Monthly Archives: Juni 2010

Dr. Schlauberger antwortet – Kisslers Medienkolumne I

Arme Tine, da hat man Dir übel mitgespielt! Jahrein, jahraus rackerst Du Dich ab zum Ruhme von RTL, zum Segen der Werbewirtschaft und zum Vorteil notorisch klammer und chronisch farbenblinder Hausbesitzer. Deine Helfersendung „Einsatz in vier Wänden“ ging 2003 an den Start, und wer könnte die Zähren zählen, die seitdem geflossen sind?

Du enterst mit ganz viel Farbe und noch mehr gute Laune eine handelsübliche Bruchbude und verlässt sie erst wieder, wenn sie Schloss ist. Du lässt hämmern, bohren und tünchen und gibst nicht Ruhe, bis um Dich herum alles Sonnenschein geworden ist, gerade so wie Du. Tine Wittler, Du bist die Quietschkugel unter den Wohnexpertinnen, das Glücksmoppelchen der Moderatoren, der ewige Wonnemonat.

Und nun das: Dein nigelnagelneues Format wurde ausgerechnet im Mai nach nur einer Sendung vom Sender genommen – wegen erwiesener Schummelei. „Unter dem Hammer“ sollte die angeblich wahre Geschichte eines angeblich echten Hausnotverkaufs nacherzählen. Dein Part, liebe Tine, war abermals jener der pumperlg‘sunden Aufhübscherin.

Du betratest das große, aber nicht übermäßig gepflegte Anwesen der Familie Fischbach im schönen St. Goarshausen. Selbige rechnet, wie es eben Sitte ist im deutschen Privatfernsehen, der eher bildungsfernen Schicht zu. Bei den Fischbachs trinkt man den Gerstensaft aus der Flasche, spricht gerne dem Tabak zu und kleidet sich in Stoffe, in die man jederzeit noch hineinwachsen kann. Tine, Du sahst das Elend gleich, und wusstest, was zu tun ist: neue Vorhänge, neue Farben, neue Türen. Der Lohn all der Mühen war die finale Versteigerung. Immerhin 235.000 Euro wurden erlöst, notariell beglaubigt laut RTL. Hoch die Tassen, Abspann.

Dem war aber in der außertelevisionären Welt dann doch nicht so. Der Käufer machte nach Drehschluss einen Rückzieher, der Vertragsabschluss kam gar nicht zustanden, vom Notar fehlt jede Spur. Die strahlende Käuferin, die im Fernsehen auftrat, war eine Statistin. Die Fischbachs erhielten von RTL rund 2000 Euro Aufwandsentschädigung, einen kleinen Beitrag zur Abtragung des Schuldenberges, der sie weiterhin drückt. Mittels Video bei „bild.de“ bieten sie das Schmuckstück jetzt feil. Tine Wittler beteuert, von alldem nichts gewusst zu haben. Sie selbst sei die Betrogene.

Das Fernsehen dieser Tage besteht an sehr vielen Stellen aus der sentimentalen Zurschaustellung von Not- und Elendssituationen, in die das Fernsehen triumphal einfällt, sie zu richten und zu heilen. Das Fernsehen ist ein gigantisches Reparaturunternehmen der Seelen, der Körper, der Häuser, natürlich ohne jede Nachhaltigkeit, ohne jede Empathie, die über den Effekt hinausginge.

„Unter dem Hammer“ hat deutlich gemacht, dass dabei der Spannungsbogen alles ist, das tatsächlich vorgefundene Leben (fast) nichts. Dieselben Gesetze gelten auch für die meisten Erzählungen aus der realen Welt, die sich Nachrichten nennen oder Reportagen oder Porträts. Wundern ist da fehl am Platze: Unter dem Fernsehhammer liegt immer auch die Wirklichkeit. Sie überlebt nur gequetscht, gestaucht, entstellt. Tine, hab Dank für diese Lektion.

(Die Kolumne erschien erstmals im Vatican Magazin 6+7/2010)

Bundesjogis Seligsprechung

Die Fußball-Weltmeisterschaft hat begonnen. Das heißt für die Leser vermeintlicher Fachzeitschriften: Kritik hat Sendepause, Sportjournalismus wird zum angewandten Fan-Sein. Jetzt werden, je nach Verbreitungsgebiet, Helden gemacht, Stars gepriesen, Führer gebenedeit. Ein besonders eindrückliches Beispiel solch proskynetischen Schrifttums gab nun das Nürnberger Sportmagazin „kicker“. Auf dem Titel prangte Bundestrainer Joachim Löw im körperengen weißen Lieblingshemd, die Ärmel hoch gekrempelt, die rechte Faust zum Himmel erhoben. „Ein Mann geht seinen Weg“ stand daneben. Das war leider erst der Anfang.

Wir erinnern uns: Mindestens dreimal wurde schon unter dieser Überschrift das Hohelied auf den einsamen Wolf, das beinharte Alphatier gesungen. Gary Cooper war 1961 im gleichnamigen Krimi ein zu Unrecht des Raubmords verdächtigter Speditionskaufmann. Er musste einen gefährlichen Weg gehen, um seine Unschuld zu beweisen. Sylvester Stallone gab 1978 einen Gewerkschaftsführer zwischen Idealismus und Kriminalität, und 1994 pries Jörg Haider sich im siebenminütigen PR-Video mit derselben Schlagzeile. Er ging seinen Weg durch schneeverschneite Alpen, joggte und rannte und kraxelte, um am Gipfelkreuz anzukommen, „Österreichs Zukunft“ zuliebe.

Cooper, Stallone, Haider, Löw: Innerhalb dieser Ahnenreihe kann ein Porträt des Bundestrainers vermutlich wirklich nur, wie im Innenteil von eben jener Ausgabe 46/2010 geschehen, „Ein Mann. Ein Ziel. Ein Weg.“ heißen. Die drei Punkte und der Verzicht auf jedes Verb tragen weiter zum Eindruck bei, hier werde eine pure Naturgewalt abgehandelt – Jogi, das Monument. Autor Oliver Hartmann lobt den „perfekten“ Sitz der „dunkelgrauen Dreiviertel-Hose“ an Bundesjogis Waden und lässt ansonsten keinen Zweifel an der epochalen Bedeutung der makellosen Ikone namens Löw. Dieser „geht seinen Weg (…), aus Überzeugung“. Er ist „überzeugt, bislang auf alle Fragen die richtigen Antworten gefunden zu haben“, sodass Löws „unerschütterlicher Glaube“ die Kenntnis geradezu erzwingt: „Löw ist überzeugt von sich und seinem Führungsstil“.

Überzeugungsmensch Löw, weiß Hartmann aufgrund von neuronalen Techniken, die mir leider nicht zur Verfügung stehen, „hat keine seiner Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen.“ Nein, Löw ist ein animal rationale durch und durch und vermutlich selbst beim Hemdenkauf und in der Herrentoilette. Löw nämlich, verkündet der „kicker“ weiter, „folgt immer treu einer Gesamtkonzeption, die er schon vor zwei Jahren mit seinen Vertrauten entworfen und seitdem in wöchentlichen Konferenzen verfeinert hat.“

Löw, von Vertrauten und nicht von Mitarbeitern raunend umgeben, habe schließlich eine „Mission“, eine „Mission, die er herbeigesehnt hat“, und die nur mit „bedingungsloser Gefolgschaft“ verwirklicht werden könne. Der Führungsstil dieser jetzt „noch engagierter und fokussierter“ wirkenden Lichtgestalt beruhe dabei auf einer schlichten Erkenntnis. „Er spürt: Diese junge Mannschaft braucht Führung.“ Also führt Führer Löw die kickende Elite ins Wunderland der WM-Endrunde. Er weiß, was er tut, und er tut immer das Richtige – „ein Mann, ein Ziel, ein Weg.“

Der Autor dieser an schiefem Pathos und kleinlicher Verehrung kaum zu überbietenden Salbaderei durfte übrigens für die unmittelbar folgende Ausgabe 47/2010 das Objekt seiner Adoration leibhaftig interviewen. Die Fragen störten erwartungsgemäß den königlichen Gedankenfluss kaum: „Was ist drin für Ihr Team?“, „Wie ist es denn um den Spirit in Ihrer Mannschaft bestellt?“, „Planen Sie mit Badstuber?“.

Natürlich richten sich Fußballfachzeitschriften an Fußballfans und Fußballfreunde, und natürlich soll während einer Weltmeisterschaft die Rivalität zwischen den Vereinsanhängern ruhen. Dann gibt es nicht Schalker und nicht Bremer, dann gibt es nur Deutsche. Und natürlich wäre es ökonomisch unklug, aggressiv die Spaßbremse zu geben, während ein Großteil der Nation schlicht will, dass „unsere Jungs“ gewinnen. Das ist alles legitim und nachvollziehbar und nicht tadelnswert – und dennoch bleibt es eine Zumutung, ein Porträt anzukündigen und dann eine Seligsprechung zu Lebzeiten zu liefern. Es bleibt ein peinliches Dokument identifikatorischer Anverwandlung statt professioneller Einfühlung, wenn die Phrasen derart scheppern, die Platituden derart rieseln, dass kein Spalt bleibt für die Besinnung und nur die eine Botschaft hängen bleibt: Dieser Mann ist fehlerfrei. Schön, dass wir ihn haben, den famosen Joachim.

Es muss alles getan werden

Krise ist immer. Jene Krise aber, die derzeit mannigfach Republik wie Globus beutelt, muss ein ganz besonderes Exemplar sein. Ihre Propheten und Profiteure bemühen sich nach Kräften, ein noch nie dagewesenes Krisenszenario zu zeichnen. Erstmalig, einzig, superlativisch nach allen Seiten sollen die kaum zählbaren Krisensymptome sein. Weltuntergang war gestern, Trümmerzeit und Panikalarm sind heute. Dafür spricht die Dauerpräsenz einer Floskel, ohne die heute keine Eröffnung eines Autobahnteilstücks und keine Ehrung verdienter Vereinsmitglieder mehr auskommt.

Der Bau des neuen Berliner Großflughafens droht sich zu verzögern. Der SPD-Landeschef Müller fordert deshalb, „es müsse jetzt alles getan werden, um den Termin trotzdem einzuhalten.“ Ein bayerischer SPD-Ortsverein leidet an schlechten Wahlresultaten. Ergo, so der Ortsvorsitzende, müsse „auch auf kommunaler Ebene alles getan werden, um in Zukunft bessere Ergebnisse zu erzielen.“

Der Präsident einer Technischen Universität sorgt sich um die Akzeptanz der technischen Wissenschaften; „deshalb muss alles getan werden, um in der Bevölkerung die Fähigkeit zur Risikoabschätzung durch verbessertes Wissen zu schärfen.“ Der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes freut sich über die Rückkehr des Wolfes nach Bayern. Jetzt „muss alles getan werden, um das Tier vor störenden Einflüssen von außen zu bewahren.“

Der Hauptgeschäftsführer des Verbands der bayerischen Wirtschaft sorgt sich um den Wohnungsmarkt; „es muss alles getan werden, um neuen Wohnraum zu schaffen”. Um den Euro sorgt sich Jaques Delors. Deshalb „muss alles getan werden, die Spekulation einzugrenzen.“ Klaus Töpfer sorgt sich um den ölverseuchten Golf von Mexiko, darum „müsse alles getan werden, um alternative Energien zu entwickeln.“ Klaus Ernst von der „Linkspartei“ verlangt hingegen, „es müsse alles getan werden, um mehr Jobs zu schaffen.“ Und Angela Merkel ist sich sicher, „auf jeden Fall muss alles getan werden, dass der Klimaprozess nicht zum Stillstand kommt.“

Wenn die alarmierten Stimmen beim Wort genommen werden sollen, wenn alles wirklich alles wäre, dann müsste etwa Folgendes geschehen: Das Land Berlin zieht alle Gelder aus der Bildungspolitik ab, um einen Flughafen fristgemäß eröffnen zu können. Der SPD-Ortsverein kauft sich Stimmen, um bei der nächsten Wahl zu reüssieren. Die Regierung erklärt Technikfreude zum staatsbürgerlichen Pflichtfach von der Wiege bis zu Bahre. Alle Wälder werden in Schutzräume für Wölfe verwandelt, störende Tiere tötet man, störrische Waldbesitzer werden enteignet.

Der Staat verwendet seine Gelder nur, um Wohnungen zu bauen und Wohnungsmieten zu subventionieren; nötigenfalls werden die Bundeswehr aufgelöst, die Schulen geschlossen, die Straßen sich selbst überlassen. Spekulanten werden verhaftet, Wertpapierhandelshäuser verboten, Beziehungen zu freiheitsliebenden Staaten eingestellt. Sämtliche Steuern fließen in den Ausbau alternativer Energien oder aber in den zweiten Arbeitsmarkt und die Rüstung oder aber in die Haushalte all jener Staaten, die partout nicht genug mitmachen wollen beim „Klimaprozess“, von China bis Indien, Russland, Mikronesien.

Diese jeweils todsicheren Rezepte widersprechen einander, und jeder einzelne führte zum Kollaps des Gemeinwesens. Niemand, der heute „alles“ im Munde führt, meint auch „alles“. Er greift zur Floskel im vollen Bewusstsein, dass sie letztlich eine Lüge ist – dass sie dem Zweck dient, den Redner im besten Lichte dastehen, ihn als Mann oder Frau der Tat übergroß erscheinen zu lassen. Es ist ein Dezisionismus des Maulheldentums, unernst, lächerlich, deplatziert.

Vielleicht – wer weiß das schon – kommen tatsächlich einmal Zeiten, da eine gewaltige gemeinsame Kraftanstrengung nötig sein wird, um Frieden, Freiheit, Sicherheit zu erhalten. Vielleicht wird einmal wirklich jedem alles abverlangt werden. Dann werden wir jenen, die schon bei bayrischen Wölfen und Berliner Flughäfen und deutschen Hochhäusern zur allergrößten rhetorischen Kelle gegriffen haben, nicht glauben.

Dann werden wir unsere Lektion gelernt haben: Wo alles gefordert wird, da muss sich nichts ändern. Wer alles verlangt, erwartet nichts. Wenn alles getan werden muss, tut sich rein gar nichts. Heißa und hopsasa, weiter geht’s im alten Trott, juchhe.

Privacy Settings
We use cookies to enhance your experience while using our website. If you are using our Services via a browser you can restrict, block or remove cookies through your web browser settings. We also use content and scripts from third parties that may use tracking technologies. You can selectively provide your consent below to allow such third party embeds. For complete information about the cookies we use, data we collect and how we process them, please check our Privacy Policy
Youtube
Consent to display content from Youtube
Vimeo
Consent to display content from Vimeo
Google Maps
Consent to display content from Google