Monthly Archives: Dezember 2019

Mach meine #Umweltsau nicht an

Ob erlaubt sei, was gefällt, oder was sich ziemt – darüber lässt sich trefflich streiten. In Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ taten es stellvertretend der dichtende Held und die Prinzessin Leonore von Este. Tasso zeigte sich als heißblütiger Poet, dem die Freiheit des Dichtens und die Gunst des Publikums über alles gehen. Die adlige Freundin beharrte auf den Grenzen der Schicklichkeit. Dass diese Grenzen schwierig zu ziehen sind, wusste Goethe selbst am besten. Er war 30 Jahre jung, als er mit der Niederschrift begann und so seinen eigenen inneren Zwiespalt am Weimarer Fürstenhof transparent machte.

Foto: H. P. Rabit

Heute ist in der Öffentlichkeit das Meiste erlaubt, weil sich immer jemand findet, dem es gefällt. Einem Applaus, einem Einverständnis widersprechen, hat schnell den Ruch des Intoleranten. Und stößt sich hart mit dem weit verbreiteten Missverständnis, in jedem Nein verberge sich eine Diskriminierung. „Lass sie doch!“, bekommt die Spaßbremse zu hören, die auf dem Unterschied beharrt zwischen privatem und öffentlichem Verhalten oder zwischen Toleranz und Desinteresse.

ARD und ZDF sind öffentlich-rechtliche Anstalten. Sie wirken in der Öffentlichkeit aufgrund sehr stabiler rechtlicher Grundlage. Staatsverträge und Verfassungen schützen ihr Wirken. Öffentlich-rechtliche Anstalten sind ARD und ZDF jedoch auch deshalb, weil sie sich an das Recht halten müssen und weil sie Öffentlichkeit mitgestalten. Die Öffentlichkeit ist nicht nur das Medium, in dem sie agieren und das dem Hinterzimmer und der Privatbühne maximal entgegen gesetzt ist; Öffentlichkeit ist das Objekt, das sie verändern, indem sie daran teilhaben. ARD und ZDF bestimmen über unser Bild von Öffentlichkeit mit. Sie formen Öffentlichkeit.

Darum ist die Aufregung um das „Umweltsau“-Lied des WDR-Kinderchores gerechtfertigt, ja notwendig. Wer an diesem Lied keinen Anstoß nimmt, nimmt die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem Selbstverständnis und ihrem Auftrag nicht ernst. Wer mit einem Achselzucken über solche Entgleisungen hinweg geht, sieht in ARD und ZDF, was sie gerade nicht sind: freie Verbreiter privater Ansichten.

Wer von der Allgemeinheit bezahlt wird, um Öffentlichkeit mitzugestalten, muss sich an die Grenzen der Schicklichkeit halten. ARD und ZDF sind keine Künstler im Dienste eines Mäzens, die heute dieser und morgen jener Laune frönen, solange es dem Fürsten gefällt. Der Souverän von ARD und ZDF sind die Bürger, die ihren Beitrag entrichten, sind wir alle. ARD und ZDF haben Teil an unserer gemeinsamen Öffentlichkeit, weil die Allgemeinheit ihr dieses Mandat erteilt hat. ARD und ZDF übersetzen gewissermaßen die Volonté général in ein plurales Medienangebot. Zumindest der Theorie nach.

Mit dieser Theorie unvereinbar ist es, minderjährige Mädchen ordinäre Texte singen zu lassen und das filmische Dokument dieser Instrumentalisierung weiterzuverbreiten. Welchen kommunikativen Status man auch immer der Liedzeile des WDR-Kinderchores „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“ zusprechen möchte – es ist ein ordinärer Satz. ARD und ZDF verstoßen gegen ihre Geschäftsgrundlage, wenn sie Mädchen zwischen neun und 13 Jahren zu öffentlicher Vulgarität anstiften. Hinzu kommt: Der Auftrag, den die Allgemeinheit ARD und ZDF erteilt hat, fällt in dem Augenblick in sich zusammen, da ARD und ZDF die Allgemeinheit oder wesentliche Teile beschimpfen. ARD und ZDF verlieren das Recht auf Finanzierung durch die Allgemeinheit, wenn sie diese verhöhnen.

ARD und ZDF wird es aufgrund stabiler Verträge vermutlich noch sehr lange geben. Und vielleicht fügt sich manches wieder zum Guten. Es wäre uns allen zu wünschen. Zu wichtig sind unabhängige, kompetente Medien für eine liberale Republik. Vielleicht aber auch war die „Umweltsau“-Affäre rückblickend der Kipppunkt, an dem ARD und ZDF erst ihre Öffentlichkeit und dann ihr Recht auf diese abhanden kam. Allen hier ein gutes Jahr 2020.

Weihnachten kommt immer so plötzlich

Das ironische Sätzlein hört man oft: Weihnachten kommt immer so plötzlich. Gemeint ist damit die offensichtlich himmelschreiende Diskrepanz zwischen einem fixen, jährlich wiederkehrenden Termin und unseren Anstalten, sich auf ihn einzustimmen, vorzubereiten, geschenketechnisch vor allem. Mann rennt am 23. Dezember panisch in die nächst gelegene Parfümerieabteilung? Weihnachten kommt ja immer so plötzlich. Frau druckt am Morgen des 24. Dezember panisch ein Konzertticket aus? Oh, dieses plötzliche Weihnachten!

Dabei ist, recht besehen, Plötzlichkeit das Erkennungsmal von Weihnachten. Womit niemand rechnen konnte, das hat sich ein für allemal wirklich ereignet, in der Nacht zu Bethlehem, damit es nun Jahr um Jahr auf uns zukommt. Was niemand erwartete, obwohl es verkündet worden war, überraschte, überschauerte die Menschen. Bis heute. Ein Weihnachten, das nicht plötzlich käme, wäre kein Ereignis mehr. Eine Nacht ohne Plötzlichkeit kann nicht geweiht sein. Sie wäre das Gegenteil, wäre Routine, Vorhersehbarkeit, langer Weg ohne Ziel. Kreis ohne Pfeil, Dunkelheit ohne Blitz, Erde ohne Segen.

Gestärkt ins neue Jahr / Foto: A. Kissler

Im zurückliegenden Jahr konnte ein neues politisches Sachbuch von mir erscheinen. Es dürfte das 14. gewesen sein, die kleineren mit eingerechnet. Auch das wird nie Routine: „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“ – die elektronische Fassung lässt sich auch noch unmittelbar vor der Bescherung beziehen, ganz ohne Panik, und als Antidot zu mancher Weihnachtspredigt.

Einige Male durfte ich 2019 zu Gast sein in der „Phoenixrunde“ des Fernsehsenders „Phoenix“, zuletzt am 21. November zur Zukunft der CDU, einmal im ARD-„Presseclub“, dreimal im Podcast „Morning Briefing“ von Gabor Steingart, zuletzt am 2. Dezember, als ich Botho Strauß aus Anlass von dessen 75. Geburtstag würdigte. All das hat mich sehr gefreut. Dass ich noch beim „Cicero“ bin und gern bin, dürfte den Wenigsten entgangen sein. Das Dreier-Gespräch über den Jubilar Fontane war gewiss ein Höhepunkt. Welcher „Konter“ bei cicero.de besonders gelungen ist, liegt freilich im Auge der Betrachterin.

Dass wir in erhitzen Zeiten leben und damit nicht der Klimawandel gemeint ist, legt uns, die wir öffentlich denken, eine Verantwortung auf: Einzustehen für das, was zu sagen nottut, sich nicht beirren zu lassen, nicht mutlos und nicht traurig zu werden – und zugleich die Contenance zu wahren. Der wunderbare Max Hermann-Neiße schrieb am 8. März 1930 aus Berlin an seinen Freund Friedrich Grieger: „Ministerpredigt gegen Individualismus – zum Kotzen!“

Von den vielen Lektüren hat mir jene der Aldous-Huxley-Biografie von Uwe Rasch und Gerhard Wagner einen neuen Kosmos erschlossen, schön und herb zugleich. Auch an entlegener Stelle trug sie Früchte, man lese nur nach zum inneren Zusammenhang von Trägheit und Spektakel. Huxley, dessen dreibändige Essayausgabe bei Piper ich nur empfehlen kann, schrieb 1935: „Die Politik ist eines jener Tätigkeitsfelder, die der Mensch gewählt hat, um sich wie ein wild gewordener Affe aufzuführen.“ Und 1937 uns allen ins Stammbuch: „Genaues Denken ist die Bedingung richtigen Verhaltens. Es ist überdies in sich selbst ein moralischer Vorgang; denn wer genau denken will, muss beachtlichen Versuchungen widerstehen.“

Was das neue Jahr bringen wird? Ich weiß es nicht, zwei Buchprojekte aber werden mich beschäftigen. Einmal, wie üblich fast, als den Autor eines politischen Sach- und Debattenbuchs, das ins Herz unserer schlingernden Zeit zielt. Und als den Herausgeber und Moderator eines europäischen Gesprächs über die Bedrohungen der Freiheit, derer wir heute gewahr werden, und die Notwendigkeit eines neuen Bürgertums. Bei Twitter, bei Instagram – Follower stets willkommen –, auf der Homepage und im Newsletter werde ich mit Neuigkeiten nicht hinter dem Berg halten.

So wünsche ich allen formidable Weihnachten, ein glamouröses Silvester, einen glücklichen Start ins neue, noch ganz und gar ungeschriebene Jahr 2020 hinein. Ganz gewiss werden da Plötzlichkeiten sein – und dennoch: „Wer feste Überzeugungen besitzt, darf gerade deswegen aufs Denken nicht verzichten.“ (Huxley)

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