Kategorie: Allgemein

Eier sind wirklich Eier – und Rosen Rosen

Foto: A. Kissler

Die Zeiten sind in Verwirrung, die Probleme türmen sich zum Himmel, die Gesellschaft gerät aus der Balance – wer wollte es bestreiten? Da tut es gut, sich für einen Augenblick an die „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ zu erinnern, wie sie Thomas von Aquin vertrat.

Zumindest deutet Gilbert Keith Chesterton den großen Abendländer so. In seiner hinreißenden Biografie „Der stumme Ochse“ (1933/35), die natürlich auch eine Selbstbeschreibung ist, entdeckt Chesterton den Aquinaten als Bruder im Geist. Die Punkte, die die beiden klugen Köpfe verbinden, sind jene, die im Jahre 2024 wie eine Flaschenpost für uns Heutige erscheinen. Denn was, folgen wir Chesterton, lässt sich beim Aquinaten lernen? Viererlei, scheint mir.

Erstens sollte der Mensch nie aufhören, neugierig zu sein, auf andere, auf sich, auf das, was er ablehnt, was ihm nicht einleuchtet, was ihn herausfordert. Thomas, schreibt Chesterton, „arbeitete die Schriften selbst von Gegnern des Christentums viel sorgfältiger und unbefangener ab, als es zu seiner Zeit üblich war.“ Echokammern und Blasengespräche wären mit ihm nicht zu machen. Wer die Welt verstehen will, der muss sich für sie in all ihren Schattierungen interessieren. Thomas war nämlich „durchaus kein Mensch, der gar nichts wollte, sondern ein Mensch, der sich ganz außerordentlich für alles interessierte.“ Wer nichts will, wird nie etwas erreichen.

Zweitens blieb es, Chesterton zufolge, nicht beim bloßen Spiel der Reize und Gegenreize. Thomas war überzeugt: Die Welt ist dazu da, dass wir etwas von ihr lernen. Er vertraute der Vernunft. Dieses Vertrauen, ohne das sich kein Problem lösen lässt, droht heute verloren zu gehen.

Drittens erhielt bei Thomas der „unverbogene Geist des einfachen Menschen“ deshalb philosophische Weihen, weil der Bettelmönch von der Erkennbarkeit der Welt überzeugt war. Chesterton bringt es auf eine klassisch gewordene Formel: „Die Philosophie des hl. Thomas steht auf dem normalen Standpunkt, dass Eier wirklich Eier sind.“ Es sind nicht eihafte Ideen, nicht Hühner als „Teil eines endlosen Werdeprozesses“, nicht Träume, nicht Vorprodukte von Spiegel- oder Rühreiern.

Chesterton urteilt hart: „Seitdem im 16. Jahrhundert die Neuzeit begonnen hat, steht kein einziges philosophisches Weltbild mehr wahrhaft im Zusammenhang mit der Anschauung irgendeines Menschen von der Wirklichkeit – mit dem, was der gewöhnliche Mensch, wenn man ihn sich selbst überließe, den gesunden Menschenverstand nennen würde.“ Heute, denke ich, kommt es in der Politik auf die Rückgewinnung der Wirklichkeit und die Rückkehr zum gesunden Menschenverstand an.

Was nämlich ist – viertens – das Resultat, wenn der Mensch neugierig bleibt, der Vernunft vertraut und die Wirklichkeit als wirklich annimmt? „Das einzig wirklich zutreffende Wort für seine Atmosphäre ist Optimismus.“ Wir leben in zuweilen düsterer Zeit, weil ohne Vernunft, Neugier und Realismus nur Dogmen bleiben, und keine Hoffnung, kein Optimismus mehr gedeiht. Wären wir bereit, von Chesterton und Thomas zu lernen?

Der lange Abschied eines deutschen Papstes

Drei Tode starb Joseph Ratzinger. Am 19. April 2005 wurde er als Nachfolger Johannes Pauls II. zum Papst gewählt. Er selbst sprach vom „Fallbeil“, das im Konklave auf ihn niedergegangen sei. Fortan gab es nur noch Benedikt XVI., Joseph war Geschichte. Am 28. Februar 2013 verließ der 265. Pontifex seit Petrus gegen 20 Uhr im Hubschrauber den Vatikan und flog nach Castelgandolfo. Damit war sein ebenso rätselhafter wie historischer Rücktrittsentscheid vom 10. Februar wahr geworden. Jetzt sollte es nur „Vater Benedikt“ geben, den Beter im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae. Der leibliche Tod, der ihn dort am 31. Dezember 2022 ereilte, im Alter von 95 Jahren, klopfte zur Morgenstunde an.

Knapp acht Jahre lang war Joseph Ratzinger Papst, über neun Jahre dann Papa emeritus.

Das Ende bedenken, vom Ende her denken: diese philosophische Lebensregel war dem 1927 in Marktl am Inn geborenen Theologen, Bischof und Schriftsteller früh geistliches Programm. Mit 28 Jahren habilitierte er sich in München mit einer Arbeit über die apokalyptische Geschichtstheologie Bonaventuras, eines Denkers und Heiligen des 13. Jahrhunderts. Er leitete daraus die Warnung ab, keine „Vollerlösung in der Geschichte“ zu erwarten. Utopien waren Ratzingers Sache nie. Darum befremdete ihn der Erlösungsfuror der Achtundsechziger. Der junge Professor floh 1968, wie er rückblickend schrieb, vor einer „sehr gewalttätigen Explosion marxistischer Theologie“ an der Universität Tübingen nach Regensburg. Ebenfalls 1968 legte er seinen Long- und Bestseller „Einführung in das Christentum“ vor, bis heute eine frische und anregende Lektüre.

Neun Jahre später veröffentlichte er die Schrift „Eschatologie, Tod und ewiges Leben“, die ihm sehr am Herzen lag. 1995 stellte er knapp fest, es werde „innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absoluten idealen Zustand geben“, und 2002 wies er darauf hin, dass eine „endgültig heile Gesellschaft“ das Ende der Freiheit bedeutete. Im darauffolgenden Jahr weitete er in einem Vortrag über das Lehramt Johannes Pauls II. die utopiekritische zur antirelativistischen Mahnung: „Nur wenn es das unbedingt Gute gibt, für das zu sterben sich lohnt, und das immer Schlechte, das nie gut wird, ist der Mensch in seiner Würde bestätigt und sind wir geschützt vor der Diktatur der Ideologien.“ Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Und warum dann dieses vorzeitige Enden, dieser freigewählte Abschied im Februar 2013 von der Würde eines Amtes, das binden sollte bis zum Tod?

Als Pontifex Maximus – wenngleich ohne Tiara, die er aus dem päpstlichen Wappen entfernte, – wollte Benedikt die Fundamente des Christentums befestigen, Glaube und Vernunft versöhnen, den inneren Menschen rehabilitieren: „…und das Denken wird zum Glauben.“ Reisen, Enzykliken, Predigten, nicht zuletzt Mittwochskatechesen waren Mittel der Wahl. Bei diesen wurde er seinem halb spöttisch, halb bewundernd genannten Spitznamen „Professor Dr. Papst“ gerecht. Mittwoch für Mittwoch lud er in die vatikanische Audienzhalle oder auf den Petersplatz zur Kurzvorlesung. Ein aufgeklärter Glaube, wie er ihn einforderte, war für Ratzinger ein Glaube, der aus dem Wissen zehrt, auf Traditionen fußt und deshalb auskunftsfähig bleibt. Sein Abend mit Jürgen Habermas in der Münchner Katholischen Akademie am 19. Januar 2004 über eine „entgleisende Modernisierung“ (Habermas) und die „notwendige Korrelationalität von Vernunft und Glaube“ (Ratzinger) war insofern ein papables Präludium.

Die Katechesen bei der Generalaudienz widmeten sich zunächst und in Fortsetzung der Ansprachen Johannes Pauls II. den Psalmen, dann den Aposteln und „anderen wichtigen Persönlichkeiten der Urkirche“, danach den Kirchenvätern zwischen Cyprian von Karthago, Athanasius von Alexandrien und Aphrahat dem Weisen, im Paulusjahr 2008/09 dem heiligen Paulus. Es folgten weitere Denker des Christentums, darunter Ambrosius Autpertus, „ein ziemlich unbekannter Autor“, schließlich Frauen des Mittelalters, eine „Schule des Gebets“ und zuletzt das „Jahr des Glaubens“ 2012/13. Am Ende, in seiner letzten Generalaudienz erläuterte Benedikt noch einmal seinen Amtsverzicht: „In diesen letzten Monaten habe ich gespürt, dass meine Kräfte nachgelassen haben, und ich habe Gott im Gebet angefleht, mich mit seinem Licht zu erleuchten, um mir zu helfen, die Entscheidung zu fällen, welche nicht für mein eigenes Wohl, sondern für das Wohl der Kirche die richtigste ist. Ich habe diesen Schritt im vollen Bewusstsein seines schwerwiegenden Ernstes und seiner Neuheit, aber mit einer tiefen Seelenruhe getan.“ Überzeugt diese Erklärung?

Ein typischer Deutscher war der ehemalige Erzbischof von München und Freising nicht.

Von seinen drei Enzykliken „Deus Caritas est“ über die Liebe, „Spe salvi“ über die Hoffnung und „Caritas in Veritate“ zur sozialen Lage ist die mittlere von 2009 die stärkste Probe auf das Exempel voraussetzungsloser Gesprächsbereitschaft. In der Hoffnung, durch die Hoffnung bereits jetzt gerettet sollen sich Christen fühlen dürfen. Darum prägte Benedikt eine griffige Formel, deren Präsens die Botschaft ist: „Wir sind frei. Wir sind gerettet“. In „Spe Salvi“ diskutiert Benedikt Theodor W. Adorno, schreibt in der ersten Person Singular und bekennt sich zur „Hoffnungsgewissheit“. Der Glaube ziehe „Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Nochnicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein.“ Der Dreischritt vom Glauben über die Hoffnung zum Tun ist die argumentative Grundfigur von „Spe salvi“. Entfaltet wird sie im Dialog mit Kirchenvätern und Theologen, Marxisten und Philosophen.

Drei Enzykliken in knapp acht Jahren waren wenig im Vergleich zu den 14 Sendschreiben des polnischen Vorgängers, dem Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation treu gedient hatte. Doch das Pontifikat Johannes Pauls II. währte 25 Jahre. Benedikt hinterließ in einem Drittel der Zeit rekordverdächtige 144 Apostolische Schreiben, schrieb 278 öffentliche Briefe und hielt knapp 1500 Ansprachen. Er schonte sich nicht. Georg Ratzinger machte sich von Beginn an Sorgen um die schwächliche Konstitution des jüngeren Bruders. Die 24 Reisen außerhalb und 30 Reisen innerhalb Italiens standen dem freilich nicht im Weg.

Benedikt reiste in die Türkei, wo nach seiner Regensburger Rede über das voluntaristische Gottesbild im Islam Konflikte befürchtet worden waren, er reiste nach Großbritannien, wo der organisierte Neoatheismus Proteste angekündigt hatte, in die USA und zu den Vereinten Nationen, nachdem Fälle priesterlichen Kindesmissbrauchs für Bestürzung gesorgt hatten, nach Frankreich, dessen laizistische Tradition sich herausgefordert sah, ins Heilige Land, wo jeder Schritt der falsche hätte sein können, schließlich und endlich in den Libanon, dessen fragiles religiöses Gleichgewicht gefährdet war. Überall wusste er die Situation durch bescheidenes Auftreten und nachdenkliche Reden zu entkrampfen.

Kern von Benedikts Überlegungen im September 2010 in Londons Westminster Hall, wie sie sehr ähnlich ein Jahr später im Deutschen Bundestag erklingen sollten, war die Warnung vor einem bloß prozeduralen Demokratiebegriff. „Wenn“, so Benedikt, „die den demokratischen Abläufen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung der Demokratie.“ Der Konsens kann heute diese, morgen jene Gestalt annehmen, ohne sich die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Guten je zu stellen. Aus diesem Grund brauche die bloße Vernunft die „Korrekturfunktion der Religion“ und bedürfe die Religion „der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft“. Es war ein Hauptanliegen des Pontifikats gewesen, Vernunft und Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Wahrheitsfrage virulent bleibt.

Überzeugen durch Nähe, Bescheidenheit und zielgruppenadäquate Ansprache: Diesem Grundprinzip folgten Benedikts Reisen, beginnend beim Weltjugendtag in Köln im August 2005, endend im Libanon im September 2012. Neben den Visiten in gegenwärtig oder ehemals stramm katholischen Ländern wie Polen, Spanien, Österreich, Portugal, Mexiko galt sein Augenmerk den Krisenregionen der Erde. Auch Treibhaustemperaturen in Kamerun und Angola Anfang 2009 oder schwierige organisatorische Umstände in Benin im November 2011 und ein politisches Minenfeld auf Kuba im März 2012 rangen ihm keinen Seufzer ab. Ein schöner Lebensabend sieht anders aus.

Im Libanon zuletzt plädierte Benedikt für menschliche Einheit über alle Spaltung hinweg und ortete sie im „angeborenen Sinn für das Schöne, Gute und Wahre“. So mündet christlicher Humanismus in eine ästhetische Pointe. Das Gute verspricht Schönheit im umfassenden Sinn. Schönheit befreit, Schönheit erlöst: Hier liegt der Kern des Weltzugangs eines bayerischen Katholiken und Mozart-Liebhabers. Seinen tiefsten Satz sprach Benedikt in Barcelona aus, bei der Einweihung der Kirche Sagrada Familia von Antonio Gaudi: „In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.“

Mit Schönheit ist in Deutschland kein Staat zu machen. Hier war prompt der Widerstand gegen Benedikts Liberalisierung der klassischen lateinischen Messe durch das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ (2007) am plumpsten. Auch der Appell im Freiburger Konzerthaus bei seiner letzten Rede auf deutschem Boden im September 2011, „die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen“ und auf Privilegien zu verzichten, stieß im Land der Kirchensteuerkirche auf taube Ohren: „Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Nichts ist davon bis heute zu spüren, die ekklesiale Verweltlichung schreitet munter voran, aktuell unter der Überschrift eines
„Synodalen Wegs“. Ratzinger hätte allen Grund, noch einmal, wie bereits als Münchner Erzbischof im Gespräch mit Robert Spaemann zu konstatieren: „Wissen Sie, was das größte Problem der Kirche in Deutschland ist? Sie hat zu viel Geld.“

Unschönes zuhauf blieb einem Pontifikat unter dem Banner der Schönheit nicht erspart: Zum Schreckensjahr entwickelte sich 2010, vom Missbrauchsskandal überschattet und vom obskuren Bischof und Holocaust-Relativierer Richard Williamson von der Piusbruderschaft, mit der die Kurie gerade verhandelte. Das Krisenmanagement des Meisterdenkers war wenig meisterlich, im Umfeld überboten sich Unfähige und Missgünstige. Mit der Faust auf welchen Tisch auch immer schlagen: das wäre dem scheuen Intellektuellen nicht in den Sinn gekommen. Er spürte die Grenzen seiner Persönlichkeit. Die Ringe unter den Augen wuchsen. Sommer wollte es in diesem Annus horibilis nicht werden.

Auf den Namen „Vatileaks“ hörte die Krise des Jahres 2012. In einem Fernsehsender referierte der Journalist Gianluigi Nuzzi aus zwei Briefen von 2011 an den Papst über finanzielle Unregelmäßigkeiten im Governatorat, der Verwaltung des Vatikanstaates. Eine Tageszeitung veröffentlichte zwei Tage später weitere vertrauliche Briefe an den Papst und an Staatssekretär Bertone. Das Spiel setzte sich fort mit mehreren ergänzenden Veröffentlichungen. Nuzzi reichte ein Buch über seine Funde nach. Wie waren diese Dokumente in die Öffentlichkeit gelangt? Ein Kammerdiener des Papstes wurde als Schuldiger überführt. Ihn begnadigte Benedikt kurz vor Weihnachten. Der Chef der Vatikanbank, ein Mann Benedikts, war mittlerweile zurück getreten. Auf dem Höhepunkt der Krise, im Sommer 2012, predigte Benedikt über Judas und „die Falschheit, die das Zeichen des Teufels ist.“ Die Eschatologie war Medium der Gegenwartskritik.

Eine eigene Betrachtung verdiente die Kunst der Epigrammatik, wie Joseph Ratzinger sie beherrschte. Er prägte zahlreiche Apercus und Aphorismen. Über seiner ersten Deutschland-Visite stand als Motto „Wer glaubt, ist nicht allein“. Er wusste, „die Demut ist das Tor jeder Tugend“, die „Verpflichtung zur Wahrheit die Seele der Gerechtigkeit“ und „die Schönheit das Siegel der Wahrheit.“ Er musste erfahren, dass „die größte Verfolgung der Kirche nicht von den äußeren Feinden kommt, sondern aus der Sünde in der Kirche erwächst“, vor allem aber: „Die Wahrheit kostet Leiden in einer Welt, in der die Lüge Macht hat.“

Zwei Kisten standen zwischen Benedikt und dessen Amtsnachfolger auf einem Foto, das die beiden Anfang 2013 beim Gespräch zeigt. Darin befinden sich Dokumente, vermutlich zur „Vatileaks“-Affäre. Spielten sie eine Rolle beim Amtsverzicht, der ein Mysterium bleibt, eine Überraschung war und teils für Applaus, teils für Enttäuschung sorgte? Eine Emeritierung steht deutschen Professoren besser zu Gesicht als römischen Bischöfen. Benedikts Rücktritt war eben auch eine Flucht vom Stuhl Petri, der mehr ist als ein Lehrstuhl. In das Konzept einer Ecclesia Militans, einer kämpfenden Kirche, wie es Benedikt noch wenige Monate zuvor entworfen hatte – „Wir sehen, wie das Böse die Welt beherrschen will, und dass es nötig ist, in den Kampf gegen das Böse einzutreten“ – passt eine Demission aus Altersschwäche nicht.

Zurück ließ der große Gelehrte und prinzipielle Nonkonformist, der Mystiker aus Einsicht, der utopieskeptische Antirelativist und moderne Modernitätskritiker eine Kiste voller Fragen und offener Enden. Sein Pontifikat brach ab. Darauf folgten seit jenen merkwürdigen Tagen Anfang 2013 Stillosigkeit und Orientierungsmängel in einem Maße, das auch Vater Benedikt in Mater Ecclesiae ins Grübeln gebracht haben dürfte: Franziskus, eine Nemesis? Wenn „Spe Salvi“ Recht haben sollte, werden wir es erfahren. In den Worten Ernst Blochs, dem Joseph Ratzinger in Tübingen begegnete: „Hoffnung hat den Morgen für sich, der noch wieder kommt, die Arbeit, der noch kein Umsonst gesetzt ist, die Glückszeichen, die noch nicht erstarrt sind, die Lichtzeichen, die selbst die Erstarrung überdauern.“

Auch der Geist braucht eine Lobby

Der Geist hat keine Lobby, und davon profitiert nur die Geistlosigkeit. Ohne Geist nämlich keine Begeisterung, ohne Begeisterung keine Daseinsfreude, ohne Daseinsfreude keine schöpferische Kraft und ohne schöpferische Kraft keine Zukunft. Der Mensch dieser Tage hat sich eingekapselt in ewiger Gegenwart, weil er dem Geist nichts mehr zutraut und vom Morgen nichts erwartet oder nur Schlechtes. Weil er nicht sein will, was er ist: ein geistiges Wesen.

Foto: A. Kissler

Am viel zu oft, viel zu leicht zitierten Satz vom Geist, der wehe, wo er will, ist das Wollen die Pointe. Der Geist hat demnach einen Willen. Der Stoff hat, frei nach Adorno, seine Tendenz, der Geist aber seinen Willen. Wer sich je entflammen ließ von einem Lied, einem Gedicht, einer Erzählung, der spürt die Wirkungen des Geistes ganz körperlich. Geist sucht Verbündete, es gibt ihn nicht im Monolog. Geist ist sich selbst nie genug. Er ist die Kraft, die bejaht, die Energie, die verbindet, ein Echo für uns. Geistlos ist ebenso das Unrhythmische wie das Monotone. Die Maschine hat keinen Geist, und ein Mensch würde geistlos, wollte er nur funktionieren. Oder anderen nur ein Funktionieren abverlangen, mal in ökonomischer, mal in politischer, mal in ideologischer Hinsicht. Keine Freiheit ohne Geist, kein Geist ohne Freiheit.

Den Geist drängt es nach vorne, er ist kein Besitzstandswahrer und darum in Deutschland ein Fremdling. Damit der Geist wehen kann, muss der Mensch das Gatter der Gewöhnung verlassen. Stabilitätsnarren können gute Untertanen sein, aber nur schlechte Freiheitswesen. Unmöglich, wie es phrasenhaft heißt, kann Zukunft gewonnen werden, wenn man sie als Rechenexempel deutet oder bloße Fortsetzung der Gegenwart oder Übung im Gehorsam. Was immer der Geist im Einzelnen wollen mag: die gerade Linie will er nicht. Dass Überraschungen zum Guten ausschlagen können und Zukunft kein Drohwort ist, ist die Kernbotschaft des Geistes.

Neben der Kunst sollten auch Politik und Wissenschaft sich den Zumutungen des Geistes öffnen. Wer forscherische Neugier und freies Denken skandalisiert, darf sich nicht wundern, wenn er eine geistferne Politik erntet, eine Politik, in der alles „auf Kante genäht“ ist und „auf Sicht“ gefahren wird, eine Politik, in der die Exekutive zu ihrem Souverän wie mit einem begriffsstutzigen Erziehungsberechtigten spricht: „Unsere gemeinsame Leistung ist nämlich das, was bei uns glücklicherweise nicht eingetreten ist. (…) Freuen wir uns über alles, das jetzt wieder geht, und nutzen wir es. (…) Wenn wir das hinbekommen, (…) das wäre was.“ Kein Geist kann solches Lallen wollen.

Bei Rudolf Kassner heißt es, der Mensch ohne Rhythmus sei der Fanatiker. Vom Mensch ohne Geist gilt der Zusammenhang erst recht. Es gibt auch einen Fanatismus der Mittelmäßigkeit. Der Mittelmäßige, so Kassner, habe keinen „Bezug auf sich selber als auch auf den Gegenstand, oder er kann diesen Bezug nur durch Übertreibung finden.“ Wir alle sind vor Bequemlichkeit und Mittelmäßigkeit nicht gefeit. Wo wir uns aber an diese gewöhnen und uns nicht heraustreiben lassen aus uns und aus dem Bestehenden, da wächst sich Geistlosigkeit zum Ungeist aus. Auch deshalb: Keine Angst vor dem Geist, keine Scheu vor dem Morgen, keine Panik vor der Freiheit.

Woraus wir gemacht sind

Es war sehr heiß, und sie waren zu siebt. Das Leben war nicht über sie hinweg gegangen, es war in sie hineingekrochen und saß da nun und sprang hervor in glücklichen Stunden wie dieser. Die Sonne prallte ab von den beiden Sonnenschirmen über ihnen, Reben rankten empor, Schatten spross, ganz in der Nähe schoss Wasser in einem Brunnen hinab. Sie waren drei Paare und die Königin des Tischs.

Foto: H. P. Rabit

Gekommen waren sie zum Frühstück. Nicht zum ersten Mal, und wie immer waren sie erstaunt über die Größe der Portionen, die sie sich an den Tisch gebracht hatten, nachdem sie aufgerufen worden waren. Nein, nicht alle sieben waren es gewesen, nur einer hatte den Botengang übernommen in die Schankstube und retour, siebenfach. Strahlend jeweils war er zurückgekehrt mit Butter, Brot, Schinken, Käse, Marmelade, hartgekochten Eiern, Obstsalat, Lachs und diesem ganz besonderen Senf, der fast schon ein Honig war. Der Bote saß an der Spitze des Tischs und war ein stiller Genießer. Rot leuchtete sein Hemd, weiß schimmerten die Haare. Früher erzählte er gerne Witze. Die Tolle im Haar sah nach Brillantine aus, doch wer weiß das schon.

Schräg neben dem roten Boten saß des Boten Frau. Sie färbte sich die Haare, lange schon, in einem Rosskastanienbraun, sie bekannte es offen. Anders könne sie nicht von sich denken, Gott bewahre, man müsse Fasson halten. Die lustigen Sieben wussten es. Auch die Frau, die das Wort führte, um es nicht teilen zu müssen, hatte das Bekenntnis schon oft gehört. Nein, das käme ihr nie in den Sinn. Das Leben sei kein Wunschkonzert, Älterwerden nichts für Feiglinge. Worauf die Frau direkt gegenüber, die Frau in der Vogelbluse, erwiderte: Das sei kein Wunder, sie habe auch einen sehr schönen Farbverlauf, da wechsele es zwischen hellerem und dunklerem Grau, ein paar blonden Strähnen, einem grundierenden Weiß. Schön sei das, abwechslungsreich. Die Wortführerin lehnte sich beglückt zurück. Und schwieg für Augenblicke. Die Vogelfrau lächelte triumphal.

Hinein ins stumme Ausatmen nahm ein Mann das verwaiste Wort, der zweite von links. Er hatte zum T-Shirt gegriffen am Morgen dieses heißen Tages. Groß stand darauf der Name eines Ortes, der nichts zur Sache tut, weil die Sache allen bekannt war. Wie sie denn nun mit der Einladung verfahren sollten, die an sie alle ergangen sei? Man wisse ja um die notorische Unzuverlässigkeit der Einladenden. Da sei mal von fünf die Rede, und dann ginge es nicht vor sechs los oder sei um sieben schon vorbei. Er sprach laut. Andererseits wäre eine Absage ein Affront. Ob er nicht anrufen und sagen solle, sie kämen alle gern, aber es ginge eben nur um vier? Schön sei es dann ja meistens doch geworden bei diesen Hallodris. Da lachten alle bis auf den dritten Mann. Sprachen wir schon von ihm?

Sprechen wir zuvor von der Königin des Tischs. An dessen anderem Ende saß sie, weit entfernt vom Botenmann. Sie war allein erschienen, wie sonst, trug ein blütenweißes Kleid und flüsterte, als lachte sie, lachte, als flüsterte sie. Sie griff sich an die Schläfe und wurde wieder 16 – ohja, das ist sie einmal gewesen –, und alle freuten sich, wenn sie mit wenigen Worten schöne Schicksale heraufbeschwor. Damit, versicherte ihr die Vogelfrau, hast du ja nie Probleme gehabt, mit deinem leuchtenden Apfelrot. Alle lachten auf, hielten ihr Lachen aber so klein und knapp, dass sie das Lachen der Königin nicht übertünchten, es nicht hinaustrieben in den Wald, der sie alle barg. So wie die Königin ein Geheimnis.

Der dritte Mann hatte noch etwas zu sagen. Er setzte an, mehrfach, doch die Wortführerin ließ ihm die Rede nicht. Rot wurde er im Gesicht. So sei das jedes Mal. Sie lasse ihn nicht zu Wort kommen. Aber natürlich, schon immer. Röter stets färbten sich die Züge, der Schopf leuchtete wie Hermelin, auf der Stirn zogen sich Falten zusammen. Die Wortführerin zog das Tempo an, der dritte Mann erhitzte sich im Reden, die fünf anderen wichen ins Gehäuse der Teilnahmslosigkeit zurück, und schließlich räumte die Wortführerin doch das Feld.

Wasser schoss hinab, der Schatten schwand, und der dritte Mann fing zu erzählen an: „Früher gab es bei diesen Einladungen immer Truthahn. Mächtige Tiere. Fünf, sechs Kilo und mehr. Da wurden alle satt. Hat wunderbar geschmeckt. Ganz wunderbar. Das ist lange her. Ich weiß gar nicht, wo es heute noch Truthähne gibt. Nirgends mehr.“ Und er machte eine Pause, schaute in die Runde und setzte energisch, verbissen, trotzig die Pointe: „Es war immer schön.“

Fast gebellt hatte er diesen Satz, der ein abrupter Schluss war, kein Ende. Darauf war es ihm angekommen, unbedingt. Das musste er sagen, in fast testamentarischer Strenge, über jeden Einwand, alle Vertrautheit hinweg, ohne den Anflug eines Lächelns: „Es war immer schön.“ Vielleicht ist eine Pointe, die keine ist, das Fazit eines Lebens, das sich einmal auch in glücklichen Stunden zusammenballte wie dieser.

Das Kauderwelsch der FDP – und die neue deutsche Affirmationslinke

Zur WirtschaftsWoche vom 22. Februar 2019 durfte ich als Gastautor einen Essay beisteuern. Er trägt den Titel „Schluss mit den Phrasen!” und gibt auch dem Kauderwelsch der FDP einen Nasenstüber mit: „Parteichef Christian Lindner favorisiert einen Full-Flavour-Liberalismus, unter dem man sich alles vorstellen soll, weil man sich nichts darunter vorstellen kann. Frei nach Lichtenberg: Wenn zwei Sprachen zusammenstoßen und es klingt hohl, muss es nicht allemal an den Sprachen liegen.” Was bei der gegenwärtigen Linken kollidiert, steht auf einem anderen Blatt, man denkt dort zunehmend in geistigen Immobilien und verherrlicht die Macht und das Bestehende und wird so schleichend reaktionär. Davon handelt mein „Konter” (Link) vom 21. Februar 2019.

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