Der lange Abschied eines deutschen Papstes
Drei Tode starb Joseph Ratzinger. Am 19. April 2005 wurde er als Nachfolger Johannes Pauls II. zum Papst gewählt. Er selbst sprach vom „Fallbeil“, das im Konklave auf ihn niedergegangen sei. Fortan gab es nur noch Benedikt XVI., Joseph war Geschichte. Am 28. Februar 2013 verließ der 265. Pontifex seit Petrus gegen 20 Uhr im Hubschrauber den Vatikan und flog nach Castelgandolfo. Damit war sein ebenso rätselhafter wie historischer Rücktrittsentscheid vom 10. Februar wahr geworden. Jetzt sollte es nur „Vater Benedikt“ geben, den Beter im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae. Der leibliche Tod, der ihn dort am 31. Dezember 2022 ereilte, im Alter von 95 Jahren, klopfte zur Morgenstunde an.
Das Ende bedenken, vom Ende her denken: diese philosophische Lebensregel war dem 1927 in Marktl am Inn geborenen Theologen, Bischof und Schriftsteller früh geistliches Programm. Mit 28 Jahren habilitierte er sich in München mit einer Arbeit über die apokalyptische Geschichtstheologie Bonaventuras, eines Denkers und Heiligen des 13. Jahrhunderts. Er leitete daraus die Warnung ab, keine „Vollerlösung in der Geschichte“ zu erwarten. Utopien waren Ratzingers Sache nie. Darum befremdete ihn der Erlösungsfuror der Achtundsechziger. Der junge Professor floh 1968, wie er rückblickend schrieb, vor einer „sehr gewalttätigen Explosion marxistischer Theologie“ an der Universität Tübingen nach Regensburg. Ebenfalls 1968 legte er seinen Long- und Bestseller „Einführung in das Christentum“ vor, bis heute eine frische und anregende Lektüre.
Neun Jahre später veröffentlichte er die Schrift „Eschatologie, Tod und ewiges Leben“, die ihm sehr am Herzen lag. 1995 stellte er knapp fest, es werde „innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absoluten idealen Zustand geben“, und 2002 wies er darauf hin, dass eine „endgültig heile Gesellschaft“ das Ende der Freiheit bedeutete. Im darauffolgenden Jahr weitete er in einem Vortrag über das Lehramt Johannes Pauls II. die utopiekritische zur antirelativistischen Mahnung: „Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.“ Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Und warum dann dieses vorzeitige Enden, dieser freigewählte Abschied im Februar 2013 von der Würde eines Amtes, das binden sollte bis zum Tod?
Als Pontifex Maximus – wenngleich ohne Tiara, die er aus dem päpstlichen Wappen entfernte, – wollte Benedikt die Fundamente des Christentums befestigen, Glaube und Vernunft versöhnen, den inneren Menschen rehabilitieren: „…und das Denken wird zum Glauben.“ Reisen, Enzykliken, Predigten, nicht zuletzt Mittwochskatechesen waren Mittel der Wahl. Bei diesen wurde er seinem halb spöttisch, halb bewundernd genannten Spitznamen „Professor Dr. Papst“ gerecht. Mittwoch für Mittwoch lud er in die vatikanische Audienzhalle oder auf den Petersplatz zur Kurzvorlesung. Ein aufgeklärter Glaube, wie er ihn einforderte, war für Ratzinger ein Glaube, der aus dem Wissen zehrt, auf Traditionen fußt und deshalb auskunftsfähig bleibt. Sein Abend mit Jürgen Habermas in der Münchner Katholischen Akademie am 19. Januar 2004 über eine „entgleisende Modernisierung“ (Habermas) und die „notwendige Korrelationalität von Vernunft und Glaube“ (Ratzinger) war insofern ein papables Präludium.
Die Katechesen bei der Generalaudienz widmeten sich zunächst und in Fortsetzung der Ansprachen Johannes Pauls II. den Psalmen, dann den Aposteln und „anderen wichtigen Persönlichkeiten der Urkirche“, danach den Kirchenvätern zwischen Cyprian von Karthago, Athanasius von Alexandrien und Aphrahat dem Weisen, im Paulusjahr 2008/09 dem heiligen Paulus. Es folgten weitere Denker des Christentums, darunter Ambrosius Autpertus, „ein ziemlich unbekannter Autor“, schließlich Frauen des Mittelalters, eine „Schule des Gebets“ und zuletzt das „Jahr des Glaubens“ 2012/13. Am Ende, in seiner letzten Generalaudienz erläuterte Benedikt noch einmal seinen Amtsverzicht: „In diesen letzten Monaten habe ich gespürt, dass meine Kräfte nachgelassen haben, und ich habe Gott im Gebet angefleht, mich mit seinem Licht zu erleuchten, um mir zu helfen, die Entscheidung zu fällen, welche nicht für mein eigenes Wohl, sondern für das Wohl der Kirche die richtigste ist. Ich habe diesen Schritt im vollen Bewusstsein seines schwerwiegenden Ernstes und seiner Neuheit, aber mit einer tiefen Seelenruhe getan.“ Überzeugt diese Erklärung?
Von seinen drei Enzykliken „Deus Caritas est“ über die Liebe, „Spe salvi“ über die Hoffnung und „Caritas in Veritate“ zur sozialen Lage ist die mittlere von 2009 die stärkste Probe auf das Exempel voraussetzungsloser Gesprächsbereitschaft. In der Hoffnung, durch die Hoffnung bereits jetzt gerettet sollen sich Christen fühlen dürfen. Darum prägte Benedikt eine griffige Formel, deren Präsens die Botschaft ist: „Wir sind frei. Wir sind gerettet“. In „Spe Salvi“ diskutiert Benedikt Theodor W. Adorno, schreibt in der ersten Person Singular und bekennt sich zur „Hoffnungsgewissheit“. Der Glaube ziehe „Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Nochnicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein.“ Der Dreischritt vom Glauben über die Hoffnung zum Tun ist die argumentative Grundfigur von „Spe salvi“. Entfaltet wird sie im Dialog mit Kirchenvätern und Theologen, Marxisten und Philosophen.
Drei Enzykliken in knapp acht Jahren waren wenig im Vergleich zu den 14 Sendschreiben des polnischen Vorgängers, dem Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation treu gedient hatte. Doch das Pontifikat Johannes Pauls II. währte 25 Jahre. Benedikt hinterließ in einem Drittel der Zeit rekordverdächtige 144 Apostolische Schreiben, schrieb 278 öffentliche Briefe und hielt knapp 1500 Ansprachen. Er schonte sich nicht. Georg Ratzinger machte sich von Beginn an Sorgen um die schwächliche Konstitution des jüngeren Bruders. Die 24 Reisen außerhalb und 30 Reisen innerhalb Italiens standen dem freilich nicht im Weg.
Benedikt reiste in die Türkei, wo nach seiner Regensburger Rede über das voluntaristische Gottesbild im Islam Konflikte befürchtet worden waren, er reiste nach Großbritannien, wo der organisierte Neoatheismus Proteste angekündigt hatte, in die USA und zu den Vereinten Nationen, nachdem Fälle priesterlichen Kindesmissbrauchs für Bestürzung gesorgt hatten, nach Frankreich, dessen laizistische Tradition sich herausgefordert sah, ins Heilige Land, wo jeder Schritt der falsche hätte sein können, schließlich und endlich in den Libanon, dessen fragiles religiöses Gleichgewicht gefährdet war. Überall wusste er die Situation durch bescheidenes Auftreten und nachdenkliche Reden zu entkrampfen.
Kern von Benedikts Überlegungen im September 2010 in Londons Westminster Hall, wie sie sehr ähnlich ein Jahr später im Deutschen Bundestag erklingen sollten, war die Warnung vor einem bloß prozeduralen Demokratiebegriff. „Wenn“, so Benedikt, „die den demokratischen Abläufen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung der Demokratie.“ Der Konsens kann heute diese, morgen jene Gestalt annehmen, ohne sich die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Guten je zu stellen. Aus diesem Grund brauche die bloße Vernunft die „Korrekturfunktion der Religion“ und bedürfe die Religion „der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft“. Es war ein Hauptanliegen des Pontifikats gewesen, Vernunft und Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Wahrheitsfrage virulent bleibt.
Überzeugen durch Nähe, Bescheidenheit und zielgruppenadäquate Ansprache: Diesem Grundprinzip folgten Benedikts Reisen, beginnend beim Weltjugendtag in Köln im August 2005, endend im Libanon im September 2012. Neben den Visiten in gegenwärtig oder ehemals stramm katholischen Ländern wie Polen, Spanien, Österreich, Portugal, Mexiko galt sein Augenmerk den Krisenregionen der Erde. Auch Treibhaustemperaturen in Kamerun und Angola Anfang 2009 oder schwierige organisatorische Umstände in Benin im November 2011 und ein politisches Minenfeld auf Kuba im März 2012 rangen ihm keinen Seufzer ab. Ein schöner Lebensabend sieht anders aus.
Im Libanon zuletzt plädierte Benedikt für menschliche Einheit über alle Spaltung hinweg und ortete sie im „angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre“. So mündet christlicher Humanismus in eine ästhetische Pointe. Das Gute verspricht Schönheit im umfassenden Sinn. Schönheit befreit, Schönheit erlöst: Hier liegt der Kern des Weltzugangs eines bayerischen Katholiken und Mozart-Liebhabers. Seinen tiefsten Satz sprach Benedikt in Barcelona aus, bei der Einweihung der Kirche Sagrada Familia von Antonio Gaudi: „In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“
Mit Schönheit ist in Deutschland kein Staat zu machen. Hier war prompt der Widerstand gegen Benedikts Liberalisierung der klassischen lateinischen Messe durch das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ (2007) am plumpsten. Auch der Appell im Freiburger Konzerthaus bei seiner letzten Rede auf deutschem Boden im September 2011, „die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen“ und auf Privilegien zu verzichten, stieß im Land der Kirchensteuerkirche auf taube Ohren: „Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Nichts ist davon bis heute zu spüren, die ekklesiale Verweltlichung schreitet munter voran, aktuell unter der Überschrift eines
„Synodalen Wegs“. Ratzinger hätte allen Grund, noch einmal, wie bereits als Münchner Erzbischof im Gespräch mit Robert Spaemann zu konstatieren: „Wissen Sie, was das größte Problem der Kirche in Deutschland ist? Sie hat zu viel Geld.“
Unschönes zuhauf blieb einem Pontifikat unter dem Banner der Schönheit nicht erspart: Zum Schreckensjahr entwickelte sich 2010, vom Missbrauchsskandal überschattet und vom obskuren Bischof und Holocaust-Relativierer Richard Williamson von der Piusbruderschaft, mit der die Kurie gerade verhandelte. Das Krisenmanagement des Meisterdenkers war wenig meisterlich, im Umfeld überboten sich Unfähige und Missgünstige. Mit der Faust auf welchen Tisch auch immer schlagen: das wäre dem scheuen Intellektuellen nicht in den Sinn gekommen. Er spürte die Grenzen seiner Persönlichkeit. Die Ringe unter den Augen wuchsen. Sommer wollte es in diesem Annus horibilis nicht werden.
Auf den Namen „Vatileaks“ hörte die Krise des Jahres 2012. In einem Fernsehsender referierte der Journalist Gianluigi Nuzzi aus zwei Briefen von 2011 an den Papst über finanzielle Unregelmäßigkeiten im Governatorat, der Verwaltung des Vatikanstaates. Eine Tageszeitung veröffentlichte zwei Tage später weitere vertrauliche Briefe an den Papst und an Staatssekretär Bertone. Das Spiel setzte sich fort mit mehreren ergänzenden Veröffentlichungen. Nuzzi reichte ein Buch über seine Funde nach. Wie waren diese Dokumente in die Öffentlichkeit gelangt? Ein Kammerdiener des Papstes wurde als Schuldiger überführt. Ihn begnadigte Benedikt kurz vor Weihnachten. Der Chef der Vatikanbank, ein Mann Benedikts, war mittlerweile zurück getreten. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Sommer 2012, predigte Benedikt über Judas und „die Falschheit, die das Zeichen des Teufels ist.“ Die Eschatologie war Medium der Gegenwartskritik.
Eine eigene Betrachtung verdiente die Kunst der Epigrammatik, wie Joseph Ratzinger sie beherrschte. Er prägte zahlreiche Apercus und Aphorismen. Über seiner ersten Deutschland-Visite stand als Motto „Wer glaubt, ist nicht allein“. Er wusste, „die Demut ist das Tor jeder Tugend“, die „Verpflichtung zur Wahrheit die Seele der Gerechtigkeit“ und „die Schönheit das Siegel der Wahrheit.“ Er musste erfahren, dass „die größte Verfolgung der Kirche nicht von den äußeren Feinden kommt, sondern aus der Sünde in der Kirche erwächst“, vor allem aber: „Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der die Lüge Macht hat.“
Zwei Kisten standen zwischen Benedikt und dessen Amtsnachfolger auf einem Foto, das die beiden Anfang 2013 beim Gespräch zeigt. Darin befinden sich Dokumente, vermutlich zur „Vatileaks“-Affäre. Spielten sie eine Rolle beim Amtsverzicht, der ein Mysterium bleibt, eine Überraschung war und teils für Applaus, teils für Enttäuschung sorgte? Eine Emeritierung steht deutschen Professoren besser zu Gesicht als römischen Bischöfen. Benedikts Rücktritt war eben auch eine Flucht vom Stuhl Petri, der mehr ist als ein Lehrstuhl. In das Konzept einer Ecclesia Militans, einer kämpfenden Kirche, wie es Benedikt noch wenige Monate zuvor entworfen hatte – „Wir sehen, wie das Böse die Welt beherrschen will, und dass es nötig ist, in den Kampf gegen das Böse einzutreten“ – passt eine Demission aus Altersschwäche nicht.
Zurück ließ der große Gelehrte und prinzipielle Nonkonformist, der Mystiker aus Einsicht, der utopieskeptische Antirelativist und moderne Modernitätskritiker eine Kiste voller Fragen und offener Enden. Sein Pontifikat brach ab. Darauf folgten seit jenen merkwürdigen Tagen Anfang 2013 Stillosigkeit und Orientierungsmängel in einem Maße, das auch Vater Benedikt in Mater Ecclesiae ins Grübeln gebracht haben dürfte: Franziskus, eine Nemesis? Wenn „Spe Salvi“ Recht haben sollte, werden wir es erfahren. In den Worten Ernst Blochs, dem Joseph Ratzinger in Tübingen begegnete: „Hoffnung hat den Morgen für sich, der noch wieder kommt, die Arbeit, der noch kein Umsonst gesetzt ist, die Glückszeichen, die noch nicht erstarrt sind, die Lichtzeichen, die selbst die Erstarrung überdauern.“