Monthly Archives: November 2011

Der Weihetag

Deutschland war verschwunden. Zurückgelassen hatte es ein sehr großes, sehr weißes Stück Tuch. Darunter lag vielleicht das alte, bekannte Land mit seinen Wiesen und Häusern, seinen Gänsen und Menschen, seinen Sorgen und Nöten und Freuden, wer konnte es wissen. Man sah ja nur das große, weiße, sehr dicht gewebte Tuch den lieben langen Tag. Zöge man es weg, wäre vielleicht eine ganz andere Region zum Vorschein gekommen, ein Flecken, in dem der Honig fließt oder der Wermut und Worte die einzige feste Nahrung sind. Deutschland wäre endgültig Geschichte. Wer weiß das schon.

Der Nebel wollte sich also nicht teilen, die Sonne war ein Gerücht, als die Kälte in die Kleider kroch und eine wachsende Schar dem Glockenklang folgte. Man schrieb das Fest Elisabeths von Thüringen. Vierundzwanzig Lebensjahre hatten der ungarischen Königstochter genügt, um sich ewig ins Weltgedächtnis einzuschreiben. Etwas älter war der Mann, zu dessen Ehre sich die Schar versammelte. Aus ganz Bayern und darüber hinaus strömte sie ins winzige Bettbrunn, wo auf den Namen Salvator eine prächtige und prachtvoll heitere Barockkirche hört. „Gehet und berichtet, was ihr hört und seht“ steht unter dem Deckengemälde in jünglingszarter Schnörkelschrift. Und so taten sie es, und so wollen wir es tun.

Der junge Mann trug zu Beginn, beim Einzug, die Stola quer, wie es Diakonensitte ist, hielt ein Gewand und eine Kerze in Händen. Knapp drei Stunden später hatte der Kardinal ihm die Stola vor der Brust gekreuzt und das Gewand übergezogen. Er war nun und für immer Priester. Das einzige laut vernehmbare Wort des jungen Mannes war jenes, mit dem die Zeremonie endete: „Libenter“ – „Gern“. So lautete die Antwort auf des Kardinals allerletzte Ermahnung in einer langen Reihe von Ermahnungen: Er solle doch nach seiner ersten Messe deren drei weitere lesen und auch „bitten für mich“, „etiam pro me ora.“

So endete im direkten Austausch von Ich und Du, im Gebet des einen für den anderen, der ihn doch gerade erhoben hatte in den neuen Stand, eine sehr öffentliche Feier. Es war eine liturgische Reise von den Amplituden der Freude zu den Höhen des unwiderruflich Ernsten und rasch retour und wieder zurück. Auch der Alltag, für den die Feier wetterfest machen sollte, lag unter einem Tuche verborgen.

Der Priester, hörten wir, bekleide das „secundi meriti munus“, das „Amt des zweiten Ranges“, ist also immer auf die Plätze verwiesen hinter dem einen allein, der Meister genannt werden darf. Und diese Nachrangigkeit in allem will teuer erstanden sein, mit Gerechtigkeit nämlich und Standhaftigkeit, Barmherzigkeit, Tapferkeit, „iustitiam, constantiam, misericordiam, fortitudinem“.

Auch von der „geistlichen Arznei“, die des jungen Mannes Lehre künftig sein solle, der „spiritualis medicina populo Dei“, für das Volk Gottes, sprach der Kardinal, und auch von himmlischer Weisheit, bewährten Sitten ging das ernste Wort, „caelestis sapientia, probi more“. Nichts Geringeres stand und steht schließlich auf dem Spiel als die Würde des jungen Mannes, gleichsam zum Gehilfen des Moses und der zwölf Apostel erwählt zu werden, „in adiutorium Moysi et duodecim Apostolos“. Ist es ein Wunder, dass der Beistand fast aller Heiliger in einer fünfzehnminütigen Litanei erfleht wurde, damit des jungen Mannes Knie etwas weniger zitterten, beim Gang in diese Ahnenreihe? „Orate pro nobis.“

Der Kardinal sprach auch in seiner nun fremd klingenden deutschen Muttersprache vom „ewigkeitsschweren Augenblick“, der sich ereigne im Moment der Weihe, in der Stille also, wenn zwei Hände ein Dach formen auf eines anderen Haupt. Und dann hinkt die Sprache hinterher, so gut es eben geht in allem vorläufigen Menschenwerk, formt die ehernen Worte, „accipe spiritum sanctum“, „empfange den Heiligen Geist“.

Gesungen wurde auch, vom Freudenöl, „oleo laetitia“, und einem Lebenspfand, „fons vivus“, von Trost und Gnade und Herrlichkeit. Von einem Weg ohne Makel und der Ehrfurcht vor den Geboten. Von Lippen voller Anmut. Von Milde und Recht. Von Vernunft und Güte. Von Liebe.

Er wird nun einen langen Weg gehen, der junge Mann, und sehr hoffen, nie allein zu sein in den Nebeltälern und nie auf den Sonnengipfeln. Das Tuch wird ein Land der Seele ihm offenbaren, in dem der Honig wie Wermut schmecken kann. Wer weiß das schon.

Indien

Sie haben den Ganges im Blick. Sie stehen da, zu zweit, getrennt durch eine halb geöffnete Tür, die vom Gastraum in die Küche führt. Fremd sind sie beide. Das Foto, das fast die ganze Wand neben der Tür ausfüllt, zeigt die schönste Inderin, wie sie lächelt, ohne die Lippen zu öffnen. Ein Punkt thront auf ihrer Stirn, die Augen sind glänzende Saphire, die Finger zehn schüchterne Tänzer. Grün und gelb und rot ist das Gewand der schönsten Inderin. Weiß und grau ist es hier.

Sie haben sich die Heimat in die Gaststube geholt. Wer sie betritt, sieht erst die ferne Prinzessin an der Wand, dann ihren Landsmann an der Theke, wie er zu Boden blickt. Ein Tuch nach Piratenart bedeckt seinen Kopf. Er grübelt, ohne zu lächeln. Zeit zu blicken und zu grübeln hat er viel, der Gastraum ist leer. Gestern war er es, vorgestern fast. Jeder Morgen ist eine verwegene Hoffnung. Niemand mag sich zu den Dreien gesellen, nicht zum Koch, nicht zum Wirt, nicht zur starren Tänzerin mit ihrem Hoheitsschimmer.

Nachmittags, wenn die Stube schließt, muss die Holde allein lächeln. Ihre beiden Freunde sitzen dann auf den Lehnen von Kinderbänken im Stadtpark. Mit gekrümmten Rücken und nun flackernden Blicken tauschen sie Worte aus, selten wie die Saphire im Bild, die ihre Rückkehr erwarten. Viel zu sagen haben sie einander nicht. Es ändert sich wenig im herbstlichen Deutschland, zwischen Küche und Park, Pizza und Ganges.

Darum nämlich sind sie gezogen in das Haus an der Hauptstraße mitsamt ihrer lächelnden Braut. Sie wollten Pizza backen, denn die Deutschen mögen das teigige Rund. Ist es nicht so? Viele Arten hält die bunte Speisekarte auf den vier Tischen bereit, mit Salami und mit Ananas, mit Käse und mit Thunfisch. Schnitzel gibt es auch und Ente. An Limonade herrscht kein Mangel.

Doch man muss ein Foto sein aus sehr fernen Tagen, um über den so grausam mangelnden Zuspruch das Lächeln nicht zu verlieren. Sind die Teig- und Fleischgerichte andernorts, bei der Konkurrenz in dreihundert Meter westlicher und zweihundert Meter nordwestlicher Entfernung besser? Ist der Boden zu dick, der Belag zu wuchtig?

Sie haben alles versucht: Aus einem Wirtshausschild wurden deren zwei, damit auch der rasende Fahrer die lockende Inschrift erspähe. Auf der Straße steht ein drittes, das nach Bedarf aufgestellt werden kann. Passanten sind oft in sich versunken. Auch Flugblätter haben sie verteilt, selbst Lohn und Brot schon angeboten: „Fahrer gesucht“ steht auf einem Zettel hinter der Glasscheibe. Hat der Koch, hat der Wirt ihn geschrieben?

Sie suchen noch immer – den Fahrer, die Kunden, das Lächeln, das sie an die Prinzessin verschenkten. Der trotzige Deutsche mag sich von Indern nicht italienisch bekochen lassen. Den Winter wollen sie abwarten. Ganz weiß soll es werden. Auf der Parkbank wollen sie Schnee liegen sehen. Im Frühjahr dann werden sie die Koffer packen, den Ganges noch fester im Blick und die Tänzerin auf der Schulter: ein seltsames Trio.

Wo man begraben wird

Manche Monate wurden erfunden, damit sie Wort werden und Bild. Der April ist so launisch, dass er Wendehälsen und Diven eine unversiegbare Rechtfertigung gibt. Im Mai greift der Maler zum Pinsel, um neu anzufangen, neu zu lieben, neu zu erschaffen. Der September gibt den Tagen ihre schönsten Farben, der Oktober taucht sie in Gold. Und dann und nun lädt der November zum Kehraus mancher Hoffnung, zur Stille, zum Blick nach innen.

November ist der Monat, da kein Haus man sich mehr baut und also unbehaust dem Schnee entgegen schlendert. November sind die Tage, da man einsam im Nebel wandert und sich seltsam dabei erfährt. November sind kreisendes Laub im Wirbel der Chaussee. November ist der Geruch von Erde, feuchter Morgenluft und Nebelnacht. November ist immer schon der, an den wir denken, ehe wir ihn erfahren. Im Futteral der Bilder steckt er fest vertaut.

Traurig macht der November weit weniger als der Juni oder Juli. Wenn alles eingestellt scheint auf Rückschau, Vergänglichkeit, Melancholie, fühlt der Melancholiker sich pudelwohl. Er braucht nicht irre zu gehen an einer Welt, die rasend nur um sich kreist. Der Periphere rückt in die Mitte einer zentrifugalen Entschleunigung, die allgemein ist.

Im November also fiel mir wieder ein: Heimat ist, wo du begraben wirst. So ähnlich sagte es der alte Mann, der mir ungefragt eröffnete, er habe vor nunmehr vierzig Jahren, als er hierher zog, nach einem ersten Rundgang durch den Ort sofort gewusst: Hier willst du begraben sein. Gewiss war damals auch und sehr viel Liebe im Spiel, niemand zieht ganz leicht von dannen. Das Bekenntnis aber bleibt von kristalliner Klarheit. Das Grab wird uns wahr sprechen.

Wie die meisten Novembergedanken ist auch dieser eher sachlich denn traurig. Der ehemals junge Mann wusste – in der Nachhut eines Krieges, der Tod und Mord und Heimatlosigkeit und viele Gräber „in fremder Erde“ über die Welt gebracht hatte –, dass ihm einst die Stunde schlagen würde und dass sie es bitte hier tun solle. Dann würde sich sein Leben runden, auf der allerletzten Kehre.

So streckt der ganze November sich aus. Er ist ein Pfeil, kein Kreis, ein Weckruf, kein Abgesang. Er bricht die morschen Zweige, damit der Boden wachsen kann. Er hebt die Blätter, um sie einmal wenigstens flattern zu lassen, in freier Verzückung sonnenwärts. Er ist Episode, die schwindet und wiederkehrt, gerade so Epoche macht und tröstet. Ich mag ihn.

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