Kategorie: Tagebuch

Guttenbergsche Geschichtsprophetie

Von zweierlei Art kann das akademische Vorwort sein. Oft dient es dem Dank an die Lehrer und stellt die Arbeit umständlich unter den Scheffel, damit sie desto heller erstrahle. Solches Vorwort ist das Graubrot an Deutschlands Universitäten und die Regel.

Manchmal aber schwingt das Proömium sich auf in die Höhen eines Manifests, hebt ab in den Orbit der Globaldeutung, des ein und für alle Mal und sehr zu Recht Gesagten über Mensch, Welt, Kosmos, Geschichte. Von solcher Art ist das Vorwort, mit dem Karl-Theodor zu Guttenberg seine juristische Dissertation einläutete. Sie heißt „Verfassung und Verfassungsvertrag – Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU“.

Wer heute, da der Verteidigungsminister heikel jettet zwischen Hindukusch und Berlin, das 2009 publizierte Bayreuther Werk noch einmal hervorholt, der begreift: Nur in der internationalen Politik konnte dieser Deutungswille eine Form findet. Zu Guttenberg erweist sich auf den zwei sentenzensatten Seiten als Meister der Verknappung.

Essenz ist hier alles: das an Spengler wie Toynbee mahnende morphologische Denken, die Melancholie, das Schaudern zwischen Schimmer, Schemen und dem „Blick nach innen“. Zu Guttenberg hebt nach einer knappen Exposition des Themas – „Europa und die USA“ – an mit dem „Schimmer der Ernüchterung“, der „kleinen wie epochalen Erschütterung“ und „mancher Tradition“, die der Nostalgie gewichen sei. Gemeint ist besagtes Verhältnis von Alter und Neuer Welt.

Dem Historiker klassischer Prägung, der wie zu Guttenberg in der Geschichte ein Gewebe erblickt aus „Kraftfeld“ und „gestaltenden Persönlichkeiten“, wird nicht bang. Er weiß, dass Geschichte ein zyklisch‘ Ding ist und dennoch immer nah am Scheitern. Europa habe seinen „Pfad“, lesen wir, „eklektisch eigen beschritten“, den Weg der Verfassung nämlich, und sei „wiederkehrend am Scheideweg“: „Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen?“

Die asthmatische Rede geht vom europäischen Verfassungsvertrag, der als „Vertrag von Lissabon“ keine Verfassung geworden ist. Eine „Zäsur“ ortet zu Guttenberg, ohne zu verschweigen, dass Zäsuren wie Scheidewege, mögen sie uns auch erschüttern und ernüchtern, „traditionell paradox“ auf Kontinuität deuten: „In jeder noch so brachialen Ablehnung“ sei „immanent der Fortgang angelegt.“ Die Historie lässt sich nicht betrügen, sie geht über den Menschen hinweg. Der Historiker ist in zu Guttenbergs Perspektive ihr rückwärtsgewandter Prophet, nicht ihr Gestalter.

Alles bleibt sich gleich im Haus der Sprache, das hier ein Haus des ganzen Seins sein soll. Wer Geschichte studiert, wie sie hier studiert wird und wie sie etwa im Kaiserreich überall gelehrt worden ist, der steht immer kurz davor zu verzweifeln und zweifelt dann eben nicht. Ihm bleibt das Los auferlegt, noch in den Adverbien, die „demzufolge“ heißen und „indes“ und „gleichwohl“ und „nunmehr“, dem Einst die Treue zu halten.

Zu Guttenberg weiß: Beitragen kann er nur „eigenes Gemurmel“, entstanden trotz „intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse“. Im Winter 2008, als er das Vorwort schrieb, war er bekanntlich Generalsekretär der CSU, zuvor Vorsitzender des CSU-Bezirksverbandes Oberfranken.

Wenn es abschließend heißt, der Verfasser habe eine „verwegene Charakter- und Lebensmelange“ einschließlich einer „beklagenswerten Eitelkeit“, dann ist dieses Bekenntnis mehr als eine Captatio benevolentiae. Karl-Theodor zu Guttenberg müssen wir einen Aphoristiker und Geschichtsmorphologen nennen, den Kairos suchend, Kairo findend.

Mundschenk Merkel und die Wechselwähler

Im pfälzischen Neustadt hat man dem Elwedritsche ein Denkmal errichtet. Der Elwedritsche ist ein scheues Tier. Man hat ihn kaum je gesehen, obwohl Jahr um Jahr sich eine Jägersmeute auf den Weg macht. Sie zieht aus in die pfälzischen Wälder, will das Wesen im Unterholz aufspüren. Fliegen kann der Elwedritsche nicht, obwohl er Flügel hat. Springend, hüpfend muss er sich bewegen, hakenschlagend so schnell, dass manche gar behaupten, es gäbe ihn gar nicht. Das aber wäre gelogen.

Der Elwedritsche von Berlin heißt Wechselwähler. Gewiss, es muss ihn geben, doch unfassbar scheu ist auch er. Kaum hat sich eine Partei auf die Jagd nach ihm begeben, nimmt er Reißaus. Weil das traditionelle Unterholz, Milieu genannt, schwindet, schlage der Wechselwähler mal Haken nach links, mal nach rechts, sei nie da, wo man ihn erwartet.

Die SPD erfand einen „Basta“-Kanzler, um den Wechselwähler, den man weit jenseits des klassischen Proletariertums vermutete, an sich zu binden: Das Experiment missglückte. Die FDP zog sich einen Spaßvorsitzenden heran, der dem Wechselwähler zeigen sollte, wie schön es doch sein kann, wenn man sich beim Geldverdienen auf die Schenkel klopft: Das Experiment misslang. Die ehemalige SED-PDS bot dickschädligen Kommunisten ein Heim, um sich für das westdeutsche Schaufenster heraus zu putzen: das Experiment wird scheitern.

Einzig Angela Merkel weiß es besser. Ihre Partei, derzeit CDU gerufen, stimmt einen Lockruf an namens „Berliner Erklärung“. Nach dieser neuen Melodie will man tanzen, um den Wechselwähler zu beeindrucken: „Weniger als 25 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler sagen heute, für sie käme nur eine einzige Partei in Frage. Es wird daher mehr denn je entscheidend darauf ankommen, die eigenen Stammwähler zu binden und neue Wähler hinzu zu gewinnen. Wahlen werden in der Mitte gewonnen.“

In der Mitte also muss der Wechselwähler sitzen. Dort sitzt er und freut sich ganz ungemein, dass die CDU nun Ja sagt zu „allen Schichten und Gruppen“ und also auch zu ihm. Er lauscht der „Berliner Erklärung“ und freut sich noch mehr, dass die CDU alle „bisherige Wählerinnen und Wähler der SPD“ gewinnen will, „die vom Linksruck dieser Partei enttäuscht sind“ und auch die „Zuwandererfamilien“, dass ferner der CDU „die Bewahrung der Schöpfung ein besonderes Anliegen ist“, ebenso „eine internationale Finanztransaktionssteuer“.

Der Wechselwähler ist demnach ein zoon politikon mit schlechten Manieren. Er nascht von jedem Tisch, auf dem ihm gerade aufgetragen wird. Es macht ihm nichts aus, sich mit „allen Schichten und Gruppen“ an derselben Tafel wiederzufinden. Er ist gerne wie jeder – solange ihm der Eindruck vermittelt wird, er sei etwas ganz Besonderes. Er mag, genäschig, wie er ist, mal dieses, mal jenes, und wenn alles serviert wird, findet er gewiss das Richtige für sich. Die Köchin lässt ihn nicht darben, stets dampfen die Kessel, an alle ist gedacht und also auch an ihn.

So stellt der Wechselwähler aus parteistrategischer Sicht sich dar. Kein einnehmendes Wesen hat er. Bedient will er werden, und die Politik bedient gerne, gibt den Mundschenk der Masse. Noch jemand ohne? Nichts ist aus, alles ist da, kein Problem, komme gleich, komme gern!

Es ist der traurige Unernst, ist das Misstrauen gegen sich selbst, das die „Berliner Erklärung“ zu einem so miserablen Stück Papier macht. Hier ruft eine Partei, die an sich selber zu verzweifeln droht, ganz pathetisch und mit viel Tremolo in der Stimme: Habt uns lieb! Wählt uns! Von uns bekommt ihr alles!

Das mag den einen oder anderen aufhorchen lassen. Schnell aber wird der Wechselwähler aufstehen, zu schwer sein für jeden Gedanken und den Schlaf des Vergessens schlafen. Wenn er aufwacht, wird er von nur einem Vorsatz getrieben sein: Nie wieder ein solches Gelage. Diese Köchin merk’ ich mir. Und dann beginn schönere, ernstere und viel vernünftigere Tage.

In der Panikfalle

Also sprach die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache: „Wir können nicht erwarten, dass der Wirtschaftseinbruch schnell wieder vorbei ist. Manches wird gerade im neuen Jahr erst noch schwieriger, bevor es wieder besser werden kann.“ Also ergänzte wenig später Parteifreund Wolfgang Bosbach: In einem halben Jahr schon werde auf Deutschlands Flughäfen der Körper- oder Nacktscanner probeweise eingesetzt. „Zügige Antworten“ seien beim „Thema Flugsicherheit“ gefragt.

CSU-Fraktionskollege Hans-Peter Uhl sekundierte: „In Zeiten des Massen-Tourismus können wir auf Körperscanner nicht verzichten, um Terroristen aus dem Strom der Fluggäste schnell herauszufischen.“ Die Niederlande und Nigeria haben sich bereits dazu entschlossen, Italien und Großbritannien wollen es ihnen gleich tun. Uhl weiß, man kann Bilder auswerten, „ohne dass Sicherheitsbeamte sie zu sehen bekommen. Erkennt der Rechner einen versteckten Gegenstand, gibt er ein Warnsignal, und der betroffene Passagier wird von Hand durchsucht.“

Vor wenigen Tagen schien die Wirtschaftskrise bereits hinter uns zu liegen. Der Chef-Volkswirt der Allianz prophezeite „ein gutes Konjunkturjahr für die deutsche Wirtschaft“, konkret ein Wachstum von 2,8 Prozent. „Das wäre das stärkste Plus seit 2006.“ Die Kanzlerin selbst jubelte im August mit, als ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 0,3 Prozent im zweiten Quartal als Epilog der Krise galt.

Nun ist Merkel wieder sehr in Moll gestimmt – vergleichbar ihrem Ressortkollegen Rösler, der sich Anfang Dezember öffentlich gegen Schweinegrippe impfen ließ. Der „sicherste und wirksamste Schutz“ gegen das H1N1-Virus sei eine solche Impfung. Einen „Impfgipfel“ berief er ein. Die Mediziner sollten sich rasch informieren, die Patienten aber gedulden, nicht drängeln, jeder komme dran. Einen Monat ist das her.

Heute verhandelt die Regierung mit der Pharmaindustrie, um den Impfstoff Pandemrix kostengünstig zurückgeben zu können. In Deutschland sollen im zurückliegenden Jahr 132 Menschen der Schweinegrippe zum Opfer gefallen sein – also etwa 0,00165 Promille der Bevölkerung. Die Pandemie hat nicht stattgefunden. Die Wirtschaft hat bisher auch nicht kollabiert, Pauperismus ist anderswo, Depression war einmal. Nicht anders wird es der Jagd nach den menschenwürdeschonenden Nacktbildern für Computeraugen ergehen. Kein Halali wird da erschallen.

Die Politik steckt in der Panikfalle. Ein Durchlauferhitzer ist sie geworden. Nachrichten werden nach dem Muster einfacher Reiz-Reaktionsmechanismen in politische Reflexe übersetzt. Der Umweg über das  Gehirn ist nicht vorgesehen. Jedem Problem und jeder Problemvermutung wird mit markigen Worten begegnet, deren Halbwertszeit nach Wochen rechnet.

Immer lautet der Refrain, da dürfe man sich keine Zeit lassen, immer heißt es in der Strophe, wenn man nur könnte, wie man wollte, wäre die Welt eine bessere. Allein die politischen Mitbewerber wüssten nicht, was die Stunde geschlagen hat. Das Bild des Machers will die Menge sehen, und sie bekommt ein Panoptikum energischer Verkünder und Durchblicker geliefert, die sich gegenseitig auf den Zehen stehen.

Die erste Szene des neuen Stücks von Botho Strauß, „Leichtes Spiel“, trägt den Titel „Paniktag“. In einem weitgehend leeren Supermarkt treffen sich „Die Ängstliche“ und „Der linkische Mann“. Sie ist zu spät, die Regale sind wie leergefegt. Er hingegen hat die Meldungen in den Nachrichten, die auf eine allgemeine Drohung deuten, gar nicht gehört. Und so kaufen sie, was noch übrig ist, Topflappen im Dutzend, aber keine Handtücher. Es ist mal wieder einer von den Paniktagen, an denen man den Schauder konsumiert wie sonst das Dosenbier oder den Kurzurlaub.

Wie war das noch mal mit der Vogelgrippe, mit BSE und saurem Regen?

Die Käßmann-Krise

Ein großes Paket lag unter Deutschlands Weihnachtsbäumen. Es enthielt die Forderung, die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen, die Forderung, das Betreuungsgeld nicht einzuführen und stattdessen die staatliche Ganztagsbetreuung auszubauen, die Forderung, den Castingshows im Fernsehen den Boden zu entziehen. Gepackt und geschnürt worden war das Paket von Margot Käßmann.

Die so reich ihr Land beschenkende Frau gab unlängst zu Protokoll, sie wolle „24 Stunden am Tag Bischöfin“ sein. Also muss wohl auch dem Paket mit den handelsüblichen politischen Forderungen ein bischöflicher, am Ende gar christlicher Sinn innewohnen. Bischöfin ist Margot Käßmann seit 1999 und seit Oktober 2009 zudem Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche. Gemeinhin wird sie Deutschlands ranghöchste Protestantin genannt.

Wie begründet sie ihre politischen Forderungen? In Afghanistan herrsche Krieg, „Krieg zieht immer Unrecht und Gewalt nach sich“, also dürfe die Bundeswehr sich nicht daran beteiligen. Das Betreuungsgeld, das von 2013 an jene Eltern erhalten sollen, die ihre kleinen Kinder zu Hause erziehen, könnte „ein Anreiz für manche Eltern sein, Kinder gerade nicht einer Bildungseinrichtung anzuvertrauen.“

Außerdem entspreche ein „Familienbild nicht mehr der Realität“, wonach Eltern für die Kinder kochen und mit ihnen Hausaufgaben machen. Drittens sei in Castingshows und verwandten Formaten der „programmierte Tabubruch“ das einzige Ziel, werde die Menschenwürde nicht hinreichend beachtet.

Es war keine Sternstunde des Protestantismus, als dieser sich als Deutschlands autoritäre Leitreligion verstand und die Nähe des Throns ganz selbstverständlich suchte. An die für überwunden geglaubte Allianz von Staatsmacht und Nationalkirche erinnert das Käßmannsche Credo, die Kompetenz für Kleinkinderbetreuung ganz dem Staat zuzuschreiben. Die „Realität“ gebiete es.

Das heißt doch wohl: Weil flächendeckend keine Mutter, kein Vater sich zu Hause um seinen Nachwuchs kümmern kann oder will, muss der Staat einen Normalfall etablieren, der die Minderheit der selbst erziehenden Eltern marginalisiert, wenn nicht gar unter Generalverdacht stellt. Die Protestantin traut dem Staat all jenes Gute zu, das die Eltern verspielt haben sollen.

Das Credo vom Pazifismus setzt ebenfalls bei einer „Realität“ an. Krieg ist ein schmutziges Geschäft, wer wollte es bestreiten. Ihm zu wehren ist Christenpflicht. Abermals jedoch ist die nationale Optik bezeichnend. Die Bundeswehr soll aufhören, sich am Krieg am Hindukusch zu beteiligen – völlig ungeachtet der Frage, ob nach dem Ausscheiden der Soldaten die Unrecht und die Gewalt und das Töten tatsächlich ein Ende haben werden. Zumindest kein deutsches Blut soll mehr fließen. Käßmann will „mit zivilen Mitteln Frieden schaffen, gerade in einem so gespaltenen Land.“ Der Realitätstest für diese Hoffnung steht aus.

Die Kritik an entwürdigenden Fernsehsendungen kann sich mit dem Verweis auf die Menschenwürde auf ein Kriterium berufen, das aus der christlichen Tradition hervorgegangen ist. Begründet indes wird es nicht christlich, sondern mit Blick auf die sozialen und psychologischen Nebenfolgen der televisionären Stigmatisierung Minderjähriger: „Wie sollen solche Kinder am nächsten Tag wieder mit Selbstbewusstsein in die Schule gehen?”

Es war also eine weltliche Predigt, war ein säkulares Sinnieren, das die Ratsvorsitzende am Hochfest der Geburt Christi massenmedial übermittelte. Der Cantusfirmus war strikt politisch und sehr deutsch. Weder der wahrlich internationale Charakter des Festes noch dessen Heilsbedeutung, von der doch Christen überzeugt sein müssten, fand sich wieder im Politjargon der Fachfrau.

War es nicht der urevangelische Glaubenszeuge Johann Sebastian Bach, der im Oratorium zu Weihnachten dessen Aussage ganz anders und sehr prägnant verdichtete? „Denn Christus hat zerbrochen, was euch zuwider war.  Tod, Teufel, Sünd‘ und Hölle sind ganz und gar geschwächt. Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.”

Wie anders klang doch Käßmann anno 2009 selbst in ihrer Weihnachtspredigt zu Hannover: Der Inhalt des Weihnachtsfestes bestehe darin, dass Gott „mitten unter uns ist wie ein Freund oder eine Schwester.“

Mit Margot Käßmann ist der deutsche Protestantismus in eine fundamentale Krise eingetreten. Aus Transzendenz  wird Politik, aus Theologie Gesellschaftskritik, aus Christentum Sittlichkeit. Als Krise kann die neue Ägide  zweierlei sein: der Durchbruch zum Neuen oder bloß der Abbau des Alten.

Das Klima, die Sache mit Kundus und die Gier nach Ewigkeit

Die großen K’s beherrschen den Augenblick: Kundus und Krise, Kopenhagen und Klima. In beiden Fällen kommt für den Betrachter ein fünftes K hinzu, das die Dinge undurchdringlich macht, die Komplexität. Niemand von uns war dabei, sintemal beim Tanklastzugbombardement in Kundus, niemand von uns wird dabei sein, wenn das Klima endgültig die Skeptiker oder die Hysteriker oder die Bedächtigen wird bestätigen.

Ganz andere Menschen als wir werden schmelzende Polkappen oder nichts Besonderes oder gar eine neue Eiszeit gewärtigen. Das vergangene Ereignis wird sich in seiner Komplexität nie so weit reduzieren lassen, dass alle Fragen sich klären. Die Zukunft wird sich nie so akkurat voraussagen lassen, dass die Debatten enden und irgendjemand das letzte Wort hat.

Erst das verschwiegene, das sechste K bildet den gemeinsamen Nenner: die Katastrophe hinter alldem. Das epidemisch wachsende Unbehagen an den Vorfällen zu Kundus verbirgt eine Urangst. Dass kein Krieg sei, nicht dort und grundsätzlich nirgends, wünschen wir uns. Und wenn schon ein Krieg oder eine kriegsähnliche Auseinandersetzung sein muss, möge es bitte keine Opfer geben aus Fleisch und Blut, nur Farben, die beim Blick durch die Kamera explodieren, nur Umrisse, die ihre Form verlieren, berstende Linien, kollabierende Kreise unter dem Druck der Verhältnisse. Ein Strategiespiel, keine Katastrophe soll der „Krieg 21“ sein.

Auch „Klimaleugner“ wie „Klimahysteriker“, als welche man sich wechselseitig bezichtigt, operieren vom selben verleugneten Grund aus. Niemand, der nun so laut das Wort erhebt, wird sich je für seine Prophetie rechtfertigen müssen. Wenn tatsächlich das von Menschen verursachte Kohlendioxid einen Anteil von maximal drei Prozent an der Gesamtmenge ergibt, ist womöglich der „Treibhauseffekt“ ein Schauermärchen.

Ebenso wenig aber kann der gemeine Nachrichtenkonsument das Gegenteil ausschließen: dass des Menschen Industrie die Atmosphäre irreversibel vergiftet hat, zum Schaden für Flora, Fauna, Homo sapiens.

Beide Fraktionen engagieren sich über jedes Debattenmaß hinaus, weil eine gemeinsame Schreckensvision sie quält, ein Bild, das im Gegensatz zu ihren so unterschiedlichen Voraussagen untrüglich wahr werden wird: alles endet. Die Erde wird es eines Tages nicht mehr geben, und wie jeder einzelne Mensch in Bezug auf seine Lebensspanne will das die Menschheit als Gattung nicht wahrhaben. Man will das Enden hinausschieben, am liebsten verhindern, indem entweder man dem „Klimatod“ entgegenarbeitet oder bestreitet, dass es diesen je geben wird.

An irgendetwas wird der Planet sterben. Er ist kein Ding, das unter idealen Umständen endlos bestehen kann. Er wird eines fernen Tages nicht mehr sein. Der Mensch wird verschwinden, die Erde vergehen. Diese lange Perspektive befreit nicht von der Verantwortung, ist kein Persilschein für einen Massenegoismus der Gegenwart zulasten der Zukunft. Wohl aber zeigen die Aufgeregtheiten dieser Tage, dass der Mensch wieder einmal schrill wird und unehrlich, wenn er mit dem Enden konfrontiert wird. Er wünscht sich Ewigkeit und tut alles, um dieser Illusion die Treue zu halten.

Insofern hat die Klimadebatte ebenso wie etwa der Streit um die Sterbehilfe Stellvertreterfunktion. Sie wird geführt, damit wir im Reden und Zetern vergessen, wie machtlos wir sind im Angesicht des Endens. Viel wäre gewonnen, sähen wir darin keine Katastrophe mehr, sondern das letzte Kapitel einer Geschichte, an der wir alle schreiben.

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