Angst ist keine Lebensform
Optimismus, sagt das Bonmot, sei nur ein Mangel an Information. Man müsse eine rosarote Brille tragen und weite Teile der Wirklichkeit ausblenden, um sich in dieser komplett wohlzufühlen. Man werde nie erwachsen, wenn man vor den Schattenseiten der Welt davonlaufe. Dummen Optimismus, blinden Optimismus, gefährlichen Optimismus: das gibt es. Wir leben nicht auf Wolke 7, und wer daran wider alle Erfahrung festhält, der wird zur Witzfigur, zum Tagträumer. Den belächelt man, den nimmt man nicht ernst. Schau dich doch um, entgegnet man ihm, dann werden dir die Augen aufgehen, ja übergehen vor all dem Elend, den Schwierigkeiten. Unerschütterliche Optimisten können unfassbare Nervensägen sein. Manche Probleme sind echte Probleme und nicht nur verpackte Chancen. Manche Krisen sind kein Geschenk, sondern führen schnurstracks in die Katastrophe. Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Was es aber auch gibt: dummen Pessimismus, blinden Pessimismus, gefährlichen Pessimismus. In diesen Tagen bekommen wir eine Ahnung, was es heißt, unter dem Banner einer Düsternis zu leben, die noch die kleinste Freude niederdrückt. Weihnachten, sagt ein Ärztepräsident, könne zum „Fest mit Todesrisiko“ werden. Die Lage, sagt ein Bundespräsident, sei „bitterernst“. Ein Ministerpräsident aus Bayern erklärt, „es zerrinnt uns zwischen den Fingern“. Ein Ministerpräsident aus Sachsen weiß, dass beim medizinischen Personal „eine große Angst vor Weihnachten“ herrsche. Ein Ministerpräsident aus Thüringen rät zum Geburtsfest Christi, „einfach negativ bleiben“. Auch wenn damit sachlich korrekt beschrieben ist, dass negative medizinische Testergebnisse eine gute Botschaft sind, gilt das Motto weit über den konkreten Zusammenhang hinaus. Wir alle drohen uns im Negativen einzukapseln. Oder uns einspinnen zu lassen?
Vorsicht bleibt die Mutter der Porzellankiste, und Unvernunft macht nie gesund. An der Ernsthaftigkeit der jeweiligen Anlässe, deretwegen Minister- und Ärzte- und Bundespräsidenten zu bitteren Worten greifen, gibt es nichts zu deuteln. Es wäre eine Realitätsleugnung ganz eigener Art, hielte man solche und zahlreiche andere Äußerungen für unbegründet, die Gefahr, die sie beschwören, für eingebildet. Das wäre dann tatsächlich ruchloser Optimismus nach dem Muster jener Blumenkinder, die auf Schlachtfeldern Kanonen bekränzen und dadurch den Krieg hinfort zu zaubern meinen. Ein Risiko bleibt ein Risiko.
Dumm aber ist ein Pessimismus, der erst mit allem und dann nur noch mit dem Schlimmsten rechnet. Ein solcher Pessimismus raubt den Menschen alle Neugier, den Gedanken jede Kraft. Worüber sollte man sich den Kopf zerbrechen, wenn jeder Tag mit schicksalsergebener Gewissheit nur eine neue Weggabelung markiert, an der jedes Mal mit destruktiver Zuverlässigkeit ein Pfad in den noch tieferen Abgrund eingeschlagen wird? Der Mensch hat keinen Anlass, sich das Hirn zu zermartern, wenn das Resultat aller Überlegung schon im vornherein feststeht: Schlimm war’s, schlimm ist’s, schlimmer wird es werden. Der Mensch wird dann zum Spielball böser Zahlen, die er nur quittieren kann. Er wird zurückgestuft auf die Funktionsweisen Furcht und Fatalismus – und dann und wann eine kleine Erleichterung, eine Lockerung für das Gemüt im Lockdown des Kopfes.
Blind ist ein Pessimismus, der seine überwältigende Kraft aus einer starren Blickrichtung bezieht. Der komödiantischen Witzfigur des Optimisten, der vor jedem Abgrund die Augen verschließt und hofft, dass das Gewitter fern bleibt, wenn er nicht hinsieht, entspricht die tragische Gestalt des Pessimisten, der nicht aufhören kann, das Unheil zu fixieren – und nur das Unheil. Man kann ebenso in das Gelingen wie in das Untergehen verliebt sein. Letztere Liebe wird meistens erwidert. Zum Straucheln, wusste Kleist, braucht es nichts als Füße. Zum Untergehen nicht einmal die. Es reicht, bewegungslos die Augen auf ein Unglück zu heften, und schon wird es haften bleiben im Kopf, in der Seele. Der blinde Pessimist blendet wie der blinde Optimist alle Wirklichkeit aus, die seiner Weltempfindung widerspricht. Er richtet sich die Realität zu. Beide treiben dem Leben seine Neuheit und den Menschen ihre Neugier aus.
Gefährlich ist ein Pessimismus, der es sich im Teilnahmslosen einrichtet. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, dass das Schlimme des Schlimmeren Feind ist, wird man wehrlos vor jeder nächsten Gefahr. Ein neuer Standard ist ja gesetzt: die „große Angst“, die stete Negativität, der unwiderrufliche Ernst. Die Lagen mögen sich dann ändern – und jede Bedrohung erlischt irgendwann –, bleiben werden das Achselzucken, mit dem man sie hinnimmt, und die erlahmende Widerstandskraft. Gabelt sich ein Weg oft genug und wählt man dieselbe fatale Richtung, dreht man sich unweigerlich im Kreis. Der Circulus vitiosus ist nicht teuflisch, weil da ein Fluch waltet. Er ist teuflisch, weil und wenn der Mensch sich daran gewöhnt, dass der Kreislauf das Normale sei. Wer nur Böses und nichts Neues unter der Sonne erblickt, ergibt sich dem Bösen.
Der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe schreibt in seinem Roman „Von Zeit und Fluss“ über das „große Webstück aus blinder Grausamkeit, Hass, Schmutz, Lust, Tyrannei und Ungerechtigkeit, aus Freude, Zuversicht, Liebe, Mut und Hingabe, aus dem das Leben besteht und das die Welt ausmacht“ – das ganze Leben, die ganze Welt. Angst ist keine Lebensform. Frohe Weihnachten.