Kategorie: Tagebuch

Offener Brief an Norbert Lammert

Lieber Bruder Norbert,

ich nehme mir die Freiheit, den Präsidenten des Deutschen Bundestages zu duzen; nicht an ihn nämlich ist dieser Brief gerichtet, sondern an den „engagierten katholischen Christen“, der gerade eine Kampagne für die Zulassung katholischer verheirateter Männer zur Priesterweihe gestartet hat. Ich schreibe Dir, weil ich derselben Kirche angehöre, und ich schreibe Dir öffentlich, weil auch Du den öffentlichen Weg gewählt hast, um an die deutschen Bischöfe eine „Bitte“ heran zu tragen: Sie mögen sich „vor allem in Rom mit Nachdruck“ dafür einsetzen, dass „viri probati“ Priester werden dürfen.

Du, lieber Bruder Norbert, schreibst, Du seiest ebenso wie Deine Mitstreiter aus der CDU getrieben von „lebenslanger kirchlicher Verbundenheit, tiefer Sorge und wachsender Ungeduld“. Dass letztere nicht eben ein starkes Motiv ist – auch ich bin zum Beispiel wachsend ungeduldig, wann es endlich einen ausgeglichenen Staatshaushalt geben wird –, kannst Du mir gewiss zugestehen. Ungeduld ist eine Temperatur des Inneren, die sich auf törichte ebenso wie edle Ziele richten kann. Persönliche Ungeduld ist manchmal nahe am Trotz und somit an der Unreife und also ganz gewiss in diesem weltkirchlich brisanten Konflikt nicht maßgebend.

Tiefe Sorge treibe Dich um, lese ich. Worüber bist Du tief besorgt? Über die „besorgniserregende Zunahme des Priestermangels“ in Deutschland, über die „Not vieler priesterloser Gemeinden“, aus der ein „seelsorgerischer Notstand“ resultiere. Du verweist darauf, dass die Zahl der „Geistlichen in der Pfarrseelsorge“ seit 1960 in Deutschland von 15.500 auf 8500 zurückgegangen sei, also um 45 Prozent.

Du sagst nicht, dass in derselben Zeit der Anteil der sonntäglichen Gottesdienstbesucher unter den Katholiken von 46 auf 13 Prozent kollabierte, also um 70 Prozent einbrach. Der Rückgang an praktizierenden Katholiken war also wesentlich stärker als der Rückgang an Priestern. Sollte uns das nicht stärker umtreiben? Ist die Verdunstung des Glaubens nicht der dramatischere Befund als die wachsende Entfernung zwischen den Stätten sonntäglicher Eucharistiefeier?

Das nämlich, lieber Norbert, scheint Dich vor allem zu beschweren: Dass Gläubigen, die das „Recht auf die sonntägliche Messfeier“ wahrnehmen wollen, dieser Wunsch oft „unverhältnismäßig erschwert“ werde. Von der Sonntagspflicht sprichst Du nicht, aber von den erschwerten Bedingungen, sonntags zur Messe zu gelangen.

Verhältnismäßigkeit ist ein Begriff aus der Jurisprudenz. Er meint die Angemessenheit staatlichen Verhaltens gegenüber dem einzelnen Staatsbürger und ist also in einer theologischen Erörterung fehl am Platz. Ist es in Zeiten fast maximaler Mobilität „unverhältnismäßig“, fünf oder zehn oder mehr Kilometer zurückzulegen? Ist es „unverhältnismäßig“, vielleicht gemeinsam sich aufzumachen zum Höhepunkt kirchlichen Lebens, zur Feier von Wochenanfang und Auferstehung, zur persönlichen Begegnung mit dem Herrn der Geschichte und des Kosmos, dem Erlöser? Sind Christen Menschen, die nur zu „verhältnismäßigen“ Einschränkungen ihrer Bequemlichkeit bereit sind, nicht aber zur Liebestat, die auch opfernd sich verschenkt? Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit hilft uns nicht weiter.

Im Ganzen, lieber Norbert, argumentierst Du soziologisch und ergo quantitativ und strikt säkular. Darf eine Kirche, die Kirche sein will und der Du Dich lebenslang verbunden fühlst, sich solchen Argumenten öffnen? Du erwähnst eine Umfrage, der zufolge 87 Prozent der Deutschen das „Eheverbot für das Priesteramt“ für „nicht mehr zeitgemäß“ halten. War Jesus zeitgemäß? Hätte man vor 2000 Jahren eine Umfrage im Heiligen Land gemacht, wofür die Menschen ihn hielten und ob man seiner Botschaft folgen solle, hätten gewiss mehr als 87 Prozent ihn außer Landes gewünscht, den „Störenfried“. Und war das „zeitgemäße“ Christentum nicht zu allen Zeiten ein von Christus möglichst weit entferntes Christentum, das mit der Macht kungelte, mit dem Staat, mit Kaiser, Zar und Führer?

Außerdem verblüfft mich, lieber Norbert, der leicht anmaßende Ton, mit dem Du den „seelsorgerischen Notstand“ allein an der hie und da ausgedünnten Zahl der Eucharistiefeiern meinst festmachen zu können. Sind wirklich nur geweihte Priester Seelsorger? Bist Du noch nie Diakonen begegnet, wie es sie gottlob reichlich gibt? Traust Du keinem anderen gemeindlichen Mitarbeiter zu, seelsorgerisch zu wirken, als nur dem Priester?

Schließlich hat mir noch niemand – auch Du nicht, lieber Norbert – die Frage beantwortet, warum es in jenen evangelischen, altkatholischen oder sonstigen christlichen Gemeinschaften, die den Zölibat nicht kennen, keineswegs boomt, sondern der Glaube noch weit rascher sich verzieht. Auch um den Nachwuchs steht es dort keineswegs leuchtend bestellt.

Katholische Priester folgen Christus auch insofern nach, als sie dessen Ehelosigkeit sich zur eigenen Lebensform erwählen. Sie setzen dadurch, im Unterschied etwa zu Politikern, die sich qua Pressekonferenz selbst zum Privatier erklären können, radikal und mit Haut und mit Haar und ganz freiwillig lebenslang auf diesen Christus. Manchmal denke ich, der Zölibat wird nur deshalb von nicht-zölibatär lebenden Menschen angegriffen, weil sie es nicht ertragen, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die leibhaft beweisen, dass es auch im 21. Jahrhundert lebenslange Treue, lebenslange Eindeutigkeit geben kann. Jeder katholische Priester ist ein wandelnder Einspruch gegen die Allmacht der Diesseitigkeit.

Du, lieber Norbert, trägst nun leider dazu bei, diesen Einspruch um Christi Willen herabzusetzen, aus persönlicher Ungeduld und in soziologischer Perspektive. So aber relativierst Du Christus selbst. Darum habe ich Dir geschrieben.
In brüderlicher Verbundenheit,

Alexander Kissler.

Vier Schanzen und die Naturaustreibung

Die Natur ist ja so schön, wäre sie nur nicht in der Natur: Diesen Stoßseufzer hat schon jeder einmal angestimmt, dem ein Regen ein Picknick verhagelte, der beim Kraxeln sich die Haxen verhob oder dessen Urlaubspläne dank Schnee, Blizzard, Hochwasser ganz andere Umrisse annahmen. Natur bleibt unkalkulierbar, mag der Mensch sie noch so sehr einhegen und verregeln und beziffern.

Die Natur geht nie ganz auf in den ökonomischen Berechnungen, als die wir unser Leben begreifen. Sie sperrt sich gegen Vermenschlichungen jedweder Art und also auch gegen ihre Übersetzung in Zahlen. Dummerweise aber braucht der Mensch die Natur bei einer seiner liebsten verziffernden Beschäftigungen, dem Sport. Fußball ohne Gras, Marathon ohne Sonne, Schi ohne Schnee sind recht unvollkommene Spektakel. Und deshalb verfielen die Macher der Vierschanzentournee nun auf einen genialischen Einfall. Eine brandneue „Windregel“ soll mit den Launen von Gaia Schluss machen.

Erstmals 2011 wird der von den leichtgewichtigen Schifliegern so begehrte Aufwind mit Punktabzug bestraft. Im Gegenzug erhält der vom Rückenwind Gebeutelte ein Punktezuckerl oben drauf gelegt. Das Ergebnis, so heißt es, seien Transparenz und Fairness, diese beiden mächtigsten in der Spätmoderne neuerfundenen Götter. Nun gewinne endlich nicht mehr das Glückskind, sondern der Beste. Nun gebe es eine ausgleichende Gerechtigkeit für Wind und Wetter.

Der Preis für diesen Etappensieg menschlicher Einfalt über die Natur ist, wie stets bei technischer Hinzufügung, der Bedarf an weiterer Technik. Rund um die Schanze wird es erst einmal unübersichtlich. Eine variable Markierung von schlappen 50 Zentimetern Breite zeigt jene um Punktezugabe oder Punkteabzug bereinigte Grenze an, hinter der landen muss, wer die Führung übernehmen will. Gut hat‘s nur der Fernsehzuschauer. Er sieht eine Linie über den kompletten Hang gezogen, frisch hinzu montiert vom Rechner.

Man will also springen in der Natur, als wäre man außerhalb dieser. Künstlicher Schnee und Hallendach wurden andernorts schon aufgewandt, um den „Als ob“-Effekt zu perfektionieren: Technik, Chemie und Ingenieurskunst sollen eine Natur ohne Wettereinfluss simulieren, ein Leben ohne Lebenshauch. Die nächsten Schritte sind unabwendbar: Der Fußball, der momentan noch, vor Katar 2022, den Komplettumzug ins klimatisierte Bewegungszentrum scheut, wird eine Regenregel und einen Windquotienten erfinden. Nach jedem Spiel wird sekunden- und beaufortgenau errechnet, welche Mannschaft länger den Wind gegen sich hatte. Aus einem ungerechten 0 zu 0 kann dann schon mal ein gerechtes 0 zu 0,5 werden.

Peitschender Regen muss ebenso heraus gerechnet werden, wenn dieser in der zweiten Hälfte die dann angreifende Mannschaft verschonte. Auch die Rasenqualität kann mit der Rasenformel berücksichtigt werden. Hat vielleicht eine besonders durchfurchte Stelle die justament dort stärker präsente Mannschaft unbillig benachteiligt? Und dann wären da noch die verheerenden Einflüsse des Windes auf Tennis und Golf, ganz zu schweigen von den Schlammaufwallungen beim Querfeldeinlauf.

„Man muss sich klarmachen“, sagte soeben Robert Spaemann, „dass es keine Vermehrung der Mittel der Naturbeherrschung gibt, die nicht zugleich Mittel der Menschenbeherrschung wären.“ Auch der vergleichsweise triviale Fall der Naturaustreibung durch Sport hat Teil an dieser Doppelgesichtigkeit. Irgendwann werden wir in die Berge gehen und Kunststofffelsen besteigen, werden wir Seen durchschwimmen, die mit zuverlässiger Temperatur locken, und nichts vermissen.

Dr. Schlauberger antwortet V

Die Pein hat einen Namen: Christmette. Schon zuckt die Tastatur, da den Satz ich niederschreibe. Aber so ist es – zumindest dann, wenn man Anlass und Geschichte strikt von der Durchführung des Festes trennt. Kein Christentum ohne Weihnachten, natürlich, aber vielleicht gäbe es ein kolossal anderes Christentum ohne die real existierende Christmette. Und vielleicht wäre dieses andere Christentum ohne die Christmettenkonvention unserer Tage froher, leidenschaftlicher, feuriger.

Die Christmette, wie sie Jahr um Jahr in unseren Breitengraden zelebriert wird, leidet allzu oft am Zuviel der Erwartungen und am Zuwenig des Mutes. Beides ist verständlich, macht die Sache aber kaum besser. Priester, Gemeinde, Chor wissen, dass sie nur einmal im Jahr ein so großes Publikum vor sich haben. Es mutwillig vor den Kopf zu stoßen, wäre unklug und fast schon boshaft. Die große Schar, die nur am 24. Dezember kommt, deutlich spüren zu lassen, dass an 52 Sonntagen im Jahr sich dasselbe Schauspiel wahr ereignet, wäre barsch. Soll man wüten gegen die feierbereite Menge, nur weil sie aus ganz unterschiedlichen Gründen den fremden Weg gegangen ist?

Und so nimmt das Goldige seinen Lauf. Alles ist auf Festlichkeit getrimmt, die eben nicht deckungsgleich ist mit jenem freudigen Staunen, das die Hirten auf dem Felde damals erlebten. Ergriffenheit lässt sich durch Lächeln nicht ersetzen. Die Predigt bewegt sich deshalb oft auf solidem, erprobtem Gebiet.

Vom liebenden Gott, der sich klein macht, hören wir, vom Kind, das einen Neuanfang markiert, vom Stall der kleinen Leute, der auch heute noch „mitten in der Welt“ ein Ort sei der Ausgrenzung, der Armut, und flugs landet der Prediger bei Bahnhofsmission oder Asylantenheim, nicht ohne in einer finalen Volte die Engel zu erwähnen, zu denen ein jeder und jede sich zählen könne, wenn er oder sie die Freude von Weihnachten künftig teilte mit denen am Rande, damit Friede werde, Freude herrsche, Amen.

Vieles stimmt, manches ist falsch und schief an solchem Reden. Die wahre Neuigkeit aber, die damals wie heute das Begreifen übersteigt, ist doch wohl nicht der auf geheimnisvolle Weise verzwergte, sondern der erst- und einmalig vermenschlichte Gott, ist die Inkarnation. Einmal, nur einmal in der Menschheitsgeschichte wandelte eine Person auf Erden, die Gott war – so glauben die Christen theoretisch, so bekräftigen sie praktisch es kaum mehr.

Wäre es also nicht überfällig, wenigstens an Weihnachten klar und mutig von diesem Novum, vom unterscheidend christlichen Gottesbegriff also zu reden?
Dann wäre auch Raum gewonnen für die von Gilbert Keith Chesterton so genau ausgeleuchtete „dramatische und krisenhafte Seite dieses Festes“. Darauf deute nicht zuletzt das dritte Geschenk am Dreikönigstag, die Myrrhe, „was übersetzt so viel heißt wie Bitterkeit.“

Weihnachten, fuhr Chesterton 1932 fort, „wäre niemals Weihnachten geworden, gäbe es nicht in seiner Süße eben jene Spur von Bitterkeit. Vielleicht nicht mehr als eine Prise Salz; aber es ist dieses Salz, das das Essen und das Fest, den Truthahn und den Plumpudding davor bewahrt, zu verderben und ganz vulgär gefressen zu werden. Es bewahrt das Ideal der Barmherzigkeit davor, sich in Laschheit und Luxus und rührselige Selbstzufriedenheit aufzulösen.“

Chesterton wusste, dass über dem Stern von Bethlehem das Kreuz von Golgatha sacht schon steht. „Diese winzige Erinnerung an das Kreuz muss alles Christliche vor dieser ganzen Entwicklung“ hin zum süßlich Saturierten beschützen; „eine Erinnerung an die Bitterkeit der Wahrheit, die Bitterkeit der Ehre, die Bitterkeit des Todes.“

Freude soll natürlich herrschen, Jubel-und Lobgesang erschallen, doch Spaß und Routine sind fehl am Platze. Damit aus der Christmette eine Christfeier werden kann, empfiehlt sich auch hier, den Blick zu weiten, aufzuschauen nach oben, statt nur rings in den Kreis der Gerührten.

 

Erschien zuerst im Vatican Magazin, Dezember 2010

Bumm tschumm bumm

Zu den beliebten Gemeinplätzen, an denen wir alle uns gerne tummeln, zählt jener von der Beliebigkeit der Literatur. Man könne doch schreiben, was man will, das rege niemanden auf. Früher stritt man über den Geschmack, weil man ihn besaß, heute fehle er ganz, weshalb das Achselzucken regiert. Und ganz besonders die Lyrik, die eh‘ von fast niemandem gelesen werde, sei die Feier des bloß Subjektiven, unteilbar Intimen. Falsch gedacht, dreimal falsch.

Nicht jeder mag die „Münchner Turmschreiber“ kennen. Dem Literatenzirkel gehören etwa Friedrich Ani, Tanja Kinkel, Georg Lohmeier, Petra Morsbach, Konstantin Wecker an – und Helmut Zöpfl nicht mehr. Darüber ist nun ein Streit entstanden, der Spalte um Spalte der lokalen Leserbriefseiten füllt. Zöpfl nämlich hat eine große Fangemeinde, wie sie sich die Nachgeborenen erst noch erschreiben müssen. Zöpfl, ehedem Pädagogikprofessor, steht für das humorvolle volkstümliche Gedicht, ein Reich, in dem Paar- und Kreuzreim nicht untergehen: „Freunde kannst du nicht kaufen für noch so viel Geld, / einen Freund musst du suchen wie nichts auf der Welt.“

Helmut Zöpfl also, dessen Bücher Titel tragen wie „Zum G’sundlachen“, „Das kleine Glück“, „Komm, lach halt wieder“, wurde aus dem Kreis der „Turmschreiber“ verbannt. Von Streit ist die Rede, mangelnden Umgangsformen, alten Zöpfen und manchem mehr. Seine Leser sind rechtschaffen außer sich: Zöpfl sei „einer der beliebtesten und vor allem erfolgreichsten Poeten“, habe sich „in hohem Maße“ um die bairische Sprache verdient gemacht. Man sei „schockiert“, „bestürzt“, „empört“. Die neuen Wortführer hätten sich eher verabschieden sollen, zuvörderst der als Antipode ausgemachte Lyriker Anton G. Leitner, von dem etwa die Zeilen stammen: „Bumm tschumm bumm Bumm tschumm bumm Dumm“.

Wie alles Grundsätzliche ist der „Turmschreiber“-Streit eine Stilfrage. Und wie bei jede Stilfrage konfligieren die Temperamente, die Weltanschauungen, die Eitelkeiten, dass es eine Art ist. Hier der reimende Seelenmasseur, dort die Lautmaler und Neutöner, hier das bodenständige Idyll, dort Avantgarde und Provinz. Beides findet in den Ton, beides will klingen.

Und darum ist dieser Streit ein Hoffnungszeichen in einem Land, das sich abzuschaffen partout nicht gesonnen ist: Wo die Volksseele kocht, weil sie Volkskunst will, da ist das Volk sehr lebendig. Wir werden noch davon hören.

Dr. Schlauberger antwortet IV

Es waren zwei Jahre und nicht die schlechtesten, die ich in Luzern verbrachte. Dort lebte ich, als das Wahrzeichen der Stadt, die Kapellbrücke, abbrannte. In Luzern war ich auch, als der Schweizer Schriftsteller Nikolaus Meienberg seinem Leben ein Ende setzte. Sein Tod fuhr mir ins Herz. So wurde die Zeit in Luzern zum Sonnentag, den ein doppeltes Unglück einrahmte.

Seit damals verfolge ich die Nachrichten aus der Eidgenossenschaft. Man will den Stab nicht brechen über eine Stadt, einen See, eine Luft, die Teil waren des Ichs. Man will sich die Erinnerung bewahren, wie sie sich abgelagert hat. Zu ihr gehört auch das Gegenüber von Hofkirche und Jesuitenkirche. Während jene sich eher als römisch-katholisch verstand, kochten die Jesuiten, wie es üblich ist, ihr eigenes romkritisches Süppchen.

Damals war mir nicht bewusst, dass aufgrund komplizierter Historie in der Schweiz eine Doppelstruktur existiert. Neben den Dekanaten und Pfarreien, wie sie das kanonische Recht vorsieht, gibt es staatskirchenrechtliche Landeskirchen, die Kirchensteuern einsammeln und die Administration regeln. Für Luzern ist das Bistum Chur geistlich zuständig, das Geld und die Kirchenpolitik kanalisiert aber die „Römisch-Katholische Landeskirche des Kantons Luzern“. Deren Teilbereich ist die „katholische Kirche Luzern“, die sich zur „Lebenspraxis von Jesus“ bekennt und „als kommunikative Kirche“ definiert, „die den Menschen und ihren Anliegen offen und aufmerksam begegnet und sich auf sie ausrichtet.“

Herren der Welt sollen also die Weltkinder sein, denen nach dem Munde zu reden ein gewisser Jesus – von Christus ist die Rede nicht – offenbar empfiehlt. Insofern ist es konsequent, dass Ende Oktober die „katholische Kirche Luzern“ männliche Jugendliche zum Geschlechtsverkehr aufrief – unter der Bedingung, ein Gummitütlein überzuziehen. So sehe „integrierte, ganzheitliche Sexualität“ aus. Deshalb verteilte die „katholische Kirche Luzern“ Kondome.

Das öffentliche Reden des verantwortlichen „Pfarreileiters“ von St. Johannes, eines Priesters offenbar mit Namen Alois Metz, zeigte dreierlei: Katholizität funktioniert zu unkatholischen Zwecken; Modernität ist oft ein anderes Wort für Unbildung; und wer nur Werten den Weg bahnen will, muss um den Glauben einen Bogen machen.

Beginnen wir bei der letzten Erkenntnis. Metz wollte mit der Aktion „große Werte, wichtige Werte wieder transportieren“, christliche Werte. Er startete den PR-Feldzug für die Gummiindustrie, weil es ein christlicher Wert sei, „das Leben zu schützen“. Dass dieser Schutz ein relativer ist, wurde ebenso übergangen wie die Einsicht, dass Kirche, die sich ernst nimmt, nicht Werte produzieren, sondern für das ewige Leben rüsten will. Das Seelenheil ist ihr Zweck, nicht die Technisierung der Geschlechtlichkeit.

Zweitens gibt der in Kernbereichen ignorante, in Randgebieten eher halbgebildete Metz zu, dass er den Papst vom Hörensagen kennt. Laut Metz sei es falsch zu sagen, „die Welt ist schlecht, die Menschheit ist schlecht, was man ja oft vom Papst so zu hören bekommt. Ich weiß nicht, ob es so ist, aber das hört man in den Medien.“

Zum Mitschreiben: Ein Priester der Papstkirche setzt sich sein falsches Papstbild aus papstkritischen Schweizer Medien zusammen. Eine Predigt Benedikts XVI. zu lesen, passt nicht ins Zeitmanagement, wenn man hauptberuflich dialogisiert, schwadroniert, kondomisiert.

Drittens beruft sich Metz auf einen hanseatischen Dampfplauderer. Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke habe ihn ermuntert durch die Aussage, „wer Aids hat und sexuell aktiv ist, wer wechselnde Partnerschaften sucht, muss andere und sich selber schützen.“ Wo solche innerkirchliche Weltanschauungskonkurrenz gedeiht, braucht es keine Kirchenfeinde.

Benedikt XVI. mahnt stetig die „innere Reinigung“ der Kirche an, ihre neue Ausrichtung auf den, dem allein sie dient. Manchmal im Säuseln, manchmal im Feuerbrand kann eine solche Reinigung gelingen. Und manchmal ist es nötig, dass dabei mehr zu Bruch geht zu Luzern als eine Holzbrücke.

 

Erschien zuerst im Vatican Magazin, November 2010.

Dr. Schlauberger antwortet III

Vielleicht ist am Ende alles eine Frage der Kinderstube. Vielleicht sollte man sie einfach bei der Hand nehmen, ihnen einen sachten Klaps auf den Po geben und sagen: Nein, Richard, das tut man nicht. Peter, reiß dich zusammen. So geht das nicht, Terry, Christopher. Ob es Frucht brächte oder ob die vier Herren dann grimmiger fortführen, dem Pennäler in sich die Sporen zu geben? Das wissen wir natürlich nicht.

Wir wissen aber, dass die Schubumkehr im Ansehen des Papstes durch seine Englandvisite einher ging mit einer Entzauberung des Neuen Atheismus. Verschwunden ist er keineswegs, aber er zeigt sich nun deutlicher als Quengel- und Trotzphase und nicht als intellektuelles Phänomen. Durchaus in die Zukunft weist diese Momentaufnahme.

Wenn der Vater sich mal wieder blicken lässt, maulen Halbstarke gerne. Dann ballen sie ihre Fäustchen und blicken wild nach oben. Nichts als Lügen habe der Herr Vater zu bieten, sie aber wollten frei sein, jung sein, tun, wonach das Sinnchen ihnen steht. Der alte Herr verstehe die Welt nicht, habe sie nie verstanden, er komme mit Geboten und Verboten, das Leben aber sei uferlos und grandios. Wenn sie ganz mutig sind, ziehen sie die Luft durch die Zähnchen und spucken zu Boden. Dann fällt die Tür krachend ins Schloss. Sie haben es ihm mal wieder gezeigt.

Das nämlich hat sich ereignet, als Benedikt XVI. im September England besuchte und John Henry Newman selig sprach, und es deutet weit voraus in andere Zeiten, andere Länder. Richard Dawkins, den man lange Zeit aufgrund seiner evolutionsbiologischen Kenntnisse für einen Intellektuellen halten musste, erklärte in London bei der „Protest the Pope“-Demonstration: Joseph Ratzinger sei ein Feind der Humanität, ein Feind der Kinder, ein Feind der Homosexuellen, ein Feind der Frauen, ein Feind der Armen, ein Feind der Wissenschaft, ein Feind der Bildung. Mehr Atavismus, mehr Glaube an die Existenz diabolischer Kräfte in Persongestalt kam wohl nie aus dem Mund eines sogenannten aufgeklärten Atheisten.

Peter Tatchell, Streiter für gleichgeschlechtliche Lebenspraxen, echauffierte sich, der Papst verdiene keinen Staatsbesuch, weil er „angeklagt“ werde, sexuellen Missbrauch vertuscht zu haben. Terry Sanderson, Chef der „National secular society“, schloss sich Dawkins‘ irrationaler Feindeslitanei an und resümierte, die Tage der Päpste seien vorbei, nur Ratzinger wisse das nicht. Und Christopher Hitchens, schwer erkrankt, wollte Benedikt gar auf britischem Boden verhaften lassen.

England schien sich fast zu schämen für die ausfallende Ephebenmeute. Diese nahm ihr Recht auf Meinung und Versammlung wahr, wogegen kein Brite etwas haben kann. Aber etwas mehr Hirn, etwas weniger Galle hätten Richard, Peter, Terry und die anderen dann doch im Angebot haben können.

Sie hatten es nicht, weil sehr wahrscheinlich der gesamte Neue Atheismus nicht aus Gründen, sondern aus Ressentiments besteht – und eben einer großen Portion Kraftmeierei im falschen Kleid der Fortschrittlichkeit. Tatsächlich handelt es sich oft nur um tiefergelegte Gedanken und rebellisches Gehabe. So kennt man es aus der Zeit, als die Barthärchen frisch sprossen und der dicke Max über den Markplatz stolzierte.

Auch in Kontinentaleuropa empfiehlt sich darum jetzt zweierlei: Das Publikum, das oft staunend den intellektuellen Tricks der Religionskritiker im Professorenrang beiwohnt, sollte schmunzeln, sollte hie und da Manieren einklagen und rein gar nichts für bare Münze nehmen. Es ist ja nur Pose.

Den hauptamtlichen Kritikern und ihren Nachbetern in Politik und Kirche aber wäre ein Erwachsenwerden in aller Stille zu wünschen. Was Fritzchen nicht lernte, muss für Fritz nicht unmöglich sein.

 

Erschien zuerst im Vatican Magazin, Oktober 2010.

Die Kallwass, die Filzlaus und ich

Erwischt: Ich bin „eine Wand“. Ich habe eine „narzisstische Persönlichkeit“. Ich bestehe aus Vorurteilen. Ich höre nicht zu. Ich lasse mich nicht ein. Ich bin nicht interessiert. Das alles erfuhr ich in wenigen Sekunden während einer Podiumsdiskussion in Augsburg vor 300 Zuhörern.

Die Durchschauerin, der ich nie zuvor begegnet bin, hörte auf den Namen Angelika Kallwass und ist eine bekannte Schauspielerin. Studiert hat sie Volkswirtschaft und Psychologie, bekannt aber ist sie als Laienspielerin vom Dienst. Bei „Sat.1.“ spielt sie im Dauerbrenner „Zwei bei Kallwass“ eine Psychologin.

In erfundenen Szenen, die sich fast immer an misslungenen Sexualkontakten entzünden, im Schreien beginnen und ins allgemeine Heulen münden, sagt sie zu Laienspielern, die Patienten mimen: „Der einzige, der weiß, dass Sie mit Maya geschlafen haben, sind Sie zur Zeit.“ „Da sollten Sie offen sein.“ „Damit müssen Sie jetzt einfach aufräumen.“ „Sie sind sehr aufgeregt, verständlicherweise, wäre ich an Ihrer Stelle auch.“ „Sie haben jetzt einmal einen besonders guten Sex gehabt, und verständlicherweise wollen Sie den weiter behalten.“

Das mag sehen, wer mag; das ist weder empfehlenswert noch verbotswürdig. Laut Senderwerbung ist die Psychologinnendarstellerin Kallwass die Frau, die alles kann. Sie „löst Probleme und findet immer einen Weg.“ In dieser Woche etwa war es ein Problem, dass Filzläuse sich nur beim Geschlechtsverkehr übertragen und deshalb die Jenny den Stefan betrogen haben muss (Folge vom 24.9. um 14 Uhr).

Oder dass die schwangere Sandra „wieder anschaffen gegangen ist“ und deshalb der Gino sich von ihr trennte (am 24.9. um 10 Uhr). Oder dass der Aaron seine Schwägerin Maya schwängerte, die sich nun von ihrem Mann Clemens trennen will, der sie wiederum mit ihrer Schwester betrog (am 21.9. um 14 Uhr).

All das und den übrigen phantasielosen Stumpfsinn rechnete Frau Kallwass bei der Augsburger Podiumsdiskussion  einer friedensnobelpreisverdächtigen „bestimmten Umgangskultur, einer Streitkultur, einer Diskussionskultur“ zu. Sie wolle, ganz therapeutisch, „durch Einsicht zur Veränderung“ bewegen. Und als die menschliche Wand, als also ich, das Gegenteil öffentlich aussprach, wurde ich vor Publikum kurzerhand verarztet, gemaßregelt, zurechtgewiesen – als säße mir eine Domina mit Begriffspeitsche gegenüber. Nicht die schrundigen Schreiorgien seien zynisch, sondern deren Kritiker sei es, der rohe Narzisst.

Was lernen wir? Das psychologisierende Gequatsche, das mit Befunden um sich wirft, ist anfällig für Einbildungen aller Art. Wer einmal die Wonnen der öffentlichen Macht kostete, mag von ihr nicht lassen. Und wer laut Drehbuch für alles Verständnis hat, alles durchschaut, alles richtig sieht und alles gerade rückt, wird im Zweifel persönlich, wenn die Allmacht sich nicht so spreizen darf, wie sie es gewohnt ist.

Als professioneller „Zwei bei Kallwass“-Glotzer habe ich dafür vollstes Verständnis. Es kann ja keine Freude sein, 2000 Folgen lang, zweimal täglich, dem Unterleib im Unterholz nachzujagen. Da gilt die Einsicht der schwangeren Maya: „Mein Bauch, mein Herz, ich fühle das. Ich kann nicht mehr.“

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Politik und Intrigantentum |

Jetzt stellen wir uns mal ganz dumm: Der Klausner sitzt in einer Klause, weil selbige abgeschlossen ist. Klausuren schreibt man in Räumen, aus denen nichts nach draußen dringt. Klausurtagungen finden statt, weil die Teilnehmer unter sich bleiben wollen. So war es bisher, so ist es nicht mehr.

Seit der vergangenen Woche und dem „Fall Erika Steinbach“ wissen wir, dass Fraktionen nur deshalb in Klausur gehen, um jeden hinter verschlossener Tür gefallenen Satz danach brühwarm der Presse ins Netbook zu diktieren. Klausursitzungen von CDU/CSU sind Pressekonferenzen mit nachgelagerter Öffentlichkeit.

Auf einer Vorstandsklausur nämlich der Unionsfraktion sprach die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach am vergangenen Mittwoch einen Satz, der, isoliert betrachtet, zu Missverständnissen einlädt. Sie äußerte sich zur Mobilmachung Polens anno 1939 vor Kriegsbeginn. Und dann, so steht es in aller Unschuld allüberall zu lesen, geschah das Bezeichnende: „Kurz nachdem Steinbach die Klausur verlassen hat, bekommen die Medien Wind von dem Getöse. Die Bombe geht hoch.“

Der Wind war kein Naturphänomen. Irgendjemand hat „durchgestochen“. Ein Parteifreund brauste zur Presse und deutete angewidert auf Parteifreundin Erika: Was die sich eben geleistet hat, lieber Journalist, das wirst du kaum glauben. Es ist sonst nicht meine Art, lieber Journalist, du kennst mich, aber das muss ich dir erzählen. Erika, du kennst sie ja, hat vor fünf Minuten Folgendes gesagt. Wenig später war durch den fast live hinterbrachten Satz die Vorstandskarriere der Erika Steinbach beendet, exekutiert von Parteifreunden.

Der Satz ist unklug und überflüssig. Es zeugt nicht von Souveränität, nicht von Sensibilität, die Mobilmachung Polens vor Hitlers Überfall plötzlich zum Thema zu machen. Bestürzend aber, degoutant und intrigant ist die heimtückische Feindseligkeit aus dem Kreise der sogenannten Parteifreunde. Wie schlecht muss es um die parteiinterne Debattenkultur bestellt sein, wie wenig muss das freie Wort noch gelten, wenn im vertraulichen Kreis das Lauern Methode hat und aus jedem Satz jederzeit ein Strick gedreht wird: Alles kann gegen Sie verwendet werden.

Bundespräsident Wulff beschwerte sich unlängst über Häme und Misstrauen, die jenen entgegen schlügen, die sich politisch engagieren. Das mag stimmen. Viel verheerender aber ist diese Lektion aus dem „Fall Steinbach“, der weit eher ein „Fall CDU/CSU“ ist: Politik heißt das Reich, in dem das Misstrauen universal ist, der Vertrauensbruch ubiquitär und in jedem Parteifreund ein Schwestermörder steckt

Power und Frau |

Gerne wüsste man, wann sie zuerst das stolze Gesicht erhob, die „Power-Frau“. Wann stand das erste Mal bewundernd zu lesen, diese Power-Frau schlafe nie, sie verhandele knallhart, die Firma sei dank ihrer über den Berg, die Partei gerettet, der Verein gesundet? Die Power-Frau ist die Frau ziemlich weit oben, in einem großen Büro, das vor ihr nur Männer besaßen. Die Power-Frau hat Macht und Einfluss, Ehrgeiz und Wille, vor allem aber sehr viel Erfolg. Sie hat eine Bastion geschleift.

Die Freude darüber ist verständlich und sei ihr von Herzen gegönnt. Ewig unentscheidbar ist die Debatte, ob Männer oder Frauen prinzipiell besser führen, ob Geschäftsführer oder Chefin für die Untergebenen der größere Segen sind. Und wer ist nicht schon alles Power-Frau gewesen: Natürlich Silvana Koch-Mehrin, die FDP-Frau in Brüssel, Carly Fiorina und Meg Whitman, die ehemaligen Chefinnen von Hewlett-Packard und Ebay, Sarah Palin, Hillary Clinton und Lisa Fitz, neuerdings auch das rot-grüne Führungsduo in Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann.

Was gemeint sein soll, ist klar. Diese Frauen haben Kraft, sie haben und sie sind eben die pure Power, die reine Energie, die Macht ohne schlechtes Gewissen. Sie zeigen einer machtverwöhnten Männerelite, dass Y-Chromosom und Durchsetzungsvermögen nicht zwingend zueinander gehören. Wir können das auch, lautet die Botschaft des Kunstworts, rücksichtslos sein und schlau, Ellenbogen haben und Grips zugleich. Wir sind die Hälfte der Menschheit, und jetzt wollen wir auch die Hälfte der Power.

Tatsächlich gemeint ist indes etwas anderes, und darum hat die Rede von der Power-Frau oft einen unehrlichen Zungenschlag. Sie besagt, dass öffentlich nur gerühmt und gelobt werden soll, was mit den Insignien der Härte und der Stärke ausgestattet ist.

Da mögen unfähige, aber durchsetzungsfähige Politiker die Republik noch so dicht an den Abgrund geführt haben, da mögen ungehobelte, aber machtbewusste Manager noch so zäh auf dem Sessel ihres untergehenden Firmenschiffs geklebt haben: Nicht Klugheit oder Kompetenz will man an den nachrückenden Frauen loben, sondern das Plumpste überhaupt, das nackte Faktum, dass nun sie die Macht in Händen halten: Einer kam durch, japsend wie alle, und siehe, es ist eine Frau.

Die Power-Frau ist, nimmt man den Namen ernst, dasselbe noch einmal, ein Häkchen hinter dem alten Trott. Denn ob die Power nun mit der Frau oder mit dem Manne ist: Kraft ist ungerichtete Energie, nichts sonst. Auf die Richtung aber kommt es an.

Dickschiff sucht Kompass

Nun sind sie vereint auf Augenhöhe. CDU/CSU und SPD, die einst fast das ganze Volk repräsentierten, haben sich friedlich-schiedlich-apokalyptisch bei der 30-Prozent-Marke einquartiert. Dort sitzen sie und kauern und schauen bang nach vorn: Werden wir je wieder für 40 Prozent der Wähler attraktiv sein? Müssen wir uns künftig auf 25 oder weniger Prozent einstellen? Sind wir Phoenix oder Ikarus?

Eine Entvölkerung haben Union wie SPD hinter sich. Nach Millionen zählt der kontinuierliche Rückgang der Wählerstimmen. Da verheißt das gemeinsame Tal Linderung. Man ist tief genug gesunken, um sich nicht in pure Nostalgie oder blankes Schwärmertum zu ergehen. Man sitzt aber noch immer relativ weich, denn annähernd jeder Dritte findet offenbar Programm und Performance hinreichend attraktiv. Wer aber immer den nächsten Kanzler stellen mag, der ein Kanzler nach Merkel sein dürfte: Er stammt dann hochwahrscheinlich aus einer Partei, die 7 von 10 Wahlberechtigten nicht gewählt haben werden. Ein Vertrauensbeweis sieht anders aus.

Der Niedergang der Dickschiffe der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie verdankt sich demselben Grund: dem Verlust der inneren Mitte. Zwar wird die angeblich allein mehrheitsfähige äußere, die politische Mitte mantragleich beschworen. Dieses Singen aber wird zum Lügenlied, wenn es aus denkbar exzentrischer Position angestimmt wird. Wofür eigentlich die SPD anno 2010 steht, wissen kaum die Referatsleiter zu sagen. Und die Antwort auf die Frage, was die Union anno 2010 ausmacht, wäre in der Quiz-Show 100.000 Euro wert.

Drum ist es wert, dass soviel Hohlheit auch zugrunde geht. Nicht mit Getöse, aber sachte und nachhaltig werden die beiden Hü-und-Hott-Parteiungen implodieren. Mangels Alternative wird diese Abbrucharbeit in eigener Sache vorerst nicht bei der Null enden, aber in existenzbedrohender Tiefe. Dass momentan die Union im Seppuku weiter fortgeschritten scheint, ist eine Momentaufnahme. Wer das Konservative erst austreibt, um es dann erschrocken als vermisst zu melden, darf sich über die Reaktion des Publikums nicht wundern, das nur mehr apathisch nach dem Arzt ruft.

Union und SPD bestätigen einfallsreich ein Bonmot von Louis de Bonald: „Wenn die Politik die Prinzipien aus dem Auge verloren hat, macht sie Erfahrungen und sucht Entdeckungen.“ Wie ein einziger Freilandversuch nach der Methode try and error erscheint deshalb der bundesdeutsche Politikbetrieb. Ohne das Bewusstsein, dass eben manche Forderung, mache Tat sich prinzipiell verbietet, will man nicht jegliche Programmatik zu Grabe tragen, ohne den Mut, Tabus auch zu benennen und zu bekräftigen, statt sie nur fintenreich zu hinterfragen, kann keine Identität entstehen – keine individuelle, keine kulturelle, keine parteiliche Identität.

Erfahren wollen, wie sich diese oder jene Narretei anfühlt, Entdeckungen suchen, die vom heute Behaupteten zum morgen Verfemten und wieder retour reichen: So mag das Sein sich anfühlen beim Genuss bewusstseinserweiternder Pharmaka. In der Politik ist dergleichen Wahrnehmungsverlust ein Zeichen von Dekadenz. Kaiser Nero, spielen Sie auf!

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