Deutschland im Marianengraben
Manche Sätze tragen ein Fragezeichen, doch sie sind ein einziges Ausrufezeichen: „Und warum denn noch nicht?“, war ein solcher Satz. Ich hörte ihn unlängst mit mindestens drei Fragezeichen, sehr laut und sehr von oben ausgesprochen, doch es war keine Frage. Es war Ausdruck eines kolossalen Unverständnisses. Da tat sich binnen Sekunden eine Kluft auf, so tief wie der Marianengraben. Ein solches „Und warum denn noch nicht?“ wäre die angemessene Reaktion gewesen, hätte jemand ganz heiter eröffnet, er besitze zuhause einen Lottoschein, der zu einem Gewinn von zehn Millionen Euro berechtige, aber habe ihn seit zwei Jahren nicht eingelöst. Oder wenn jemand gelassen erklärt hätte, ihm stehe eine lebenslange Leibrente zu, aber er komme nicht dazu, sein Bankkonto anzugeben. Ja warum denn nicht? Was steht dem Großglück im Weg?
Doch es verhielt sich kolossal anders. Der Marianengraben verlief an anderer Stelle. Dass der Mann, der ihn gerade vermessen hatte, ihn von oben herab diagnostizierte, ist ihm nicht vorzuwerfen. Er war größer, jünger, blonder als sein Gegenüber, das ein Gegenunter war. Als solches stand es vor ihm, unter ihm und spürte die Silbenkanonade auf sich niedergehen: „Und warum denn noch nicht?“ Die Heftigkeit des Anwurfs hatte ihn überrascht. Gerade eben war man sich noch jovial begegnet, und nun eröffnete das Gegenober ein Vorwurfsfeuer. Aus dem Nichts, so schien es. Man kannte sich, flüchtig, aber länger. Guten Morgen – Auf Wiedersehen – Wie geht es der Familie – Was machen die Schlagzeilen: All das hatte ihren regelmäßigen Begegnungen den Schein der Vertrautheit gegeben.
Nun riss der Schein entzwei. Zu Boden schaute der kleinere Mann, als lägen da die Fetzen ihrer Konventionen, ihres vergangenen Einvernehmens, die Scherben des Verständnisses. Oberflächlich war es gewesen, doch kein Trug, keine Lüge. So war es ihm erschienen. Der andere, der mit diesen schrecklichen sechs Silben zum Riesen angewachsen war, zum Goliath der Ferne, hatte sich in Sekundenfrist aus jeder Vertrautheit herauskatapultiert. Und ihn, den kleineren Mann, verlegen gemacht, in einem Wimpernschlag ihn verstoßen aus der Gemeinde der Gleichwertigen, Gleichgesinnten. Anklage und Schuldspruch fielen zusammen in diesem Tribunal des Alltags, für alle erkennbar, alle hörbar. Warum sonst hätte der größere, der jüngere, der blonde Mann sonst just mit diesen sechs Silben die Stimme erhoben, so dass es jeder vernehmen, und den Abstand durch einen Schritt erweitert, so dass es jeder sehen musste? Er wollte ein Exempel statuieren in der Lobby.
Bewusst vielleicht nicht, aber unbezwingbar war aus dem Mitmensch der Widerpart geworden. Was, mag der kleinere Mann gedacht haben in diesen grauenhaften Sekunden, habe ich mir zuschulden kommen lassen? Er trug eine Maske, doch es schien, als schwitzte er dahinter. Er wich zurück, krümmte sich ein wenig, wurde leiser mit jedem Wort, das er heraus stammelte, schüchtern, stotternd, stolpernd. Er wollte sich erklären, gerne auch entschuldigen, aber was eigentlich hatte er sich zuschulden kommen lassen? Er fiel aus allen Wolken hinab auf Beton. Er war noch nicht geimpft.
Das verstand der andere, der Hiesige, der Ansässige ganz und gar nicht. „Und warum denn noch nicht?“ Er hatte für vieles, für fast alles Verständnis, er lebte in Berlin und tat es gern. Aber damit war wirklich eine Grenze erreicht. Auch ihm wurde es heiß unter der Virenschutzmaske. Da ging man jahrein, jahraus an dieser Pforte vorbei, grüßte sich, scherzte, „auf Augenhöhe“, jawohl, er hatte keine Vorurteile gegen türkischstämmige Deutsche, gar keine. Den Begriff „Gastarbeiter“ hielt er für rassistisch. Keiner Unterschriftenliste für mehr, für bessere, für nachsichtigere Integration hatte er sich je verweigert. Und nun das. Der Pförtner wollte sich nicht impfen lassen. Welch Ausmaß an Verstocktheit. Da blieb noch viel zu tun.
Die Zeit drängte. Er musste rasch hinein ins Gebäude, der andere heraus auf seinen Wachtposten. Sie würden sich wieder begegnen. In ein paar Stunden schon. Morgen auch und übermorgen. Der kleinere Mann würde stumm in seinem Tee rühren und nicht aufschauen. Der größere Mann würde rascher vorbeigehen und lauter telefonieren. Sie waren Fremde geworden. Der Marianengraben hatte sie verschlungen.