„Das Boot ist voll“
Joseph Roth nennt seinen schönsten Roman einen Bericht. „Die Flucht ohne Ende“ beginnt mit dem programmatischen Hinweis: „Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu ‚dichten’. Das Wichtigste ist das Beobachtete.“ Das war 1927, und Franz Tunda, den Helden, werde ich nie vergessen.
92 Jahre später betritt eine Frau den Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Sie hat ihre beste Zeit nicht hinter sich. Sie hat ihre beste Zeit. Ihr Kleid ist schwarz und ein Cocktailkleid. Ihre Schuhe sind flach und ebenfalls schwarz. Sie trägt eine silbern schimmernde Kette aus kleinen Quadern. Die Haare sind blond und nur an den Seiten gewellt. Es war ein Werktag zur Mittagszeit, die Oper hatte noch geschlossen, das Theater nicht geöffnet. Draußen schien die Sonne, drinnen trat die Frau an den Imbissstand. Eine Frau und zwei Männer versahen ihren Dienst zwischen Lachsbrötchen, Paella, Matjes und Seelachs. Die Tische waren besetzt.
Und die Frau hob an zu sprechen. Was sie sprach, begann schon im Gehen, und formte schon im Gehen eine stählerne Glocke um sie. Soviel sie auch sprechen sollte, keine Widerrede konnte sie erreichen. Sie sprach nach einem Gesetz, das nur sie kannte. Laut sprach sie hinein in den Tresen, zwischen Stulle und Aal: „Ausländer raus. Das Boot ist voll. Das ist jetzt mein Motto.“ Und nach einer kurzen Pause, in der sie funkelnden Blicks verdutzt lächelnde Augenpaare parierte: „Ich habe lang genug gezahlt.“ Und bestellte sich einen Fischteller.
Größer konnte die Spannung nicht sein zwischen Erscheinung und Dasein, Anblick und Rede. Da griff eine mit beiden Händen ins brackige Ressentiment, die bei anderer Beleuchtung an anderer Stätte das Lied von der Forelle gesungen, die Ode an die Freude deklamiert, die Menschenrechte gepriesen hätte. Deklassiert war sie nicht, nur wütend. Und ihre Wut wollte sich nicht legen, als der Fischhändler – stammte er aus Pakistan, Indien, Bangladesch? – ihr den Teller zuschob. Zwei Sorten Filet, eine Portion Reis, Cocktailsauce, Salatattrappe, Messer, Gabel, Serviette. Und sie setzte sich, fand den letzten freien Platz, steuerte ihn triumphal mit einem Dacapo an: „Ich habe lange genug gezahlt.“
Ihr Appetit litt nicht unter dem Vortrag. Sie war eine Dame von Welt, doch die Welt kam ihr gerade abhanden. Nervös pendelte die Schuhspitze des linken Beins im Nichts unter dem Tisch, Ballons anzielend, die da nicht waren und also nicht platzten. Ihr Mund hatte viel zu tun. Er nahm auf, was die Gabel ihm zwischen die Lippen stoß, und musste, kaum hatte die Zunge die Fetzen zum Gaumen geschoben, die immergleichen Laute in den Orbit unter den Gleisen senden, crescendo: „Das Boot ist voll. Das ist mein Motto jetzt.“ Ein „Ha!“ nicht des Lachens oder der Verwunderung, ein „Ha!“ der Entschlossenheit, mehr Satzzeichen als Botschaft, verdickte die Rede zum Manifest. Niemand außer ihr sprach ein Wort. Sie wurde gefährlich. „Ha!“
Und aus dem Stoßen ein Schaufeln, dem Hunger ein Tritt. Was hätte man erwidern sollen? Dass sie sich irre? Dass sie sich beherrschen solle? Dass Berlin Stadt der Toleranz sei? Das Cocktailkleid war ihr Kokon. Einer solchen Frau käme man besser nicht mit Zurechtweisungen, Argumenten gar. Ihr Repertoire war erkennbar eng, scharf und eng. Man kennt es von den Bühnen jenseits der Gleise. Die Person, die sich plötzlich an der Rampe echauffiert, ansatzlos anhebt zur wüsten Suada, ist in der Regel schnell verschwunden. Ist die komische Figur, die ein Gelächter unter sich begräbt. Die tragische Figur, die sich selbst aus dem Leben nimmt.
Lang dauerte es auch hier nicht. Den Teller ganz zu leeren, wäre ihr kleinbürgerlich erschienen. Sie ließ ihn stehen und verschwand, kauend noch und ein letztes Mal rufend: „Das ist jetzt mein Motto.“ Wohin sie aufbrach, weiß ich nicht. Zum zahmen Dienst nach der Mittagspause in Anwaltskanzlei, Steuerbüro, Architekten-AG? Zum einsamen Piccolo im Park? Zum echten Theater? Ein Duft nach Orange und Flieder blieb zurück, legte sich über Aal und Barsch und kündigte noch im Vergehen von der, die hier Rast gehalten hatte für eine Weile: der Bürgerin als Furie.