuser nicht verschenkt werden, dass Lebenshaltung kostet und Rücklagen am Beginn des fünften Jahrzehnts nicht ausreichen, falls vorhanden. Ein Witz war auch die Vorstellung des Bühnenpianisten, es könnten sich 300 Leute finden, die wie er zu derart frühem Zeitpunkt selbst entscheiden möchten, „wie, wo und mit wem“ sie die „nächsten Jahrzehnte alt werden wollen“. Schon damals wollte niemand mit gerade mal 40 Jahren alt werden. Erst recht nicht heute. Da beginnt die zweite Hälfte des Lebens mit den Silver Agers, der Generation 60+. Wir leben in einer „infantilen Gesellschaft“ – mein nächstes Buch wird davon handeln.

Der Mut zum Antizyklischen erweist heute seine prophetische Kraft. Rechtzeitig zu gehen ist Politikern aufgegeben, die sich für unersetzbar halten, den Beharrungskünstlern und Stetigkeitsidioten, die das bloße Verweilen mit Munterkeit verwechseln und Dauer für Substanz nehmen. Auch ich bin sehr dafür, an Bewährtem festzuhalten. Aber eben nur an Bewährtem. Was uns gestern schon stolpern ließ, wird auch morgen nicht zur Leuchte taugen. Wer die Verknotung der Wirklichkeit für Gedankenarbeit hält, wird nie eine Wirklichkeit finden, die er durchdringt. Rechtzeitig gehen sollten Ideen, die alterten, ohne je die Blüte ihrer Jahre zu erreichen.

Der Mann am Klavier, die Bühnenfigur, nicht identisch mit Herrn Töpel, sprach unmittelbar vor der Pause im Überschwang inneren Hippietums die Unwuchten aus, die uns heute mehr denn je bedrängen, zwischen Corona, Greta und Rezession – von denen damals nicht die Rede sein konnte, 2004, als es plötzlich sehr böse vom Klavier zu mir an den Tisch im „Schatzkistl“ drang: „Was Deutschland braucht, das ist ein Krieg, eine Naturkatastrophe oder drei Monate Zwangsurlaub für alle. Noch haben wir die Wahl. Was meinen Sie, was damit gespart werden könnte? Drei Monate keine quälenden Sitzungen, deren Ergebnis sowieso keiner wahr haben will. Drei Monate Produktionsstopp, Ausnahmen nur für das Nötige. Alles andere läuft über Ebay. Und das wird verstaatlicht. (…) Wir sollten endlich aufhören uns zu fragen, was können wir uns leisten, sondern endlich einmal klären, was wollen wir uns leisten? Und dann genügt womöglich eine winzige politische Änderung: Nur wer wiedergewählt wird, darf aufhören.“

Soweit der ausnahmsweise einmal böse Piano Man, diese Bühnenrolle. Die Ausgangsbedingungen verbleiben natürlich komplett fiktiv. Krieg und Katastrophe zwingen kein Glück je herbei, sondern mögen uns nur eins: verschonen. Diesen einen kindlich schönen Gedanken aber wähnte ich im innersten Schacht verstaut, aus dem er nun emporsteigt im April des verrückten Jahres 2020: Dass der Lohn einer erfolgreichen Wahl nicht das fortgesetzte Regieren wäre, sondern die Erlaubnis zum Abgang. Dass der Wähler denen, die ihn gut und wach regiert haben, mit dem Diplom die Entlassungsurkunde überreicht. Ein Klaps auf die Schulter noch, ein „Danke“, eine Träne der Rührung, ein neues Beginnen. Im Hamsterrad ist jede Bewegung ein Kreislauf, jedes Auf schon ein Ab. Glücklich das Land, dessen Illusionen rechtzeitig gehen. Mit Mut voran.