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Der lange Abschied eines deutschen Papstes

Drei Tode starb Joseph Ratzinger. Am 19. April 2005 wurde er als Nachfolger Johannes Pauls II. zum Papst gewählt. Er selbst sprach vom „Fallbeil“, das im Konklave auf ihn niedergegangen sei. Fortan gab es nur noch Benedikt XVI., Joseph war Geschichte. Am 28. Februar 2013 verließ der 265. Pontifex seit Petrus gegen 20 Uhr im Hubschrauber den Vatikan und flog nach Castelgandolfo. Damit war sein ebenso rätselhafter wie historischer Rücktrittsentscheid vom 10. Februar wahr geworden. Jetzt sollte es nur „Vater Benedikt“ geben, den Beter im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae. Der leibliche Tod, der ihn dort am 31. Dezember 2022 ereilte, im Alter von 95 Jahren, klopfte zur Morgenstunde an.

Knapp acht Jahre lang war Joseph Ratzinger Papst, über neun Jahre dann Papa emeritus.

Das Ende bedenken, vom Ende her denken: diese philosophische Lebensregel war dem 1927 in Marktl am Inn geborenen Theologen, Bischof und Schriftsteller früh geistliches Programm. Mit 28 Jahren habilitierte er sich in München mit einer Arbeit über die apokalyptische Geschichtstheologie Bonaventuras, eines Denkers und Heiligen des 13. Jahrhunderts. Er leitete daraus die Warnung ab, keine „Vollerlösung in der Geschichte“ zu erwarten. Utopien waren Ratzingers Sache nie. Darum befremdete ihn der Erlösungsfuror der Achtundsechziger. Der junge Professor floh 1968, wie er rückblickend schrieb, vor einer „sehr gewalttätigen Explosion marxistischer Theologie“ an der Universität Tübingen nach Regensburg. Ebenfalls 1968 legte er seinen Long- und Bestseller „Einführung in das Christentum“ vor, bis heute eine frische und anregende Lektüre.

Neun Jahre später veröffentlichte er die Schrift „Eschatologie, Tod und ewiges Leben“, die ihm sehr am Herzen lag. 1995 stellte er knapp fest, es werde „innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absoluten idealen Zustand geben“, und 2002 wies er darauf hin, dass eine „endgültig heile Gesellschaft“ das Ende der Freiheit bedeutete. Im darauffolgenden Jahr weitete er in einem Vortrag über das Lehramt Johannes Pauls II. die utopiekritische zur antirelativistischen Mahnung: „Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.“ Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Und warum dann dieses vorzeitige Enden, dieser freigewählte Abschied im Februar 2013 von der Würde eines Amtes, das binden sollte bis zum Tod?

Als Pontifex Maximus – wenngleich ohne Tiara, die er aus dem päpstlichen Wappen entfernte, – wollte Benedikt die Fundamente des Christentums befestigen, Glaube und Vernunft versöhnen, den inneren Menschen rehabilitieren: „…und das Denken wird zum Glauben.“ Reisen, Enzykliken, Predigten, nicht zuletzt Mittwochskatechesen waren Mittel der Wahl. Bei diesen wurde er seinem halb spöttisch, halb bewundernd genannten Spitznamen „Professor Dr. Papst“ gerecht. Mittwoch für Mittwoch lud er in die vatikanische Audienzhalle oder auf den Petersplatz zur Kurzvorlesung. Ein aufgeklärter Glaube, wie er ihn einforderte, war für Ratzinger ein Glaube, der aus dem Wissen zehrt, auf Traditionen fußt und deshalb auskunftsfähig bleibt. Sein Abend mit Jürgen Habermas in der Münchner Katholischen Akademie am 19. Januar 2004 über eine „entgleisende Modernisierung“ (Habermas) und die „notwendige Korrelationalität von Vernunft und Glaube“ (Ratzinger) war insofern ein papables Präludium.

Die Katechesen bei der Generalaudienz widmeten sich zunächst und in Fortsetzung der Ansprachen Johannes Pauls II. den Psalmen, dann den Aposteln und „anderen wichtigen Persönlichkeiten der Urkirche“, danach den Kirchenvätern zwischen Cyprian von Karthago, Athanasius von Alexandrien und Aphrahat dem Weisen, im Paulusjahr 2008/09 dem heiligen Paulus. Es folgten weitere Denker des Christentums, darunter Ambrosius Autpertus, „ein ziemlich unbekannter Autor“, schließlich Frauen des Mittelalters, eine „Schule des Gebets“ und zuletzt das „Jahr des Glaubens“ 2012/13. Am Ende, in seiner letzten Generalaudienz erläuterte Benedikt noch einmal seinen Amtsverzicht: „In diesen letzten Monaten habe ich gespürt, dass meine Kräfte nachgelassen haben, und ich habe Gott im Gebet angefleht, mich mit seinem Licht zu erleuchten, um mir zu helfen, die Entscheidung zu fällen, welche nicht für mein eigenes Wohl, sondern für das Wohl der Kirche die richtigste ist. Ich habe diesen Schritt im vollen Bewusstsein seines schwerwiegenden Ernstes und seiner Neuheit, aber mit einer tiefen Seelenruhe getan.“ Überzeugt diese Erklärung?

Ein typischer Deutscher war der ehemalige Erzbischof von München und Freising nicht.

Von seinen drei Enzykliken „Deus Caritas est“ über die Liebe, „Spe salvi“ über die Hoffnung und „Caritas in Veritate“ zur sozialen Lage ist die mittlere von 2009 die stärkste Probe auf das Exempel voraussetzungsloser Gesprächsbereitschaft. In der Hoffnung, durch die Hoffnung bereits jetzt gerettet sollen sich Christen fühlen dürfen. Darum prägte Benedikt eine griffige Formel, deren Präsens die Botschaft ist: „Wir sind frei. Wir sind gerettet“. In „Spe Salvi“ diskutiert Benedikt Theodor W. Adorno, schreibt in der ersten Person Singular und bekennt sich zur „Hoffnungsgewissheit“. Der Glaube ziehe „Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Nochnicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein.“ Der Dreischritt vom Glauben über die Hoffnung zum Tun ist die argumentative Grundfigur von „Spe salvi“. Entfaltet wird sie im Dialog mit Kirchenvätern und Theologen, Marxisten und Philosophen.

Drei Enzykliken in knapp acht Jahren waren wenig im Vergleich zu den 14 Sendschreiben des polnischen Vorgängers, dem Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation treu gedient hatte. Doch das Pontifikat Johannes Pauls II. währte 25 Jahre. Benedikt hinterließ in einem Drittel der Zeit rekordverdächtige 144 Apostolische Schreiben, schrieb 278 öffentliche Briefe und hielt knapp 1500 Ansprachen. Er schonte sich nicht. Georg Ratzinger machte sich von Beginn an Sorgen um die schwächliche Konstitution des jüngeren Bruders. Die 24 Reisen außerhalb und 30 Reisen innerhalb Italiens standen dem freilich nicht im Weg.

Benedikt reiste in die Türkei, wo nach seiner Regensburger Rede über das voluntaristische Gottesbild im Islam Konflikte befürchtet worden waren, er reiste nach Großbritannien, wo der organisierte Neoatheismus Proteste angekündigt hatte, in die USA und zu den Vereinten Nationen, nachdem Fälle priesterlichen Kindesmissbrauchs für Bestürzung gesorgt hatten, nach Frankreich, dessen laizistische Tradition sich herausgefordert sah, ins Heilige Land, wo jeder Schritt der falsche hätte sein können, schließlich und endlich in den Libanon, dessen fragiles religiöses Gleichgewicht gefährdet war. Überall wusste er die Situation durch bescheidenes Auftreten und nachdenkliche Reden zu entkrampfen.

Kern von Benedikts Überlegungen im September 2010 in Londons Westminster Hall, wie sie sehr ähnlich ein Jahr später im Deutschen Bundestag erklingen sollten, war die Warnung vor einem bloß prozeduralen Demokratiebegriff. „Wenn“, so Benedikt, „die den demokratischen Abläufen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung der Demokratie.“ Der Konsens kann heute diese, morgen jene Gestalt annehmen, ohne sich die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Guten je zu stellen. Aus diesem Grund brauche die bloße Vernunft die „Korrekturfunktion der Religion“ und bedürfe die Religion „der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft“. Es war ein Hauptanliegen des Pontifikats gewesen, Vernunft und Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Wahrheitsfrage virulent bleibt.

Überzeugen durch Nähe, Bescheidenheit und zielgruppenadäquate Ansprache: Diesem Grundprinzip folgten Benedikts Reisen, beginnend beim Weltjugendtag in Köln im August 2005, endend im Libanon im September 2012. Neben den Visiten in gegenwärtig oder ehemals stramm katholischen Ländern wie Polen, Spanien, Österreich, Portugal, Mexiko galt sein Augenmerk den Krisenregionen der Erde. Auch Treibhaustemperaturen in Kamerun und Angola Anfang 2009 oder schwierige organisatorische Umstände in Benin im November 2011 und ein politisches Minenfeld auf Kuba im März 2012 rangen ihm keinen Seufzer ab. Ein schöner Lebensabend sieht anders aus.

Im Libanon zuletzt plädierte Benedikt für menschliche Einheit über alle Spaltung hinweg und ortete sie im „angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre“. So mündet christlicher Humanismus in eine ästhetische Pointe. Das Gute verspricht Schönheit im umfassenden Sinn. Schönheit befreit, Schönheit erlöst: Hier liegt der Kern des Weltzugangs eines bayerischen Katholiken und Mozart-Liebhabers. Seinen tiefsten Satz sprach Benedikt in Barcelona aus, bei der Einweihung der Kirche Sagrada Familia von Antonio Gaudi: „In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

Mit Schönheit ist in Deutschland kein Staat zu machen. Hier war prompt der Widerstand gegen Benedikts Liberalisierung der klassischen lateinischen Messe durch das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ (2007) am plumpsten. Auch der Appell im Freiburger Konzerthaus bei seiner letzten Rede auf deutschem Boden im September 2011, „die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen“ und auf Privilegien zu verzichten, stieß im Land der Kirchensteuerkirche auf taube Ohren: „Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Nichts ist davon bis heute zu spüren, die ekklesiale Verweltlichung schreitet munter voran, aktuell unter der Überschrift eines
„Synodalen Wegs“. Ratzinger hätte allen Grund, noch einmal, wie bereits als Münchner Erzbischof im Gespräch mit Robert Spaemann zu konstatieren: „Wissen Sie, was das größte Problem der Kirche in Deutschland ist? Sie hat zu viel Geld.“

Unschönes zuhauf blieb einem Pontifikat unter dem Banner der Schönheit nicht erspart: Zum Schreckensjahr entwickelte sich 2010, vom Missbrauchsskandal überschattet und vom obskuren Bischof und Holocaust-Relativierer Richard Williamson von der Piusbruderschaft, mit der die Kurie gerade verhandelte. Das Krisenmanagement des Meisterdenkers war wenig meisterlich, im Umfeld überboten sich Unfähige und Missgünstige. Mit der Faust auf welchen Tisch auch immer schlagen: das wäre dem scheuen Intellektuellen nicht in den Sinn gekommen. Er spürte die Grenzen seiner Persönlichkeit. Die Ringe unter den Augen wuchsen. Sommer wollte es in diesem Annus horibilis nicht werden.

Auf den Namen „Vatileaks“ hörte die Krise des Jahres 2012. In einem Fernsehsender referierte der Journalist Gianluigi Nuzzi aus zwei Briefen von 2011 an den Papst über finanzielle Unregelmäßigkeiten im Governatorat, der Verwaltung des Vatikanstaates. Eine Tageszeitung veröffentlichte zwei Tage später weitere vertrauliche Briefe an den Papst und an Staatssekretär Bertone. Das Spiel setzte sich fort mit mehreren ergänzenden Veröffentlichungen. Nuzzi reichte ein Buch über seine Funde nach. Wie waren diese Dokumente in die Öffentlichkeit gelangt? Ein Kammerdiener des Papstes wurde als Schuldiger überführt. Ihn begnadigte Benedikt kurz vor Weihnachten. Der Chef der Vatikanbank, ein Mann Benedikts, war mittlerweile zurück getreten. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Sommer 2012, predigte Benedikt über Judas und „die Falschheit, die das Zeichen des Teufels ist.“ Die Eschatologie war Medium der Gegenwartskritik.

Eine eigene Betrachtung verdiente die Kunst der Epigrammatik, wie Joseph Ratzinger sie beherrschte. Er prägte zahlreiche Apercus und Aphorismen. Über seiner ersten Deutschland-Visite stand als Motto „Wer glaubt, ist nicht allein“. Er wusste, „die Demut ist das Tor jeder Tugend“, die „Verpflichtung zur Wahrheit die Seele der Gerechtigkeit“ und „die Schönheit das Siegel der Wahrheit.“ Er musste erfahren, dass „die größte Verfolgung der Kirche nicht von den äußeren Feinden kommt, sondern aus der Sünde in der Kirche erwächst“, vor allem aber: „Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der die Lüge Macht hat.“

Zwei Kisten standen zwischen Benedikt und dessen Amtsnachfolger auf einem Foto, das die beiden Anfang 2013 beim Gespräch zeigt. Darin befinden sich Dokumente, vermutlich zur „Vatileaks“-Affäre. Spielten sie eine Rolle beim Amtsverzicht, der ein Mysterium bleibt, eine Überraschung war und teils für Applaus, teils für Enttäuschung sorgte? Eine Emeritierung steht deutschen Professoren besser zu Gesicht als römischen Bischöfen. Benedikts Rücktritt war eben auch eine Flucht vom Stuhl Petri, der mehr ist als ein Lehrstuhl. In das Konzept einer Ecclesia Militans, einer kämpfenden Kirche, wie es Benedikt noch wenige Monate zuvor entworfen hatte – „Wir sehen, wie das Böse die Welt beherrschen will, und dass es nötig ist, in den Kampf gegen das Böse einzutreten“ – passt eine Demission aus Altersschwäche nicht.

Zurück ließ der große Gelehrte und prinzipielle Nonkonformist, der Mystiker aus Einsicht, der utopieskeptische Antirelativist und moderne Modernitätskritiker eine Kiste voller Fragen und offener Enden. Sein Pontifikat brach ab. Darauf folgten seit jenen merkwürdigen Tagen Anfang 2013 Stillosigkeit und Orientierungsmängel in einem Maße, das auch Vater Benedikt in Mater Ecclesiae ins Grübeln gebracht haben dürfte: Franziskus, eine Nemesis? Wenn „Spe Salvi“ Recht haben sollte, werden wir es erfahren. In den Worten Ernst Blochs, dem Joseph Ratzinger in Tübingen begegnete: „Hoffnung hat den Morgen für sich, der noch wieder kommt, die Arbeit, der noch kein Umsonst gesetzt ist, die Glückszeichen, die noch nicht erstarrt sind, die Lichtzeichen, die selbst die Erstarrung überdauern.“

Eine Documenta auf der Höhe der Zeit

Das Fatale am Enden: es geht fast immer weiter. Der Mensch lässt sich nicht unterkriegen, glücklicherweise, und dennoch hört irgendwann alles auf, endgültig. Abschiede folgen auf Neuanfänge, die sich den Tod bereiten, bis das Rad stillsteht. Momentan ereignen sich im nordhessischen Kassel nicht die letzten Tage der Menschheit, vermutlich wird auch die Kunst den Antisemitismus-Skandal der Documenta überstehen.

Zu Ende aber ging – oder hat sich zumindest der Lächerlichkeit überführt – eine bestimmte Art, die Welt ins Raster politischer Erwartungshaltungen zu pressen. Diese Art der instrumentellen Zurichtung von Welt hat den Antisemitismus-Skandal erst möglich gemacht. In Kassel enden viele Erzählungen. In Kassel stirbt die Postmoderne.

Um nur einige dieser kollabierenden Irrtümer zu nennen: Das Kollektiv sei dem Individuum überlegen. Der globale Süden sei eine immer wertvolle kulturelle Bereicherung. Der Westen befinde sich grundsätzlich und zu Recht auf der Anklagebank. Alles sei relativ, es gebe keine absoluten Werte. Der Mensch sei, als was er sich empfinde. Aktion schlage Kontemplation, die Betroffenheit das Argument. Es genüge, für eine bessere Welt einzutreten.

Foto: HP Rabit

Der Antisemitismus-Skandal entzündete sich an judenfeindlichen Darstellungen, die das kuratierende „Künstler*innenkollektiv“ Ruangrupa aus Jakarta nach Kassel gebracht und die ein anderes indonesisches Künstlerkollektiv namens Taring Padi zu verantworten hat. Ein Jude mit Schweinsgesicht, ein Jude mit Raffzähnen waren zu sehen auf einem gigantischen Wimmelbild. Es wurde am vierten Tag der Ausstellung nach einem Proteststurm abgehängt.

Obwohl das Plakat rund zwanzig Jahre alt ist – Auftragsarbeiten waren programmatisch unerwünscht –, hat sich die Documenta-Leitung nicht darum gekümmert, was da wohl eingeflogen werde. Ruangrupa steht seit langem unter Antisemitismusverdacht. Der Direktorin bleibt jetzt nur der Rücktritt. Auch die grüne Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth, erweist sich durch ihre Verharmlosungen als fehlbesetzt.

Momentan wird vielerorts ein Triumphzug der Kollektive in der Kunstszene behauptet. Wenn es so wäre, wäre es ein reaktionäres Vergnügen, denn die selig entschlummerten 1970er Jahre waren die hohe Zeit der kollektiven Autorschaft. Auch im Warschauer Pakt wurde, zumindest rhetorisch, das Kollektiv hochgehalten. Kollektive Kunst aber ist misslungene Kunst, ist oft gar keine Kunst. Wo kein Künstler Verantwortung übernimmt für seine Musen, kann der Freiheitsfunke nicht überspringen. Kollektive Kunst entspricht der Individualität einer Pauschalreise.

Schmerzlich zu lesen und darum erhellend ist die Hymne, die wenige Tage vor der Eröffnung die Wochenzeitung „Die Zeit“ anstimmte. Eine „Documenta der globalen Verschwisterung“ sei es, nichts liege den Ruangrupa-Leuten ferner als Hass, Hetze und „Herumpolitisieren“, das oberste Ziel laute Einvernehmlichkeit.

Auch die antisemitischen Pinsler von Taring Padi bekamen eine Extraportion Lob. Ihre Protestbanner seien „eindrückliche Bilder, angefüllt mit kämpferischen Figuren, die für eine bessere Welt eintreten.“ Dass diese bessere eine judenfreie Welt sein soll, lässt sich am erst später aufgehängten Poster sehen. Dort, gaben pseudoklug die Documenta und deren Generaldirektorin zu Protokoll, könnten gewisse Figuren zwar „antisemitisch gelesen“ werden, das Ganze müsse aber im Rahmen der indonesischen Gewalterfahrung verstanden werden.

So hohl läuft die Rede, wenn sie sich von der Welt entkoppelt. Da ist nur ein zynisches Schwatzen übrig. Der Antisemitismus-Skandal ist eben auch ein Abgrund an Realitätsblindheit und Folge eines hermetisch zugespitzten Werterelativismus, wie er Gemeingut wurde in den Gesellschaften des Westens. Von je weiter her eine Botschaft kommt, mit desto größerer Achtung wird ihr begegnet. Geografie zählt mehr als Vernunft, denn Vernunft hat keinen Ortsstempel. Antisemitismus kann jedoch durch keine regionale Spezialerfahrung gerechtfertigt, toleriert oder relativiert werden. Antisemitische Indonesier sind Antisemiten und nicht Weise aus dem globalen Süden, dieser denkfaulen Chiffre für Standpunktlosigkeit.

Foto: A. Kissler (aus dem Kurzführer documenta X)

Der Westen unterspült seine Fundamente, ohne Not. Er beruht auf einer durch Gewaltenteilung verbürgten und darum belastbaren Liberalität, die im Recht ihre Grenzen findet. Recht aber wird zur Fiktion, wenn das subjektive Empfinden den Richter abgibt – und bestellte Richter findet, die ihm im Gerichtssaal beispringen. Wenn der Mensch ist, als was er sich gerade empfindet, dann gilt das Recht nur situativ, momentan, kontingent und also nicht. Objektivität wird zum diskriminierenden Akt. Und wer wollte dann Menschen verwehren, ihren subjektiven Judenhass situativ zu äußern und nichts daran zu finden?

Auch die Kunst implodiert in der Endmoräne des Subjektivismus, widmet sie sich doch, so abermals „Die Zeit“, auf der diesjährigen Documenta der „Bienenzucht, Milchwirtschaft, Heilpflanzen, der Initiative ZukunftsDorf22 oder auch der eminent politischen Frage, wie sich Äcker, Wälder oder ein Steinbruch kollektivieren lassen“. Der Ungeist des Kollektivismus verheert alles, in erster Linie aber das Denken. Wer darin, wie es die Macher dreist behaupten, einen Fortschritt erblickt, ist nicht nur realitäts-, sondern auch geschichtsblind. Diese Documenta ist dem Wortsinne nach eine idiotische Veranstaltung, empfindet doch der Idiot „alles, was er empfindet, als selbstgemachte Empfindung. Von keiner Welt, keinen Sternen, keinen fremden Augen verursacht.“ (Botho Strauß)

Einer weltlosen, sternenfernen Documenta aber kann man ihre Blindheit letztlich nicht vorwerfen. Sie gibt getreulich wieder, woraus in den letzten Jahren und Jahrzehnten weite Teile des öffentlichen Redens im Westen bestand: aus einem zynischen Werterelativismus, einer stolzen Instrumentalisierung des Anderen zu politischen Zwecken und einer allumfassenden Scheu, über das Subjektive hinaus zu gelangen.

Diese Documenta kann darum schon heute, an ihrem fünften Tag, für beendet erklärt werden. Sie hat ihren Zweck erfüllt. Sie wird uns alle überleben in der Chronik von den späten Tagen des Westens.

Deutschland im Marianengraben

Manche Sätze tragen ein Fragezeichen, doch sie sind ein einziges Ausrufezeichen: „Und warum denn noch nicht?“, war ein solcher Satz. Ich hörte ihn unlängst mit mindestens drei Fragezeichen, sehr laut und sehr von oben ausgesprochen, doch es war keine Frage. Es war Ausdruck eines kolossalen Unverständnisses. Da tat sich binnen Sekunden eine Kluft auf, so tief wie der Marianengraben. Ein solches „Und warum denn noch nicht?“ wäre die angemessene Reaktion gewesen, hätte jemand ganz heiter eröffnet, er besitze zuhause einen Lottoschein, der zu einem Gewinn von zehn Millionen Euro berechtige, aber habe ihn seit zwei Jahren nicht eingelöst. Oder wenn jemand gelassen erklärt hätte, ihm stehe eine lebenslange Leibrente zu, aber er komme nicht dazu, sein Bankkonto anzugeben. Ja warum denn nicht? Was steht dem Großglück im Weg?

Foto: A. Kissler

Doch es verhielt sich kolossal anders. Der Marianengraben verlief an anderer Stelle. Dass der Mann, der ihn gerade vermessen hatte, ihn von oben herab diagnostizierte, ist ihm nicht vorzuwerfen. Er war größer, jünger, blonder als sein Gegenüber, das ein Gegenunter war. Als solches stand es vor ihm, unter ihm und spürte die Silbenkanonade auf sich niedergehen: „Und warum denn noch nicht?“ Die Heftigkeit des Anwurfs hatte ihn überrascht. Gerade eben war man sich noch jovial begegnet, und nun eröffnete das Gegenober ein Vorwurfsfeuer. Aus dem Nichts, so schien es. Man kannte sich, flüchtig, aber länger. Guten Morgen – Auf Wiedersehen – Wie geht es der Familie – Was machen die Schlagzeilen: All das hatte ihren regelmäßigen Begegnungen den Schein der Vertrautheit gegeben.

Nun riss der Schein entzwei. Zu Boden schaute der kleinere Mann, als lägen da die Fetzen ihrer Konventionen, ihres vergangenen Einvernehmens, die Scherben des Verständnisses. Oberflächlich war es gewesen, doch kein Trug, keine Lüge. So war es ihm erschienen. Der andere, der mit diesen schrecklichen sechs Silben zum Riesen angewachsen war, zum Goliath der Ferne, hatte sich in Sekundenfrist aus jeder Vertrautheit herauskatapultiert. Und ihn, den kleineren Mann, verlegen gemacht, in einem Wimpernschlag ihn verstoßen aus der Gemeinde der Gleichwertigen, Gleichgesinnten. Anklage und Schuldspruch fielen zusammen in diesem Tribunal des Alltags, für alle erkennbar, alle hörbar. Warum sonst hätte der größere, der jüngere, der blonde Mann sonst just mit diesen sechs Silben die Stimme erhoben, so dass es jeder vernehmen, und den Abstand durch einen Schritt erweitert, so dass es jeder sehen musste? Er wollte ein Exempel statuieren in der Lobby.

Bewusst vielleicht nicht, aber unbezwingbar war aus dem Mitmensch der Widerpart geworden. Was, mag der kleinere Mann gedacht haben in diesen grauenhaften Sekunden, habe ich mir zuschulden kommen lassen? Er trug eine Maske, doch es schien, als schwitzte er dahinter. Er wich zurück, krümmte sich ein wenig, wurde leiser mit jedem Wort, das er heraus stammelte, schüchtern, stotternd, stolpernd. Er wollte sich erklären, gerne auch entschuldigen, aber was eigentlich hatte er sich zuschulden kommen lassen? Er fiel aus allen Wolken hinab auf Beton. Er war noch nicht geimpft.

Das verstand der andere, der Hiesige, der Ansässige ganz und gar nicht. „Und warum denn noch nicht?“ Er hatte für vieles, für fast alles Verständnis, er lebte in Berlin und tat es gern. Aber damit war wirklich eine Grenze erreicht. Auch ihm wurde es heiß unter der Virenschutzmaske. Da ging man jahrein, jahraus an dieser Pforte vorbei, grüßte sich, scherzte, „auf Augenhöhe“, jawohl, er hatte keine Vorurteile gegen türkischstämmige Deutsche, gar keine. Den Begriff „Gastarbeiter“ hielt er für rassistisch. Keiner Unterschriftenliste für mehr, für bessere, für nachsichtigere Integration hatte er sich je verweigert. Und nun das. Der Pförtner wollte sich nicht impfen lassen. Welch Ausmaß an Verstocktheit. Da blieb noch viel zu tun.

Die Zeit drängte. Er musste rasch hinein ins Gebäude, der andere heraus auf seinen Wachtposten. Sie würden sich wieder begegnen. In ein paar Stunden schon. Morgen auch und übermorgen. Der kleinere Mann würde stumm in seinem Tee rühren und nicht aufschauen. Der größere Mann würde rascher vorbeigehen und lauter telefonieren. Sie waren Fremde geworden. Der Marianengraben hatte sie verschlungen.

Herr Spahn, Professor Wieler und ihr Publikum

Kein Tag vergeht ohne Medienkonferenz des Bundesgesundheitsministers. Auch am heutigen Freitag stellte Jens Spahn sich den Fragen der Bundespressekonferenz. Als Überbringer schlechter Nachrichten hat Deutschlands oberster Corona-Manager Routine entwickelt. Leicht von den Lippen ging ihm die Bestandsaufnahme: „Die Lage bleibt angespannt. Die Fallzahlen steigen wieder.“

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So oder so ähnlich klingt es seit Monaten, unterbrochen von Schüben der Erleichterung. Mittlerweile ist es fast egal, ob die Sätze stimmen oder nicht: Die Botschaft hat sich erschöpft. Spahn dringt nicht mehr durch.

Dasselbe Schicksal widerfährt seinem Kompagnon auf dem Podium, Lothar Wieler. Der Chef des Robert-Koch-Instituts ist notorisch in Sorge – aus seiner Sicht zurecht, denn „die Fallzahlen steigen.“ Gemeint freilich sind stets und ausschliesslich die Zahlen der Inzidenz, der positiven Tests pro 100.000 Menschen.

Wie sollen diese nicht steigen, wenn sich das Testgeschehen dank Schnell- und Selbsttests intensiviert? Wieler gab zu Protokoll: „Durch die Selbsttests wird die Dunkelziffer sinken. Wir werden ja mehr Fälle ermitteln dadurch, und das wollen wir ja auch.“

Spahn und Wieler sind in einer Endlosschleife gefangen. Sie starren auf die eine Zahl, die aber an Aussagekraft verliert, desto beharrlicher sie zum Universalschlüssel der Pandemie erklärt wird. Monokausalität führt zur Monotonie. Das Publikum wendet sich ab.

Wenn sie ihren Ton und ihre Betrachtungsweise nicht ändern, führen Spahn und Wieler bald nur noch Selbstgespräche.

Angst ist keine Lebensform

Optimismus, sagt das Bonmot, sei nur ein Mangel an Information. Man müsse eine rosarote Brille tragen und weite Teile der Wirklichkeit ausblenden, um sich in dieser komplett wohlzufühlen. Man werde nie erwachsen, wenn man vor den Schattenseiten der Welt davonlaufe. Dummen Optimismus, blinden Optimismus, gefährlichen Optimismus: das gibt es. Wir leben nicht auf Wolke 7, und wer daran wider alle Erfahrung festhält, der wird zur Witzfigur, zum Tagträumer. Den belächelt man, den nimmt man nicht ernst. Schau dich doch um, entgegnet man ihm, dann werden dir die Augen aufgehen, ja übergehen vor all dem Elend, den Schwierigkeiten. Unerschütterliche Optimisten können unfassbare Nervensägen sein. Manche Probleme sind echte Probleme und nicht nur verpackte Chancen. Manche Krisen sind kein Geschenk, sondern führen schnurstracks in die Katastrophe. Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Foto: A. Kissler

Was es aber auch gibt: dummen Pessimismus, blinden Pessimismus, gefährlichen Pessimismus. In diesen Tagen bekommen wir eine Ahnung, was es heißt, unter dem Banner einer Düsternis zu leben, die noch die kleinste Freude niederdrückt. Weihnachten, sagt ein Ärztepräsident, könne zum „Fest mit Todesrisiko“ werden. Die Lage, sagt ein Bundespräsident, sei „bitterernst“. Ein Ministerpräsident aus Bayern erklärt, „es zerrinnt uns zwischen den Fingern“. Ein Ministerpräsident aus Sachsen weiß, dass beim medizinischen Personal „eine große Angst vor Weihnachten“ herrsche. Ein Ministerpräsident aus Thüringen rät zum Geburtsfest Christi, „einfach negativ bleiben“. Auch wenn damit sachlich korrekt beschrieben ist, dass negative medizinische Testergebnisse eine gute Botschaft sind, gilt das Motto weit über den konkreten Zusammenhang hinaus. Wir alle drohen uns im Negativen einzukapseln. Oder uns einspinnen zu lassen?

Vorsicht bleibt die Mutter der Porzellankiste, und Unvernunft macht nie gesund. An der Ernsthaftigkeit der jeweiligen Anlässe, deretwegen Minister- und Ärzte- und Bundespräsidenten zu bitteren Worten greifen, gibt es nichts zu deuteln. Es wäre eine Realitätsleugnung ganz eigener Art, hielte man solche und zahlreiche andere Äußerungen für unbegründet, die Gefahr, die sie beschwören, für eingebildet. Das wäre dann tatsächlich ruchloser Optimismus nach dem Muster jener Blumenkinder, die auf Schlachtfeldern Kanonen bekränzen und dadurch den Krieg hinfort zu zaubern meinen. Ein Risiko bleibt ein Risiko.

Dumm aber ist ein Pessimismus, der erst mit allem und dann nur noch mit dem Schlimmsten rechnet. Ein solcher Pessimismus raubt den Menschen alle Neugier, den Gedanken jede Kraft. Worüber sollte man sich den Kopf zerbrechen, wenn jeder Tag mit schicksalsergebener Gewissheit nur eine neue Weggabelung markiert, an der jedes Mal mit destruktiver Zuverlässigkeit ein Pfad in den noch tieferen Abgrund eingeschlagen wird? Der Mensch hat keinen Anlass, sich das Hirn zu zermartern, wenn das Resultat aller Überlegung schon im vornherein feststeht: Schlimm war’s, schlimm ist’s, schlimmer wird es werden. Der Mensch wird dann zum Spielball böser Zahlen, die er nur quittieren kann. Er wird zurückgestuft auf die Funktionsweisen Furcht und Fatalismus – und dann und wann eine kleine Erleichterung, eine Lockerung für das Gemüt im Lockdown des Kopfes.

Blind ist ein Pessimismus, der seine überwältigende Kraft aus einer starren Blickrichtung bezieht. Der komödiantischen Witzfigur des Optimisten, der vor jedem Abgrund die Augen verschließt und hofft, dass das Gewitter fern bleibt, wenn er nicht hinsieht, entspricht die tragische Gestalt des Pessimisten, der nicht aufhören kann, das Unheil zu fixieren – und nur das Unheil. Man kann ebenso in das Gelingen wie in das Untergehen verliebt sein. Letztere Liebe wird meistens erwidert. Zum Straucheln, wusste Kleist, braucht es nichts als Füße. Zum Untergehen nicht einmal die. Es reicht, bewegungslos die Augen auf ein Unglück zu heften, und schon wird es haften bleiben im Kopf, in der Seele. Der blinde Pessimist blendet wie der blinde Optimist alle Wirklichkeit aus, die seiner Weltempfindung widerspricht. Er richtet sich die Realität zu. Beide treiben dem Leben seine Neuheit und den Menschen ihre Neugier aus.

Gefährlich ist ein Pessimismus, der es sich im Teilnahmslosen einrichtet. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, dass das Schlimme des Schlimmeren Feind ist, wird man wehrlos vor jeder nächsten Gefahr. Ein neuer Standard ist ja gesetzt: die „große Angst“, die stete Negativität, der unwiderrufliche Ernst. Die Lagen mögen sich dann ändern – und jede Bedrohung erlischt irgendwann –, bleiben werden das Achselzucken, mit dem man sie hinnimmt, und die erlahmende Widerstandskraft. Gabelt sich ein Weg oft genug und wählt man dieselbe fatale Richtung, dreht man sich unweigerlich im Kreis. Der Circulus vitiosus ist nicht teuflisch, weil da ein Fluch waltet. Er ist teuflisch, weil und wenn der Mensch sich daran gewöhnt, dass der Kreislauf das Normale sei. Wer nur Böses und nichts Neues unter der Sonne erblickt, ergibt sich dem Bösen.

Der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe schreibt in seinem Roman „Von Zeit und Fluss“ über das „große Webstück aus blinder Grausamkeit, Hass, Schmutz, Lust, Tyrannei und Ungerechtigkeit, aus Freude, Zuversicht, Liebe, Mut und Hingabe, aus dem das Leben besteht und das die Welt ausmacht“ – das ganze Leben, die ganze Welt. Angst ist keine Lebensform. Frohe Weihnachten.

Weihnachten kommt immer so plötzlich

Das ironische Sätzlein hört man oft: Weihnachten kommt immer so plötzlich. Gemeint ist damit die offensichtlich himmelschreiende Diskrepanz zwischen einem fixen, jährlich wiederkehrenden Termin und unseren Anstalten, sich auf ihn einzustimmen, vorzubereiten, geschenketechnisch vor allem. Mann rennt am 23. Dezember panisch in die nächst gelegene Parfümerieabteilung? Weihnachten kommt ja immer so plötzlich. Frau druckt am Morgen des 24. Dezember panisch ein Konzertticket aus? Oh, dieses plötzliche Weihnachten!

Dabei ist, recht besehen, Plötzlichkeit das Erkennungsmal von Weihnachten. Womit niemand rechnen konnte, das hat sich ein für allemal wirklich ereignet, in der Nacht zu Bethlehem, damit es nun Jahr um Jahr auf uns zukommt. Was niemand erwartete, obwohl es verkündet worden war, überraschte, überschauerte die Menschen. Bis heute. Ein Weihnachten, das nicht plötzlich käme, wäre kein Ereignis mehr. Eine Nacht ohne Plötzlichkeit kann nicht geweiht sein. Sie wäre das Gegenteil, wäre Routine, Vorhersehbarkeit, langer Weg ohne Ziel. Kreis ohne Pfeil, Dunkelheit ohne Blitz, Erde ohne Segen.

Gestärkt ins neue Jahr / Foto: A. Kissler

Im zurückliegenden Jahr konnte ein neues politisches Sachbuch von mir erscheinen. Es dürfte das 14. gewesen sein, die kleineren mit eingerechnet. Auch das wird nie Routine: „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“ – die elektronische Fassung lässt sich auch noch unmittelbar vor der Bescherung beziehen, ganz ohne Panik, und als Antidot zu mancher Weihnachtspredigt.

Einige Male durfte ich 2019 zu Gast sein in der „Phoenixrunde“ des Fernsehsenders „Phoenix“, zuletzt am 21. November zur Zukunft der CDU, einmal im ARD-„Presseclub“, dreimal im Podcast „Morning Briefing“ von Gabor Steingart, zuletzt am 2. Dezember, als ich Botho Strauß aus Anlass von dessen 75. Geburtstag würdigte. All das hat mich sehr gefreut. Dass ich noch beim „Cicero“ bin und gern bin, dürfte den Wenigsten entgangen sein. Das Dreier-Gespräch über den Jubilar Fontane war gewiss ein Höhepunkt. Welcher „Konter“ bei cicero.de besonders gelungen ist, liegt freilich im Auge der Betrachterin.

Dass wir in erhitzen Zeiten leben und damit nicht der Klimawandel gemeint ist, legt uns, die wir öffentlich denken, eine Verantwortung auf: Einzustehen für das, was zu sagen nottut, sich nicht beirren zu lassen, nicht mutlos und nicht traurig zu werden – und zugleich die Contenance zu wahren. Der wunderbare Max Hermann-Neiße schrieb am 8. März 1930 aus Berlin an seinen Freund Friedrich Grieger: „Ministerpredigt gegen Individualismus – zum Kotzen!“

Von den vielen Lektüren hat mir jene der Aldous-Huxley-Biografie von Uwe Rasch und Gerhard Wagner einen neuen Kosmos erschlossen, schön und herb zugleich. Auch an entlegener Stelle trug sie Früchte, man lese nur nach zum inneren Zusammenhang von Trägheit und Spektakel. Huxley, dessen dreibändige Essayausgabe bei Piper ich nur empfehlen kann, schrieb 1935: „Die Politik ist eines jener Tätigkeitsfelder, die der Mensch gewählt hat, um sich wie ein wild gewordener Affe aufzuführen.“ Und 1937 uns allen ins Stammbuch: „Genaues Denken ist die Bedingung richtigen Verhaltens. Es ist überdies in sich selbst ein moralischer Vorgang; denn wer genau denken will, muss beachtlichen Versuchungen widerstehen.“

Was das neue Jahr bringen wird? Ich weiß es nicht, zwei Buchprojekte aber werden mich beschäftigen. Einmal, wie üblich fast, als den Autor eines politischen Sach- und Debattenbuchs, das ins Herz unserer schlingernden Zeit zielt. Und als den Herausgeber und Moderator eines europäischen Gesprächs über die Bedrohungen der Freiheit, derer wir heute gewahr werden, und die Notwendigkeit eines neuen Bürgertums. Bei Twitter, bei Instagram – Follower stets willkommen –, auf der Homepage und im Newsletter werde ich mit Neuigkeiten nicht hinter dem Berg halten.

So wünsche ich allen formidable Weihnachten, ein glamouröses Silvester, einen glücklichen Start ins neue, noch ganz und gar ungeschriebene Jahr 2020 hinein. Ganz gewiss werden da Plötzlichkeiten sein – und dennoch: „Wer feste Überzeugungen besitzt, darf gerade deswegen aufs Denken nicht verzichten.“ (Huxley)

Frische Widerworte allerorten

Mein neues Buch „Widerworte Warum mit Phrasen Schluss sein muss” erfreut sich weiterhin durchaus konstruktiver Aufnahme. Am 13. April 2019 besprach es der FAZ-Kollege Oliver Georgi, als Autor von „Und täglich grüßt das Phrasenschwein” selbst ein ausgewiesener Floskel-Experte, in der Sendung „Lesart” von Deutschlandfunk Kultur. Georgis Fazit: „Besonders in solchen Momenten, in denen Kissler auf der semantischen Ebene unerbittlich das Skalpell anlegt, ist sein Buch luzide. Und es ist lesenswert, wie er den Samen des Zweifels in die vermeintliche Widerspruchlosigkeit vieler Phrasen sät. Indem er sie vom Thron der Eindeutigkeit stößt, entlarvt er ihre Leere. (…) Sprachlich sind Kisslers Analysen brillant – ein Text, der die intellektuellen Sinne schärft.” In derselben Sendung nahm ich mir Georgis Buch vor und bilanziere: „Das Bewusstsein für die Bedeutung von kraftvoller, präziser, unverbogener Sprache wird wachsen, wenn wir uns des Schatzes neu bewusst werden, den wir in Händen halten und der Republik heißt. Georgis wichtiges Buch hilft bei dieser inneren Republikanisierung. Ich habe es gern gelesen, oft genickt und manchmal gelacht.”

In der Programmzeitschrift TV Hören und Sehen (Ausgabe 15) ist am 5. April ein zweiseitiges Interview mit mir abgedruckt unter der Überschrift „Liebe Politiker, warum könnt ihr kein Deutsch mehr? und der Unterzeile „Schwurbeln, schwafeln, schätzen: Der Medienwissenschaftler und Buchautor Alexander Kissler hat die ärgerlichsten Politiker-Phrasen entschlüsselt. Seine Erkenntnisse sind ernüchternd.”

In der Wochenzeitschrift idea Spektrum (Ausgabe 12 vom 20. März) urteilt Stephan Dreytza, das Buch sei eine „kluge Argumentationshilfe gegen hohle Phrasen”. Und im Magazin Cato (Ausgabe 3 vom 29. März) schreibt David Engels: „In diesem Sinne hat sich Alexander Kissler die unangenehme, aber unerlässliche Aufgabe gestellt, 15 zentrale Phrasen der letzten Jahre mit ebenso akribischer wie schonungsloser Genauigkeit exegetisch zu zerlegen”.

Freie Fahrt für Widerworte

Einen Monat hat mein neues Buch nun hinter sich auf dem offenen Ozean der Zu- und Abneigungen, der Lektüren, der Zuneigungen, der Zurückweisungen. Es lebt, das Buch, und das freut den Autor. So lebe denn weiter und lass von dir hören.

Am 21. Februar 2019 schon wurde es vorgestellt bei der österreichischen Rechercheplattform Addendum: „Den Versuch der Widerlegung unternimmt Alexander Kissler erfolgreich. Ein Faden zieht sich durch die 15 Kapitel: „das heikle Wort des unscheinbaren Wir“. Oft moralisch aufgeladen, als Appell ausgesprochen, geht es stets um eine dem Wir abzufordernde Leistung, um einen kategorischen Moralbefehl (bspw. Wir alle müssen offen sein für den Dialog mit anderen Kulturen und Religionen). Wer hinterfragt oder zweifelt, soll sich schämen: „Weltanschauliche Differenz wird zur Moralstraftat“.“

Am 26. Februar 2019 sprach ich auf Einladung von Addendum in Wien über die Themen des Buches. Es gibt einen Audiomitschnitt, und es gibt fabelhefte Fotos, deren eines ich hier gerne einfüge, Copyright Daniel Shaked/Addendum. 

Am 5. März 2019 war ich zu Gast im Podcast Morning Briefing von Gabor Steingart: „Der „Cicero“-Feuilletonist Alexander Kissler, der ein lesenswertes Buch („Widerworte: Warum mit Phrasen Schluss sein muss“) über die leere Sprache vieler Politiker verfasst hat, verteidigt das Recht der zugespitzten Meinungsäußerung und auch das Recht auf den schlechten Witz.“ Das muntere Gespräch darf gerne nachgehört werden.

Am 15. März 2019 gab das Buch dreimal Kunde und Echo. In der NZZ machte sich Reinhard Mohr Gedanken über den „Boom der politischen Phrase“ und griff aus diesem Anlass zu den Widerworten: „Phrasen seien eine «rhetorische Mehlschwitze», resümiert der «Cicero»-Redaktor Alexander Kissler in seinem neuen Buch.“ In der wöchentlich erscheinenden BILD Politik war ich mit einem ganzseitigen Gastbeitrag vertreten, der weitere Phrasen aufschlüsselte, etwa „Nah bei den Menschen“.  Und bei Lesering.de dachte Daniel Hohmann über die zufällige Namensgleichheit meines Buches mit einem Titel Alice Weidels nach: „Der Begriff „Widerworte“ ist in beiden Fällen anders auszulegen. Wo Alice Weidel widersprechend Einspruch erhebt, kritisiert Kissler ein bedeutungsschwangeres In-Szene-Setzen nahezu bedeutungsloser Überzeugungen.“

Am 16. März 2019 widmete Hans-Hermann Tiedje seine wöchentliche Kolumne „Richtigstellung“ in der Euro am Sonntag (Ausgabe 11) meinen „Widerworten“ und urteilte: „…ein intellektueller Kracher, jedes Kapitel ein Geschoss. (…) Zum Lesen sehr empfohlen, auch den Haltungsjournalisten.“ 

Am 21. März teilte Michael Klonovsky in seinem Blog Acta Diurna mit: „Der Floskel- und Phrasenschatz im besten Deutschland ever wächst jedenfalls proportional zum Goldschatz, den die Schiffe zu uns bringen, und der Cicero-Autor widmet sich diesem Phänomen mit bewundernswerter Sorgfalt.“ Feine Beispiele aus dem Buch finden sich ebenda.

Neues zu den „Widerworten“

Die ersten Rückmeldungen zu meinem neuen Buch „Widerworte“ sind da. Die Schriftstellerin Cora Stephan schreibt am 25. Februar 2019 bei achgut.com: „Kisslers Analyse, so elegant sie ist, tut weh. Man muss sich das am Stück antun, dieses Gestotter und Gestammel, die Wortblähungen, das nichtende Nichts. (…) Kissler versteht sich auf das Kunststück, dem Nichts Haken und Ösen einzuziehen, um es aufhängen zu können.“

Alexander Will gelangt am 26. Februar in der Nordwest-Zeitung zum Ergebnis: „In Zeiten der Framing-Diskussion kommt dieses Buch eben recht: Alexander Kissler (…) hat sich politische Phrasen vorgenommen. Die seziert er ebenso klug wie gnadenlos.“

In der Tagespost heißt es am 28. Februar bei Burkhardt Gorissen: „Mit fünfzehn exemplarisch ausgewählten Sätzen von „Wir schaffen das“ bis zu „Das ist alternativlos“ schlägt Kissler, mal pointiert, mal augenzwinkernd, der Konsensgesellschaft Wahrheiten um die auf Durchzug gestellten Ohren, dass selbst den eigentlich Kritikunempfänglichen bei gründlicher Lektüre das Hören, Sehen und Erkennen neu gelingen sollte. (…) Im gegenwärtigen deutschen Feuilleton gibt es kaum jemanden, der besser das große Blabla der opportunistischen Gauklertruppen entlarven könnte als er. Viele seiner Sentenzen sind Leuchttürme in der bedrohlich wachsenden intellektuellen Wüste.“

Ebenfalls am 28. Februar kam der Autor zu Wort. In der Weltwoche durfte ich mit Wolfgang Koydl über das Thema meines Buches sprechen: „Die Phrase ist eine verdichtete Rede, die zuspitzt und pointiert. Journalisten sind heute mehr denn je willige Abnehmer von Phrasen ebenso wie Produzenten und Händler von Phrasen. Das liegt auch am ökonomischen Druck. Immer weniger Journalisten schreiben unter immer grös serem Druck immer schlechtere Texte. Das Diktat der Zeit trifft auch Politiker. Je weniger Zeit ich habe, um nachzudenken, desto leichter greife ich zum Satzbau kasten der Phrase. Indem Journalisten die Phrasen der Politiker ungeprüft weiter tragen, geben sie Phrasen die falsche  Weihe des Arguments.“

Das Kauderwelsch der FDP – und die neue deutsche Affirmationslinke

Zur WirtschaftsWoche vom 22. Februar 2019 durfte ich als Gastautor einen Essay beisteuern. Er trägt den Titel „Schluss mit den Phrasen!” und gibt auch dem Kauderwelsch der FDP einen Nasenstüber mit: „Parteichef Christian Lindner favorisiert einen Full-Flavour-Liberalismus, unter dem man sich alles vorstellen soll, weil man sich nichts darunter vorstellen kann. Frei nach Lichtenberg: Wenn zwei Sprachen zusammenstoßen und es klingt hohl, muss es nicht allemal an den Sprachen liegen.” Was bei der gegenwärtigen Linken kollidiert, steht auf einem anderen Blatt, man denkt dort zunehmend in geistigen Immobilien und verherrlicht die Macht und das Bestehende und wird so schleichend reaktionär. Davon handelt mein „Konter” (Link) vom 21. Februar 2019.

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