Kategorie: Tagebuch

Immer am Rand lang

Wer etwas zu sagen hat, der sagt es am Rande. Entscheidend ist selten, was auf Kongressen oder bei Tagungen, bei Ministertreffen oder Verhandlungsgesprächen Thema wird. Entscheidend ist fast immer, was an deren Rande geschieht. Der Rahmen bestimmt über das Bild, die Lobby schlägt das Podium, der Wandelgang das Forum. Zentrifugal ist unser Leben.

Eine Landesministerin verkündet den schlagenden Satz „am Rande der Klausur“ ihrer Fraktion. Der Beitrittsvertrag der Europäischen Union mit Kroatien wird „am Rande des EU-Gipfels“ unterzeichnet. Der britische Premierminister trifft sich mit der deutschen Kanzlerin „am Rande des Gipfels“. Der chinesische Außenminister bekennt sich zum Euro „am Rande eines Besuchs bei Guido Westerwelle“.

Ein Bundesminister gibt Entwarnung im Anti-Terror-Kampf „am Rande der Innenministerkonferenz“. Neue Unternehmensziele verkündet ein Automanager „am Rande der Tokio Motor Show“. Dass Theo Zwanziger nicht mehr DFB-Präsident sein will, erfahren wir „am Rande der DFB-Jahresabschlussfeier“. Auch „am Rande der dritten Kommunalarchivtagung“ werden Pflöcke eingeschlagen, und sollte dereinst ein Krieg ausbrechen, wird man ihn „am Rande der UN-Abrüstungskonferenz“ erklären.

Dahinter steckt mehr als Begriffsroutine und Schweigegebot. Die Dauergegenwart angeränderter Äußerungen addiert sich zu einer politischen Geographie ganz eigener Art. Gemeinhin will niemand am Rand stehen, will jeder dabei sein und also mittendrin. Ins Zentrum drängt es das Ich, zum Kern der Sache und des Ansehens will es vordringen und selbst Mitte werden.

Die eigene Mitte zu finden ist wiederum das anspruchsvolle Ziel sowohl gelingender Lebensführung als auch erfolgreicher Politik für die Masse, für die Mitte. Dort wähnen sich die großen Parteien allesamt, weil dort auch der Bürger selbst sich verortet. Am Rand geht es einflusslos zu und extrem, am Rand lauern Gefahr und schlechte Laune, der Rand ist das Gossenkind unserer Republik. Eigentlich.

Schwer tun sich auch jene, die an den Rand geschoben werden, ohne es zu wollen. Denen die Teilhabe erschwert wird, das Mittun in der Republik, weil sie nicht alle Zutrittsbedingungen erfüllen für die neue Mitte, zu alt sind, zu krank, zu schwach, zu fremdländisch, zu wenig autonom, zu wenig schön. Es ist kein erfüllendes Leben, dort draußen am Rand, weit weg von den Märkten und Alleen.

Die Rede aber von den Schicksalsnachrichten und den mal epochalen, mal regionalen Neuigkeiten, die vom Rande her auf uns kommen, zeigt: Es ist der Rand, der die Mitte macht. An den Grenzen verdichtet sich alles Zentrale, wird erst als solches erkennbar. Der Rand ist die zugespitzte, die nach außen geschleuderte Mitte. Am Ende aller Abwägung steht der Rand. So wohlfeil die Parole zuweilen auch nachgeplappert sein mag: Am Rande haben wir das Leben ganz. Der Mensch ist ein randständiges Wesen.

Der Weihetag

Deutschland war verschwunden. Zurückgelassen hatte es ein sehr großes, sehr weißes Stück Tuch. Darunter lag vielleicht das alte, bekannte Land mit seinen Wiesen und Häusern, seinen Gänsen und Menschen, seinen Sorgen und Nöten und Freuden, wer konnte es wissen. Man sah ja nur das große, weiße, sehr dicht gewebte Tuch den lieben langen Tag. Zöge man es weg, wäre vielleicht eine ganz andere Region zum Vorschein gekommen, ein Flecken, in dem der Honig fließt oder der Wermut und Worte die einzige feste Nahrung sind. Deutschland wäre endgültig Geschichte. Wer weiß das schon.

Der Nebel wollte sich also nicht teilen, die Sonne war ein Gerücht, als die Kälte in die Kleider kroch und eine wachsende Schar dem Glockenklang folgte. Man schrieb das Fest Elisabeths von Thüringen. Vierundzwanzig Lebensjahre hatten der ungarischen Königstochter genügt, um sich ewig ins Weltgedächtnis einzuschreiben. Etwas älter war der Mann, zu dessen Ehre sich die Schar versammelte. Aus ganz Bayern und darüber hinaus strömte sie ins winzige Bettbrunn, wo auf den Namen Salvator eine prächtige und prachtvoll heitere Barockkirche hört. „Gehet und berichtet, was ihr hört und seht“ steht unter dem Deckengemälde in jünglingszarter Schnörkelschrift. Und so taten sie es, und so wollen wir es tun.

Der junge Mann trug zu Beginn, beim Einzug, die Stola quer, wie es Diakonensitte ist, hielt ein Gewand und eine Kerze in Händen. Knapp drei Stunden später hatte der Kardinal ihm die Stola vor der Brust gekreuzt und das Gewand übergezogen. Er war nun und für immer Priester. Das einzige laut vernehmbare Wort des jungen Mannes war jenes, mit dem die Zeremonie endete: „Libenter“ – „Gern“. So lautete die Antwort auf des Kardinals allerletzte Ermahnung in einer langen Reihe von Ermahnungen: Er solle doch nach seiner ersten Messe deren drei weitere lesen und auch „bitten für mich“, „etiam pro me ora.“

So endete im direkten Austausch von Ich und Du, im Gebet des einen für den anderen, der ihn doch gerade erhoben hatte in den neuen Stand, eine sehr öffentliche Feier. Es war eine liturgische Reise von den Amplituden der Freude zu den Höhen des unwiderruflich Ernsten und rasch retour und wieder zurück. Auch der Alltag, für den die Feier wetterfest machen sollte, lag unter einem Tuche verborgen.

Der Priester, hörten wir, bekleide das „secundi meriti munus“, das „Amt des zweiten Ranges“, ist also immer auf die Plätze verwiesen hinter dem einen allein, der Meister genannt werden darf. Und diese Nachrangigkeit in allem will teuer erstanden sein, mit Gerechtigkeit nämlich und Standhaftigkeit, Barmherzigkeit, Tapferkeit, „iustitiam, constantiam, misericordiam, fortitudinem“.

Auch von der „geistlichen Arznei“, die des jungen Mannes Lehre künftig sein solle, der „spiritualis medicina populo Dei“, für das Volk Gottes, sprach der Kardinal, und auch von himmlischer Weisheit, bewährten Sitten ging das ernste Wort, „caelestis sapientia, probi more“. Nichts Geringeres stand und steht schließlich auf dem Spiel als die Würde des jungen Mannes, gleichsam zum Gehilfen des Moses und der zwölf Apostel erwählt zu werden, „in adiutorium Moysi et duodecim Apostolos“. Ist es ein Wunder, dass der Beistand fast aller Heiliger in einer fünfzehnminütigen Litanei erfleht wurde, damit des jungen Mannes Knie etwas weniger zitterten, beim Gang in diese Ahnenreihe? „Orate pro nobis.“

Der Kardinal sprach auch in seiner nun fremd klingenden deutschen Muttersprache vom „ewigkeitsschweren Augenblick“, der sich ereigne im Moment der Weihe, in der Stille also, wenn zwei Hände ein Dach formen auf eines anderen Haupt. Und dann hinkt die Sprache hinterher, so gut es eben geht in allem vorläufigen Menschenwerk, formt die ehernen Worte, „accipe spiritum sanctum“, „empfange den Heiligen Geist“.

Gesungen wurde auch, vom Freudenöl, „oleo laetitia“, und einem Lebenspfand, „fons vivus“, von Trost und Gnade und Herrlichkeit. Von einem Weg ohne Makel und der Ehrfurcht vor den Geboten. Von Lippen voller Anmut. Von Milde und Recht. Von Vernunft und Güte. Von Liebe.

Er wird nun einen langen Weg gehen, der junge Mann, und sehr hoffen, nie allein zu sein in den Nebeltälern und nie auf den Sonnengipfeln. Das Tuch wird ein Land der Seele ihm offenbaren, in dem der Honig wie Wermut schmecken kann. Wer weiß das schon.

Indien

Sie haben den Ganges im Blick. Sie stehen da, zu zweit, getrennt durch eine halb geöffnete Tür, die vom Gastraum in die Küche führt. Fremd sind sie beide. Das Foto, das fast die ganze Wand neben der Tür ausfüllt, zeigt die schönste Inderin, wie sie lächelt, ohne die Lippen zu öffnen. Ein Punkt thront auf ihrer Stirn, die Augen sind glänzende Saphire, die Finger zehn schüchterne Tänzer. Grün und gelb und rot ist das Gewand der schönsten Inderin. Weiß und grau ist es hier.

Sie haben sich die Heimat in die Gaststube geholt. Wer sie betritt, sieht erst die ferne Prinzessin an der Wand, dann ihren Landsmann an der Theke, wie er zu Boden blickt. Ein Tuch nach Piratenart bedeckt seinen Kopf. Er grübelt, ohne zu lächeln. Zeit zu blicken und zu grübeln hat er viel, der Gastraum ist leer. Gestern war er es, vorgestern fast. Jeder Morgen ist eine verwegene Hoffnung. Niemand mag sich zu den Dreien gesellen, nicht zum Koch, nicht zum Wirt, nicht zur starren Tänzerin mit ihrem Hoheitsschimmer.

Nachmittags, wenn die Stube schließt, muss die Holde allein lächeln. Ihre beiden Freunde sitzen dann auf den Lehnen von Kinderbänken im Stadtpark. Mit gekrümmten Rücken und nun flackernden Blicken tauschen sie Worte aus, selten wie die Saphire im Bild, die ihre Rückkehr erwarten. Viel zu sagen haben sie einander nicht. Es ändert sich wenig im herbstlichen Deutschland, zwischen Küche und Park, Pizza und Ganges.

Darum nämlich sind sie gezogen in das Haus an der Hauptstraße mitsamt ihrer lächelnden Braut. Sie wollten Pizza backen, denn die Deutschen mögen das teigige Rund. Ist es nicht so? Viele Arten hält die bunte Speisekarte auf den vier Tischen bereit, mit Salami und mit Ananas, mit Käse und mit Thunfisch. Schnitzel gibt es auch und Ente. An Limonade herrscht kein Mangel.

Doch man muss ein Foto sein aus sehr fernen Tagen, um über den so grausam mangelnden Zuspruch das Lächeln nicht zu verlieren. Sind die Teig- und Fleischgerichte andernorts, bei der Konkurrenz in dreihundert Meter westlicher und zweihundert Meter nordwestlicher Entfernung besser? Ist der Boden zu dick, der Belag zu wuchtig?

Sie haben alles versucht: Aus einem Wirtshausschild wurden deren zwei, damit auch der rasende Fahrer die lockende Inschrift erspähe. Auf der Straße steht ein drittes, das nach Bedarf aufgestellt werden kann. Passanten sind oft in sich versunken. Auch Flugblätter haben sie verteilt, selbst Lohn und Brot schon angeboten: „Fahrer gesucht“ steht auf einem Zettel hinter der Glasscheibe. Hat der Koch, hat der Wirt ihn geschrieben?

Sie suchen noch immer – den Fahrer, die Kunden, das Lächeln, das sie an die Prinzessin verschenkten. Der trotzige Deutsche mag sich von Indern nicht italienisch bekochen lassen. Den Winter wollen sie abwarten. Ganz weiß soll es werden. Auf der Parkbank wollen sie Schnee liegen sehen. Im Frühjahr dann werden sie die Koffer packen, den Ganges noch fester im Blick und die Tänzerin auf der Schulter: ein seltsames Trio.

Wo man begraben wird

Manche Monate wurden erfunden, damit sie Wort werden und Bild. Der April ist so launisch, dass er Wendehälsen und Diven eine unversiegbare Rechtfertigung gibt. Im Mai greift der Maler zum Pinsel, um neu anzufangen, neu zu lieben, neu zu erschaffen. Der September gibt den Tagen ihre schönsten Farben, der Oktober taucht sie in Gold. Und dann und nun lädt der November zum Kehraus mancher Hoffnung, zur Stille, zum Blick nach innen.

November ist der Monat, da kein Haus man sich mehr baut und also unbehaust dem Schnee entgegen schlendert. November sind die Tage, da man einsam im Nebel wandert und sich seltsam dabei erfährt. November sind kreisendes Laub im Wirbel der Chaussee. November ist der Geruch von Erde, feuchter Morgenluft und Nebelnacht. November ist immer schon der, an den wir denken, ehe wir ihn erfahren. Im Futteral der Bilder steckt er fest vertaut.

Traurig macht der November weit weniger als der Juni oder Juli. Wenn alles eingestellt scheint auf Rückschau, Vergänglichkeit, Melancholie, fühlt der Melancholiker sich pudelwohl. Er braucht nicht irre zu gehen an einer Welt, die rasend nur um sich kreist. Der Periphere rückt in die Mitte einer zentrifugalen Entschleunigung, die allgemein ist.

Im November also fiel mir wieder ein: Heimat ist, wo du begraben wirst. So ähnlich sagte es der alte Mann, der mir ungefragt eröffnete, er habe vor nunmehr vierzig Jahren, als er hierher zog, nach einem ersten Rundgang durch den Ort sofort gewusst: Hier willst du begraben sein. Gewiss war damals auch und sehr viel Liebe im Spiel, niemand zieht ganz leicht von dannen. Das Bekenntnis aber bleibt von kristalliner Klarheit. Das Grab wird uns wahr sprechen.

Wie die meisten Novembergedanken ist auch dieser eher sachlich denn traurig. Der ehemals junge Mann wusste – in der Nachhut eines Krieges, der Tod und Mord und Heimatlosigkeit und viele Gräber „in fremder Erde“ über die Welt gebracht hatte –, dass ihm einst die Stunde schlagen würde und dass sie es bitte hier tun solle. Dann würde sich sein Leben runden, auf der allerletzten Kehre.

So streckt der ganze November sich aus. Er ist ein Pfeil, kein Kreis, ein Weckruf, kein Abgesang. Er bricht die morschen Zweige, damit der Boden wachsen kann. Er hebt die Blätter, um sie einmal wenigstens flattern zu lassen, in freier Verzückung sonnenwärts. Er ist Episode, die schwindet und wiederkehrt, gerade so Epoche macht und tröstet. Ich mag ihn.

I had a dream |

Gedränge gab’s um den Altar, die Reihen waren schütter besetzt. Wo war ich nur hinein geraten? Graubärte taten ihren Dienst am steinernen Tisch. Bebrillt waren sie fast alle. Nur einer nicht, rechts außen. Er blickte ohne Glasgestell grimmig auf den Tisch zur Mitte. Bunt schimmerten ihre Kleider, grau auch waren die Haare und ungebändigt. Düster ging den Männern der Sinn. Woran sie wohl dachten bei ihrem offenkundig eingeübten Tun?

 

Ich sah’s ihnen an an der düster umwölkten Stirn, ich hörte es heraus aus ihrem brummenden Gemurmel: Die Freude wohnte hier nicht. Die Männer taten, was sie tun mussten, ihre Pflicht. Dem Volk in den Bänken missfiel es nicht. Sie schienen’s allesamt gewohnt. Und also hub an der in der Mitte, intonierte in gleichförmiger Melodie, was jeder erwartet haben musste, sagte knarzend und wie vom Grame zerfurcht: „Wir leiden…“. Und sofort wiederholte die wackere Schar, „wir leiden.“ Und der Mittlere fiel ihnen fast ins Wort, und die Brüder wiederholten erneut, „…an der Kirche.“ – „…an der Kirche.“

 

Aus dem Credo war hier ein neues Bekenntnis geworden, eine Lamentatio. Ihr kam nun zu, wozu die alte Formel offenbar nicht mehr taugte, Gemeinschaft zu stiften, Trost zu spenden, Zeiten und Räume zu überwinden. Das Leiden, nicht das Glauben hielt die Männer im Talar zusammen.

 

Sie hatten sich darin eingerichtet, durchwanderten die Räume des Missvergnügens gerade so vertraut wie die Altvorderen die Weiten ihrer Zuversicht. Sie litten so weltumspannend, wie sie einst geglaubt hatten. „Wir leiden“, erscholl erneut der psalmodische Sang, „an dem Papst“, bildete ein Echo aus, „…an dem Papst“, und pflanzte sich fort: „…und an den Dogmen und an dem Zentralismus und an der römischen Unbarmherzigkeit.“

 

Fast peinlich berührte es mich, Zeuge sein zu dürfen bei so intimem Werk. Sie wollte nicht gestört, nicht beobachtet werden, die graue Bruderschaft, kein fremder Atem sollte die Andacht unterbrechen. Es war ja ein frommes Tun, das so schnell nicht endete: „…und an aller Hierarchie, an allem, was die Menschenrechte hemmt, die Demokratie relativiert, die Gleichberechtigung erschwert. Wir leiden auch“ – hier holten alle fast im selben Zuge Atem – „an den Bischöfen, die nicht hören wollen auf das Volk, an dem Volk, das nicht hören will auf den Nazarener, und an jeder Struktur, die die Schwachen schwächt und die Starken ermächtigt. Wir leiden ferner…“ – fast sprachen sie nun mit der einen grabestiefen Stimme, der Vorbeter reihte sich ein – „…leiden ferner an einer Sexualmoral, die das Geschenk des Leibes verdunkelt statt es zu feiern, an einer Pastoralmoral, die die Dörfer entvölkert statt soziale Nahräume zu schaffen, an einem Klerikalismus, der das geschwisterliche Miteinander aller Menschen und Menschinnen verhindert, und an einer Drohbotschaft, die die Kirche unbewohnbar gemacht hat und die zu überwinden uns aufgegeben ist mit aller Wut und aller Zärtlichkeit. Wir leiden, wir leiden, wir leiden…“

 

So mag die große Lamentatio noch viele Strophen sich ergossen haben in das nahezu leere Kirchenrund, ich weiß es nicht. Ich erwachte bald. Es war ein Traum, was sonst. Ich hatte die Zukunft gesehen.

Zollitsch, Wulff, das Mittelmaß

Vor einer Woche stand an dieser Stelle eine szenische Imagination aus Anlass der PR-Offensive des Robert Zollitsch. Der Freiburger Erzbischof ist mittlerweile ein gutes Stück vorangekommen. Dem Interview in der „Zeit“ vom 1. September folgten fast ebenso umfängliche Auftritte in der „Augsburger Allgemeinen“, der „Welt“, der „Westfalenpost“.

 

Der Besuch Benedikts XVI. in Deutschland wird thematisch arrondiert. Tenor: Man muss, darf, soll über alles reden, auch über heiße Eisen wie Interkommunion und wiederverheiratet Geschiedene, muss, darf, soll alles „theologisch durchdringen und pastoral durchdenken“, und dann schauen wir mal, was herauskommt. Der Soundtrack zu derlei barrierefreier Gutwilligkeit lautete einst, „ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt…“.
Auf scharfe Kritik wie lautes Lob stieß besagte szenische Miniatur über des Bischofs verbale Munterkeit. Man vermisste mehr als einmal Fairness und Respekt gegenüber Zollitsch und Wulff. Der Kolumnist sei ein Spötter, nichts sonst. Man könne nur hoffen, dass es ein einmaliger Ausrutscher war. Eine Entschuldigung sei angebracht.
Die bemerkenswerteste Passage im „Zeit“-Gespräch war die bisher unentdeckte Tatsache, Christian Wulff sei „ein Katholik, der seinen Glauben lebt“. Bekanntlich hat Wulff im Juni 2006 die Meldung, sich von seiner Frau nach 18 Ehejahren getrennt zu haben, verknüpft mit der Präsentation einer neuen Freundin, der geschiedenen Bettina Körner, mittlerweile Wulff, First Lady.

 

Margot Käßmann, damals Landesbischöfin in Hannover, kommentierte scharf: Sie könne „in keiner Weise nachvollziehen, dass (…) ganz plötzlich eine neue Partnerin öffentlich präsentiert wird, als sei nichts gewesen.“ Wulff habe „einfach die eine Frau durch die andere ersetzt, bevor wirklich eine Trennung (…) stattgefunden hat. Da gibt es für mich Schamgrenzen und Anstandsfristen, da geht es um die Verletzung von Gefühlen und auch um die Würde aller Beteiligten.“
Wollen wir hoffen, dass der einmal schamfreie Christian Wulff derart geläutert ist, dass er das Lob Zollitschs in zweiter Ehe verdient und zum katholischen Role model nun taugt. Wollen wir ebenfalls hoffen, dass sich bei der Begrüßungsrede am 22. September für Benedikt XVI. nicht urplötzlich der alte Adam im Bundespräsidenten melden wird, der einst den Papst schurigelte.

 

Als Angela Merkel grund- und stillos im Februar 2009 eine weitere Distanzierung Benedikts vom Holocaust forderte, sprang Parteifreund Wulff ihr bei und sorgte für eine Ökumene des Dünkels. Eine „Klarstellung“ vom Papst einzufordern, sei legitim – wohlgemerkt hatte es eine solche damals längst gegeben –, auch die Kirche müsse sich „von Radikalen klar abgrenzen.“
Warum also, wenn nicht aus arkanen Gründen, hat Zollitsch sich Christian Wulff zur besonderen Belobigung ausgesucht? Weil er der prominenteste Patchworker Deutschlands ist und die Fetzenehe als Ausweis von Modernität gilt? Ein Leser schreibt dazu: Zollitsch bewege sich ganz im Strom der Zeit, wenn er Barmherzigkeit für Wulff fordere und Wunscherfüllung meine, „denn das passiert in einer auf Wünsche abgestellten Gesellschaft ständig. Nur ist es selbstverständlich keine Barmherzigkeit, einem Kind so unendlich großen Mengen an Schokolade zu geben, wie es sich wünscht, sondern Lieblosigkeit. (…) Die Folge der derzeit allerorten verbreiteten Zollitsch‘schen Haltung, dass man jeden Wunsch erfüllen müsse, ist nämlich, dass dann die Wünsche gezielt manipuliert werden müssen.“

 

So werde der Mensch auf lange Sicht vollständig unfrei. Das Böse siege letztlich. Und dass er „mit Christian Wulff paktiert, zeigt eben, dass Zollitsch wie alle Mediokren den mediokren deutschen Politiker dem fabelhaft intelligenten Papst in Rom vorzieht.“ Müsste er diesem, nebenbei bemerkt, nicht eher Gehorsam entgegen bringen statt dialektischem Kalkül?
Zumindest das also wird sich aus den Interviews des Versammlungsleiters der Deutschen Bischofskonferenz lernen lassen: Im noch so freundlichen öffentlichen Reden über Glaube, Kultus, Solidargemeinschaft triumphieren die Parameter ganz weltlicher Weltanschauung. Gehorsam und Demut sind nicht vermittelbar, nicht vorgesehen, Wunscherfüllung und Subjektivismus verstehen sich von selbst. Hat das nur strukturelle Gründe? Ist die Zeit nun einmal so, oder sind wir es, die die Zeit so furchtsam verbiegen?

 

Herr Zollitsch und das Zirkuspferd | 5. September 2011

In Freiburg wird der Trank zum ewigen Leben gebraut. Der glückliche Herr Zollitsch genießt ihn täglich, in kleinen Schlückchen. Er setzt das Gläslein an, freut sich, wenn der wunderbare Trank sacht die Kehle hinunter rinnt, und hebt es aufs Neue. Solchermaßen gestärkt, verlässt der liebe Herr Zollitsch munter und freundlich sein Arbeitszimmer im Breisgau, hinaus in die große weite Welt, wo man ihn so gerne befragt nach diesem und jenem. Dann gibt er Antwort und verliert seine Munterkeit nicht.
Wer ihm zuhört, der fühlt sich ganz aufgehoben im besänftigenden Fluss der Silben. Da ist keine Stromschnelle in Sicht, kein Wasserfall voraus. Unwetter gibt es nicht in diesem, in seinem singenden Ton. Etwas wandert die Stimme nach oben, um sogleich sich zurückfallen zu lassen auf die sehr stabile Mittellage, die kein Klang länger verlassen darf, feind dem Punkt, wider das Komma. Es ist ein Eiapopeia des Einvernehmens mit jenem und diesem und gewiss auch mit sich. Könnten Kinder, bettete man sie in diese Silbenwiege, je das Schlummern verlernen?
Der sanfte Herr Zollitsch plaudert gerne, und er weiß, ihm ist dabei kein Maß gesetzt. Vor den Zumutungen der Zeit bewahrt ihn der wunderbare Trank. Schon 73 Lenze währt das Leben des rüstigen Herrn Zollitsch. Es steckt also, solange das Elixier in Freiburg gebraut wird, noch ganz in den Kinderschuhen. Ohne den Trank im Leibe könnte der frohe Herr Zollitsch nicht einmal denken, was er nun so herzig in der „Zeit“ aussprach. Er werde „zu meinen Lebzeiten“ noch erleben, „dass wir in der Frage der wiederverheirateten Geschiedenen weiterkommen werden.“
Ob Methusalems 969 Lebensjahre das Maß sind für die Tagträume des milden Herrn Zollitsch? Eine gehörige Spanne Zeit muss es sein, da doch in dieser „Frage“ ein „Weiterkommen“ an keinem Kirchenhorizont sich abzeichnet. Der gütige Herr Zollitsch redet gerne von den „Reformen“ in den Lehrgebäuden seines Dienstherrn, der Kirche, als sei diese bereits vollständig umschritten, wenn er seine Füße um das Freiburger Münster gelenkt hat.

 

Mit der Langsamkeit der bürgerlichen Veränderungen im römischen Haupthaus mag er sich nicht anfreunden – obwohl er doch der Zeiten ganzer Herr sein muss. Ja, wenn es nach ihm ginge, würden die „wiederverheirateten Geschiedenen“ eilig durchgewunken, wenn sie –wie es in Freiburg offenbar der Fall ist – in Legionenstärke Sonntag um Sonntag mit den Füßen scharren im Kirchenschiff und nach der Eucharistie verlangen.

 

Dass er die römische Leitung, die zu vertreten er bestellt ist, mit solchen Improvisationen schwer düpiert, drückt ihn nicht. Dass er Stimmungen die Stimme leiht ohne Argument, ohne Theologie, auch nicht. Er wollte es einmal aussprechen, einfach so, der Tag war schön, die Luft sehr lind.
Oder sang sich da am Ende eine Weise aus, die andere ihm auf- und vorgesetzt hatten? Las er recht und schlecht vom Blatte ab, das ihm von interessierter Seite routiniert gereicht wurde? Bauchredner verfahren ähnlich mit ihren Puppen. Wir wissen es nicht, wir hören nur den singenden, wehenden, fliehenden Klang und staunen: Ist der litaneiende Herr Zollitsch wirklich im Brotberuf Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz?
Er sang sich zumindest hinein in die Herzen der Journalisten mit diesem „Zeit“-Gespräch über sich, den guten Reformator, und die anderen, die römischen Herren, die schlimmen Bremser. Für einmal packte die „Frankfurter Rundschau“ ihren antikirchlichen Furor in Watte, pries sanft und süß den „liebenswürdigen Vorsitzenden“ und „beharrlichen Bohrer dicker Bretter.“ Die „Bild“-Zeitung erkor ihn gar zum „Gewinner des Tages“, nannte ihn „mutig und gütig.“ Applaus bekommt das Zirkuspferd, wenn es die richtigen Pirouetten dreht.
Am Abend dann schloss der lächelnde Herr Zollitsch die Vorhänge in der badischen Stube sacht wieder, rückte den Sessel näher an den Schallplattenspieler und genehmigte sich einen letzten Schluck aus der Flasche mit dem Zaubertrunk. Es war ihm behaglich zumute. Er war sehr mit sich im Reinen.

Kuh Yvonne und andere Kulte

Das hat im Portfolio der neuen säkularen Götter noch gefehlt: eine „Kult-Kuh“. Die Lücke schloss „Yvonne“. Der scheue Wiederkäuer hält seit Wochen die Boulevardpresse in Atem. Die „Kuh, die ein Reh sein will,“ büxte bereits im Mai aus, entkam dem Schlachter und ward seitdem nicht mehr gefunden. Wie sie wohl enden wird? Wir werden es todsicher erfahren.
An „Stil-Ikonen“ herrscht schon lange kein Mangel. Jedes zweite Starlet und jede dritte Nebenrollenfilmschauspielerin taugt zu diesem Attribut. Verena Pooth, geschiedene Bohlen, gilt neuerdings als „Werbe-Ikone“. Sprach ich schon vom „Kult-Kaiser“, dem nachgemachten Franz Beckenbauer in der Persiflage des Komikers Matze Knop? Und ganz ohne Frage verdient auch jeder Film das kultige Präfix, sobald er von mehr Leuten gesehen als produziert worden ist.

 

Gleiches gilt von Cocktails, die zur selben Zeit in derselben Stadt dutzendfach getrunken werden, und von Liedern, die in vielen Diskotheken parallel aus den Boxen dröhnen, und von Kleidern, die plötzlich jeder haben will: alles Kult. Selbst beim Kauf von Rasierklingen für Damen geht es gegenweltlich zu. Sie hören auf den Namen „Mystique“.
Den Klimax aber der Selbst- und Fremdverblödung durch religiöse Rhetorik erklomm souverän die linke Tageszeitung „tageszeitung“. Journalist Falk Lüke betextete den Wechsel an der Spitze eines US-amerikanischen Kommunikationskonzerns mit den berückend verrückten Worten: „Apple heißt Schönheit. Apple heißt Fortschritt. Apple heißt: Das, was selten nervt. Und Apple heißt: Kult.“ Zum Anbeter von Mobiltelefonen wird der Journalist, nachdem alle nicht-säkulare Anbetung journalistisch zum Teufel gejagt worden ist.
Ohne Kult ist kein Auskommen in spätmodern agnostischer Zeit. Ohne Ikonen und Mythen klingeln die Kassen zu leise. Wie kommt das? Zum einen ist die inflationäre Rede ein Verkaufstrick, ein Etikett an vermeintlich heißer Ware, ein Stempel für Massenkompatibilität. Kult soll sein, was alle kaufen, woran alle teilhaben dürfen.

 

Am liturgischen Kult hatte und hat das ganze Volk Gottes teil; er kulminierte und kulminiert in der punktuellen Verwandlung des Alltags, dessen auch dinglich fassbarer Entrückung in eine höhere Sphäre. Der „Kult“ um die „Ikonen“ soll auf vergleichbare Weise – durch Kauf, nicht Gebetshandlung – eine tendenziell unendlich große Gruppe um das jeweilige Ding- und Kaufsymbol versammeln, damit dieses jene momentweise transzendiere. So werden aus großen Erfahrungen kleine Mythen und schließlich billige Münzen.
Zum anderen hat in der überspringenden Sprache ein globales Menschheitswissen seine feste Stätte. Die Sprache bewahrt, wenn auch an meist untauglichen Objekten, die Einsicht, dass zur conditio humana das Ausstrecken nach dem, was droben ist, immer gehört. Und dass die Erfahrung des inkommensurabel Besonderen dem Menschen zustößt, ihn trifft, ihn anfällt aus Höhen, die nicht er geschaffen hat. Mit einem Wort: dass der Mensch in der Lage ist, ganz aus sich heraus zu treten, ohne für immer entrückt zu werden. Genau mit diesem falschen Versprechen treten die „Kult“-Produzenten auf den Markt.
In der kompensatorischen Rede sitzt also und wartet und lauert das uneingestandene Erlösungsbedürfnis – solange, bis ein neues Geschlecht die alten Fragen wieder zu stellen wird wissen.

Martin Mosebach feiert Geburtstag

Im Juli, der ein November war, taufte Berlin seine Besucher. Wasser peitschte die Menschlein, Wasser kroch die Beine empor, Wasser schlug ins Gesicht, machte die Gassen zu Kanälen und die Straßen zu Flüssen und ganz Berlin zum Binnenhafen. Es regnete, es rann, es tropfte zwei Tage ohne Unterlass. Zwischen Regensturm und Sturmregen lud Martin Mosebach in die herrschaftliche Villa des „Wissenschaftskollegs“ nach Grunewald. Sein sechzigster Geburtstag stand zu feiern an.

 

Mosebach hatte 2009/2010 ein akademisches Jahr als „Fellow“ ebendort verbracht, in der 1910 errichteten „Villa Linde“, wohin nun die Taxis und Privatwagen strömten, aus denen Regenschirme sich wanden und Regenschirmträger von menschlicher Gestalt. Hier hatte er in unseren leidenschaftslosen Zeiten an seinem Roman „Was davor geschah“ gearbeitet, hier hatte er den Hundekehlesee kennen und lieben gelernt. Das Gewässer nämlich mit dem bizarren Namen, der „Kunstsee“, wie Mosebach ihn nun nannte, konnte mit „authentischem Meeresrauschen“ prunken, erzeugt von der nahegelegenen sechsspurigen Stadtautobahn.

 

Martin Mosebachs Begrüßungsrede vor rund 130 geladenen Gästen, Schriftstellern und Künstlern und Wissenschaftlern und Verlagsleuten und Journalisten und Priestern, gab ein Muster ab für die typisch nationalfrankfurterische Eigenschaft der Beiläufigkeit. Der gebürtige und leidenschaftliche Frankfurter Mosebach ist bekanntlich überzeugt, dass im Gewand jeder anderen Region Deutschland unvorteilhaft angezogen wäre. So stand denn nun, in tiefschwarzer Regennacht, Martin Mosebach vor keiner kleinen Aufgabe: Wie lobt man Berlin und die gastgebenden Berliner, ohne sich an der Heimatstadt zu versündigen?

 

Martin Mosebach wählte den denkbar elegantesten Weg. Er fragte, links vom Flügel im Vortragssaal zu ebener Ebene, „wofür steht Berlin?“ und gab sich und uns Massenmenschen die Antwort: „Niemandsland und Deutschland gehen hier zusammen und bilden ein neuartiges, noch nicht definiertes Drittes. (…) Wir zogen in die Stadt, und die Stadt zog zu uns.“ Berlin wäre demnach eine Hauptstadt ganz eigener Art. Sie bündelt ein Land, das sie selbst transzendiert, ist Zentrum und zugleich programmatisch Peripherie, mehr Zustand denn Ort, mehr Ausblick als Stätte. Gerade so, folgerte Mosebach, gelang es Berlin, „uns in Frankfurt zu entwurzeln.“ Wurzellosigkeit sei die vornehmste Frucht des Berliner Jahres.

 

Zu den Heimatländern der Seele müssen wir demnach Berlin rechnen, die schroffe Metropole. Der damals eröffnete und vollendete „Kreis aus Licht, Dunst und Wasser“ machte den Dichter aber nicht sentimental. Auch den Ehrengreisen unter den Gästen gab Mosebach keine Gelegenheit zur Rührung. Er dankte den Verlegern, die er ja „sammele“, erinnerte an sein „erfolgreichstes Buch“, die „Häresie der Formlosigkeit“, und wies voraus auf den „bis zum Rand gefüllten Speisesaal“ im Souterrain. Um dort es bequem auszuhalten, möge man sich bitte vorstellen, man sei gerettet, unten dann.

 

Sodann laudatierte ein Lektor mit leiser Stimme, während seine Finger sich an einem Tanz in den Lüften versuchten, auf und ab glitten, sich verknäulten, sich lösten und von neuem ineinander fuhren. Rudolf Borchardt, sagte der leise Lektor, habe den hypochondrisch begabten Hugo von Hofmannstahl an dessen 50. Geburtstag mit der Bemerkung getröstet: „Man wird nicht ohne Schmerzen historisch.“ Auf dem „Weg des Historischwerdens“ befinde sich längst Martin Mosebach.

 

Es folgte ein junger Pianist chinesischer Abstimmung, der am Flügel Satie (erste „Gymnopédie“), Johann Sebastian Bach („Komm der Heiden Heiland“ in Busonis Bearbeitung) und Messiaen sehr einnehmend darbot. Das letzte Stück, „Kuss des Jesuskindes“ aus den „20 Betrachtungen des Jesuskindes“, schichtet schrille, hohe, gleichförmig wiederholte Tonfolgen auf einen Grund aus zarten Harmonien, um dann in langsamen Kaskaden zu enden: scheue Frühlingsschritte auf feuchtem Gras. Draußen gaben Nacht und Regen derweil keinen Blick frei auf den Villengarten mit Rhododendron, Tanne, Apfelbaum.

 

Von den Gesprächen im Souterrain schweigt des Chronisten Höflichkeit, der Spielraum der Freiheit ist ohnehin klein bemessen. Nur soviel sei gesagt, dass tatsächlich, wie Mosebach schelmisch ankündigte, „Erfrischungen gereicht“ wurden. Um Mitternacht gratulierte die singende Schar. Und die Fluten stürzten draußen herab, tauften die dort Rauchenden aufs Neue. Die Natur spielt bekanntlich ihre Symphonie in voller Besetzung auch vor zerstreutem Publikum.

 

Der folgende Tag war der siebte Sonntag nach Pfingsten. In der alten Messordnung im klassischen Ritus, dem auch der Geehrte beiwohnte, heißt es im Graduale, accedite ad eum, et illuminamini – nahet euch ihm, ihr sollt strahlen vor Freude. Allein der Regen ließ sich nicht bekehren und begrub Berlin weiter unter sich.

 

So endete das hohe Fest rein äußerlich ganz so, wie es begonnen hatte. Und obwohl vermutlich das Leben eine Anhäufung aus Gemeinheiten und Enttäuschungen geblieben war, verließen die Gäste Berlin heiterer, als sie gekommen waren.

 

 

(Die kursiv gesetzten Zitate entstammen dem Roman „Westend“)

Sommer auf dem Dorfe

Ob es sein erster Einsatz war? Zögernd, als wolle er sich versichern, dass der Boden ihn wirklich trage, zog er seine schlingernden Kreise; es waren deren vier. Er trat durch die Lichtschranke ins Innere des Supermarktes, blieb stehen knapp hinter der Schwelle, in der Abteilung mit Gemüse und Obst, getroffen von einem unsichtbaren Zollstock. Kam er ins Straucheln, jetzt schon? Er stand und blickte, nach links zu den Tomaten, nach rechts zu Paprika und Gurke. Das rechte Bein federte lose im Takt, die Augen schossen wieder von rechts nach links, retour. Er begann den ersten Kreis trippelnd.

Nicht nur der blauen Plastikkrücken wegen, an denen der junge Mann mit dem sandfarbenen Gesicht und der dunklen Tigermähne durch den Gang tänzelte, hatte sein Gang etwas seltsam Absichtsloses. Er schien gekommen, nicht um zu kaufen, sondern um sich in einer denkbar exotischen Welt deren neuesten Kuriositäten zeigen zu lassen. Ach, das hier also nennt man Bohne, das hier Apfel? Und was fängt man damit an?

Das kurze Gespräch, in das er eine nicht eben ranke Stammkundin verwickelte, hatte vermutlich die Besonderheiten spitzer Früchte und den Nachteil runden Obstes zum Inhalt. Der junge Mann hörte zu, nickte freundlich und verständnislos, tanzte zurück, schloss den zweiten Kreis.

Nun erst sah ich: Das rechte Bein, das knapp über dem unsicheren Boden dahin flog, war so dick nur wie ein Besenstiel. Die Augen glänzten, der Mund schickte der Kundin in deren Rücken ein Lächeln nach, die Mähne umschwebte das Haupt wie eine schiefe Aureole, das Bein allein erzählte von Entbehrung, Niederlage, Hässlichkeit. Es hielt ihn nicht davon ab, zum dritten und zum vierten Mal die nämliche Runde zurückzulegen, somnambul nach einer Zwetschge zu greifen, sie fassungslos zurückzulegen, die gegenüberliegende Sellerie schon im Blick. Das rechte Bein war sein Ruderblatt. Was wollte er hier?

Als der vierte Kreis vollendet war, schlug der Zollstock wieder zu. Der junge Mann hielt inne, kurz vor der Lichtschranke. Für einen Moment verwandelte er sich zurück in jene Salzsäule, als die er seinen Habichtsdienst begonnen hatte. Schon war er wieder draußen, mit einem letzten, klar als Abschluss gekennzeichneten Ausfallschritt zur Seite hin.

Zwischen Eingangspforte und Einkaufswagen stand er im Lot. Die Augen sollten nun die neu hinzu tretende Kundschaft freundlich, ja schelmisch willkommen heißen. Dann und wann verließ die rechte Hand die Krücke, auf die sie sacht gestützt blieb, und formte einen Kessel, gerade groß genug für einen Spatz.

Auf dem Parkplatz kauerte derweil, in sich gebogen, vom grauen Pflasterstein fast verborgen, der Besitzer des jungen Mannes. Er schaute angestrengt auf ein rot eingefasstes Display und dann und wann in absichtsvoller Beiläufigkeit hin zu seinem Eigentum. Er führte Buch. Er berührte das Display mit einem dünnen Stift, blickte zur Eingangspforte, machte wieder einen Eintrag im Leistungskonto des Profibettlers mit dem abgemagerten Bein.

Wie lange die Beiden, wie lange Herr und Knecht ihrer abgezirkelten Arbeit wohl nachgingen? Wie hoch der Ertrag war, wer wem was schuldig und also unvermindert abhängig blieb? Sie waren verschwunden, als ich später zurückkam. Jedes Handwerk hat seine Abgründe.

Wer hat dich, Geist, so ruiniert?

Der „Dominica Pentecostes“ liegt im Fadenkreuz gar vieler Missverständnisse: Pfingsten, wie bitte? Ein schöner Auftakt in den Sommer ist das doch, ein verlängertes Wochenende, und sonst? Das Hochfest leidet massiv an seiner Unhandlichkeit. Vordergründig sperrt es sich gegen die Übersetzung. Wie malt man nur ein Brausen, wie wendet man „Zungen wie von Feuer“ ins Gegenwärtige, was soll ein „Heiliger Geist“ bedeuten?

Die Schwierigkeiten mit Pfingsten liegen aber auch und vermutlich vor allem daran, dass alles Geistige, das sich jenseits der Spirituosenabteilung in den Supermärkten vollzieht, ruiniert scheint. Es ist nicht wie weiland noch bei Goethe ein präzise zu fassender, ein ganz besonderer, ein eben teuflischer „Geist, der stets verneint“. Nein: Es ist der Geist an sich und überhaupt, der als das Anti-Prinzip schlechthin gilt.

Wer den Geist – sei es den menschlichen, sei es den schöpferischen – ehren will, gilt als Verneiner, als Spaßverderber. Von der Materie, heißt es dann, leben wir schließlich, Materie sind wir, sie ist für Luxus, Laune, Laster zuständig, für Sofortvergnügungen und Totalerlebnisse, für den Kick und den Kitzel, das Risiko und die Rendite.

Gerade darum wäre heute mehr Geist vonnöten – Geist als Moment der Besinnung und Verlangsamung, des Gedankens und Gedenkens, der Zurücknahme jenes fatalen Menschentyps, der machen und modeln will und darüber die Richtung seiner Projekte vergisst. Der ewige Betrieb, den unser Werkeln veranstaltet, ohne Werke zu hinterlassen, ist nicht nur ein geistloses, sondern oft auch ein geisttötendes Unterfangen. Wo alles Leben auf Ziffer und Zahl reduziert wird, verkümmert das Sein und flieht jener inspirierende Funke, der den Menschen erst die Krone der Schöpfung zurecht tragen lässt.

Diesen Zusammenhang hat schon vor rund 70 Jahren der Schriftsteller Rudolf Borchardt erkannt. Der reformierte Christ mit jüdischen Wurzeln bekannte sich emphatisch zur „zweiten Epiphanie nach der weihnachtlichen“, zum „revolutionären Wiederausbrechen der ins Irdische eingeflößten Sprengwirkung“, zum „heiligen Contagium“.

Und er benannte präzise den Preis für dessen Vernachlässigung: „Pfingsten, Vorform des Gottesreichs und der Gemeinschaft der Kinder Gottes, enthält die Kirche ganz und selber und sollte das höchste Fest überhaupt der Seelenhaften sein – wie es das vernachlässigste der Entseelten und Abgeplatteten allerdings geworden ist.“

So auch 2011: Wer die Seele retten will, muss zuerst den Geist rehabilitieren.

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