Kategorie: Tagebuch

Deutschland, Joe Kaeser und entführte Hirne

Kann man Hirne entführen? Daran und an Richard Dawkins musste ich denken, als ich las, was man so liest in diesen Tagen. Mullah-Versteher hatten ihren Auftritt und bekamen ihre Sendezeit, Mietendeckelverfechter, Buschbranddeuter, Strompreiserhöhungsfans und Enteignungsbefürworterinnen. Und dann war da noch das platonische Werben eines Münchner Dax-Vorstands um ein Jungmitglied der Grünen; sie, die Umworbene, Neubauer mit Nachnamen, als #Langstreckenluisa zu bitterem Netzwerkruhm gelangt, lehnte ab. Sie sei, stand zu lesen, damit ausgelastet, die Welt zu retten. „Irgendwelche Aufsichtsratsgeschichten“ stören da. Pech für Josef, genannt Joe, Kaeser, den Top-Arbeitnehmer der Siemens AG.

Foto: A. Kissler

Richard Dawkins kam mir in den Sinn, weil ich dessen Werke vom „Egoistischen Gen“ und vom „Gotteswahn“ konsultierte, als ich 2008 mein Buch über den „Aufgeklärten Gott“ schrieb. Dawkins sah ich unter den vielen Neoatheisten der damaligen Zeit am kritischsten. Das lag neben seiner zynischen Weise, in der er über Gläubige sprach, an Dawkinsʼ Kernthese: Der Glaube kapere die Hirne der Menschen – der Kinder vor allem. Dawkins wollte biologisch begründen, was er intellektuell nicht aus der Welt bekam. Dem Glauben verlieh er eine materielle Basis, erklärte ihn zum „Mem“ oder zum „geistigen Virus“. So beging er in meinen Augen einen schlimmen Kategorienfehler. Geist und Materie – Schiller sprach rund 200 Jahre früher vom Stoff- und vom Formtrieb – vermengte er. Als ließen sich Gedanken wiegen, Träume fotografieren, Hoffnungen messen. Das geht nicht.

Vielleicht muss ich Abbitte leisten. Zumindest ein wenig. Ich blättere in meinem „Aufgeklärten Gott“, durchstöbere den „Gotteswahn“ und finde die Formulierung von den entführten Hirnen nicht. Vielleicht schob ich mit dieser Prägung verschiedene Lektüren zusammen. Dennoch scheint es mir ein sinnvoller Ausdruck. Zumal ich bei Dawkins lese: „Anthropologische Übersichtsdarstellungen (…) machen deutlich, dass es unter den Menschen eine beeindruckende Vielfalt irrationaler Überzeugungen gibt. Einmal in einer Kultur verwurzelt, können sie sich halten, weiterentwickeln und immer vielgestaltiger werden – ein Vorgang, der stark an die biologische Evolution erinnert.“ Außerdem: „Unter anderem will ich damit sagen, dass es keine Rolle spielt, welche besondere Form von Unsinn das Kindergehirn befällt. Einmal angesteckt, wächst das Kind auf und infiziert die nächste Generation mit dem gleichen Unsinn, wie er auch aussehen mag.“

Wie gesagt, Dawkins meinte mit „irrationalen Überzeugungen“ und „Unsinn“ religiöse Gebote und theologische Dogmen. Sie stehen nach seiner Auffassung der Entwicklung des Menschen zur Mündigkeit entgegen, pflanzen sich aber dennoch fort. Das ärgert den Evolutionsbiologen, weshalb er sich die Weitergabe der Religion als biologischen Vorgang denkt. Das Gehirn, ließe sich mit Dawkins sagen, wird von Kindesbeinen an deformiert, sodass ihm später Unsinn als sinnvoll erscheint. Es kann ihn gar nicht mehr hinterfragen. Das Gehirn bleibt – in meinen Worten – entführt.

Stellen wir uns kurz vor, Richard Dawkins hätte Recht – gerade progressive, linke Köpfe nicken da schneller, als es dieser These und ihrem eigenen Hirn guttut. Aber stellen wir uns das wirklich einmal versuchshalber vor: Es gäbe ganz handfeste, stoffliche Komplexe von Ideen und Vorstellungen, die dem Gehirn eingeschrieben wurden. Und dass uns (oder vielen oder manchen) die materiellen Möglichkeiten fehlten, sie zu korrigieren. Dass wir (oder viele oder manche) in einem Wahn gefangen sind, der als Ausdruck von Vernunft erscheint, weil das Gehirn so programmiert wurde. Dawkins öffnet die Spur, wenn er ausdrücklich vom „Unsinn, wie er auch aussehen mag“, schreibt. Wie schaut er heute aus, der Unsinn?

Damit wären wir bei den Schlagzeilen gelandet, bei Mullah-Verstehern, Mietendeckelverfechtern, Buschbranddeutern, Strompreiserhöhungsfans, Enteignungsbefürworterinnen und einem Vorstandsvorsitzenden auf Haltungsbrautschau. So unterschiedlich die Schlagzeilen sein mögen, dahinter verbirgt sich eine quasireligiöse Weltanschauung von enormer Bindekraft. Die neuen Dogmen lauten: Der Westen hat sich blamiert, die USA sind böse, der Kapitalismus ist gescheitert. Der Staat muss Gerechtigkeit verordnen, Privateigentum ist Diebstahl, Klimanot kennt kein Gebot. Wie bei allen Dogmen gibt es Abstufungen in der Art, wie man sie praktisch ernst nimmt. Wer sie aber grundsätzlich bezweifelt, trifft auf das geballte Gegenfeuer entführter Gehirne – um im Sprachbild zu bleiben.

Die neuen Dogmen sind legitime Meinungsäußerungen. Mehr nicht. Die jeweilige Gegenmeinung ist und wäre auch legitim. Das pauschale Unverständnis, auf das ein Kontra oft stößt, lässt Dawkins für einen Augenblick plausibel erscheinen. Es scheint, als fehlte an zu vielen Stellen unserer Gesellschaft, unserer Politik, unserer Wirtschaft nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Fähigkeit, Gedanken mit Gedanken zu beantworten. Als mangelte es an der nötigen Voraussetzung, auf Kritik schöpferisch zu reagieren. Als herrschte eine Generation, die in behüteter Fraglosigkeit aufwuchs und sich darum alles Fragen verbittet. Als wäre Moral die Bringschuld der anderen, während man selbst sie unkündbar gepachtet habe.

Zu vieles versteht sich von selbst und wird darum missverstanden. Zu wenig wird hinterfragt, weil Fragen als Moralvergehen gilt. Zu viele wissen Bescheid, zu wenige haben Ahnung. Zu selten wird argumentiert, zu oft verdammt. Wir leben in keiner Gesellschaft der Echokammern. Wir leben in einer Welt, in der Echos unerwünscht sind. Unterscheidung der Geister, Befreiung des Geistes: das sollte Gebot der Stunde sein.

Besoldungskünstler von der Isar

Freising ist ein schöner Ort. In dem oberbayrischen Städtchen wirkte der große Bischof, Zisterziensermönch und Historiker Otto – Otto von Freising. Unweit des Domes steht ein Denkmal, das an Otto erinnert. Dessen Hauptwerk heißt „Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten“. Nach einem Denkmal des jetzigen Freisinger Erzbischofs wird man dereinst vergeblich suchen. Dabei hat auch Reinhard Marx Bücher geschrieben. Seine Dissertation von 1989 heißt „Ist Kirche anders? Möglichkeiten und Grenzen einer soziologischen Betrachtungsweise“, sein populäres Sachbuch von 2008 „Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen“. Einerseits: Ha, ha. Marx und der Kapitalismus. Ha, ha. Andererseits: Es ist zum Traurigwerden, Verrücktwerden, Fremdschämen.

Die Türme der Münchner Frauenkirche (hinten). Foto: H. P. Rabit

Der Freisinger Bischof der Jahre 1138 bis 1158 stellte in seiner „Chronik“ Weltgeschichte als Heilsgeschichte dar, als Kampf zwischen der civitas Dei und der civitas terrena, himmlischem und weltlichem Staat. Die Kategorien sind erkennbar von Augustinus inspiriert. Reinhard Marxens Doktorarbeit ist unlesbar. Um gerecht zu sein: Lesen kann man sie schon, aber es ist eines jener Bücher, aus denen man dümmer heraus- als hineinschaut. Was man gar nicht allein dem jetzigen Freisinger Erzbischof anlasten kann. Es ist eine soziologische Arbeit. Ihrem Genre hält sie durch angeschlaumeierte Verquastheit die Treue. Weder Theologie noch Geschichte sind die Interessensfelder des Reinhard Marx.

An all das und auch an meine erste historische Proseminar-Arbeit über Otto von Freising und den „Zerfall der Welt“ musste ich denken, als mir ein Satz unterkam, den ich leider nicht vergessen kann. Es sei also gewarnt. Der Satz lautet: „Ich weiß, wie groß die Probleme des vergangenen Jahrzehnts waren, und sie werden künftig nicht kleiner werden.“ Natürlich ist das ein harmloser Satz, ein kleiner Satz, ein Nebensatz. Doch er führt hinein in die Selbst- und Weltwahrnehmung des Erzbischofs, für die mir kein besseres Wort einfällt als ambitiös. Reinhard Marx hat ein ambitiöses Verhältnis zur Wirklichkeit.

Der Satz fiel in der Silvesterpredigt. Da stand also ein augenscheinlich pumperlgsunder, gut genährter Berufsprediger der Besoldungsklasse B10 – immerhin 13231 Euro brutto im Monat, überwiesen vom bayrischen Staat – und teilte seinen Schäfchen mit, dass er erstens in die Zukunft zu schauen vermöge und dass er zweitens da nichts Gutes erblicke. Die Gegenwart – die Gegenwart des Publikums – sei schon in den vergangenen zehn Jahren durch „Probleme“ gekennzeichnet gewesen, und daran werde sich nichts ändern. Bestenfalls. Vielleicht werde es sogar schlimmer. „Nicht kleiner“ würden die Probleme. Liebe Gemeinde, gewöhnt euch dran. So ist es halt.

Luther wusste die Welt voller Teufel, Marx sieht sie voller Probleme. Ein Problem ist ein Sinnhindernis, das im Weg steht. Es verknotet verschiedene Aussagen oder Ansprüche, mindestens deren zwei. Was sollen die Katholiken tun, um es aus dem Weg zu räumen? Reinhard Marx empfahl in seiner Silvesterpredigt: Habt mehr Phantasie! Habt „große Lust, Neues zu denken“. Das kann man zynisch nennen – denn was immer man mit kirchlich verordneter Phantasie auch anstellen mag, die Probleme bleiben ja. Marx hat ihnen gerade eine Bestandsgarantie gegeben. Andererseits ist es ein riskanter Rat, den der Prediger in persona falsifiziert. War vom jetzigen Freisinger Erzbischof je Neues zu hören, das sich einem Denkprozess verdankte, vielleicht gar einem theologischen? Soweit ich sehe: Nein. Wo Marx redet, da redet die Gesellschaft wie die Gesellschaft zur Gesellschaft. Da werden moralische In-sich-Geschäfte abgeschlossen zum höheren Ruhme des handelnden Akteurs. Da kommt die Welt in ihr loderndes Einverständnis.

Zum Beispiel hat Reinhard Marx gerade zum dritten Mal 50000 Euro „gespendet“ für die „Seenotrettung“ im Mittelmeer. Es waren 50000 Euro im Oktober 2018 für „Lifeline“ – jenen Verein, der gerade bei Twitter den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz als „Baby-Hitler“ verunglimpfte. Es waren 50000 Euro Anfang 2019 für „Sea-Eye“, und es sind nun 50000 Euro für das Bündnis „United 4 Rescue“, das der Organisation „Sea-Watch“ ein Schiff schenken will. Freilich: Marx hat nicht gespendet. Er hat Gelder, die seinem Bistum zuflossen, umgewidmet. Er hat die Mittel anderer Leute, der Kirchensteuerzahler vor allem, verwendet, um auf der Drehbühne des täglichen Moraltheaters ins Schweinwerferlicht der guten Gesinnung zu rücken. Das ist nicht mutig, das ist wohlfeil. Das ist so phantasielos, dass es kracht. Kein Serienschauspieler, der etwas auf sich hält, kommt heute ohne öffentlich hinaus posaunte Spendentätigkeit aus. Mit dem Unterschied, dass Serienschauspieler das Geld, das sie weiterreichen, zuvor selbst verdienen müssen.

Wer Neues denken will, der müsste dem Besoldungskünstler von der Isar sagen: Probier’s mal ohne Kirchensteuer! Lass dich mal nicht vom Staat bezahlen! Red‘ mal nicht von dir oder der Gesellschaft! Fühl‘ dich mal nicht als Prophet der eigenen Denkungsart! Sei weniger selbstgewiss, weniger dreist, weniger ambitiös. Denn Ambitionen, steht zu befürchten, stecken hinter den Haupt- und Nebensätzen, den Neben- und Staatsaktionen einer finanziell verfetteten Kirche, für die ein Freisinger Bischof eben doch nur ein Symbol ist. Die Ambitionen lauten auf Sichtbarkeit, Applaus und Selbstergriffenheit. Auf Augenhöhe mit den Großen und Abspeisen der Kleinen: Wer Probleme hat, der wird sie auch behalten. Eure Phantasielosigkeit ist nicht mein Problem.

Otto von Freising gründete Klöster. Reinhard Marx gründet Arbeitskreise. 

Mach meine #Umweltsau nicht an

Ob erlaubt sei, was gefällt, oder was sich ziemt – darüber lässt sich trefflich streiten. In Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ taten es stellvertretend der dichtende Held und die Prinzessin Leonore von Este. Tasso zeigte sich als heißblütiger Poet, dem die Freiheit des Dichtens und die Gunst des Publikums über alles gehen. Die adlige Freundin beharrte auf den Grenzen der Schicklichkeit. Dass diese Grenzen schwierig zu ziehen sind, wusste Goethe selbst am besten. Er war 30 Jahre jung, als er mit der Niederschrift begann und so seinen eigenen inneren Zwiespalt am Weimarer Fürstenhof transparent machte.

Foto: H. P. Rabit

Heute ist in der Öffentlichkeit das Meiste erlaubt, weil sich immer jemand findet, dem es gefällt. Einem Applaus, einem Einverständnis widersprechen, hat schnell den Ruch des Intoleranten. Und stößt sich hart mit dem weit verbreiteten Missverständnis, in jedem Nein verberge sich eine Diskriminierung. „Lass sie doch!“, bekommt die Spaßbremse zu hören, die auf dem Unterschied beharrt zwischen privatem und öffentlichem Verhalten oder zwischen Toleranz und Desinteresse.

ARD und ZDF sind öffentlich-rechtliche Anstalten. Sie wirken in der Öffentlichkeit aufgrund sehr stabiler rechtlicher Grundlage. Staatsverträge und Verfassungen schützen ihr Wirken. Öffentlich-rechtliche Anstalten sind ARD und ZDF jedoch auch deshalb, weil sie sich an das Recht halten müssen und weil sie Öffentlichkeit mitgestalten. Die Öffentlichkeit ist nicht nur das Medium, in dem sie agieren und das dem Hinterzimmer und der Privatbühne maximal entgegen gesetzt ist; Öffentlichkeit ist das Objekt, das sie verändern, indem sie daran teilhaben. ARD und ZDF bestimmen über unser Bild von Öffentlichkeit mit. Sie formen Öffentlichkeit.

Darum ist die Aufregung um das „Umweltsau“-Lied des WDR-Kinderchores gerechtfertigt, ja notwendig. Wer an diesem Lied keinen Anstoß nimmt, nimmt die Öffentlich-Rechtlichen in ihrem Selbstverständnis und ihrem Auftrag nicht ernst. Wer mit einem Achselzucken über solche Entgleisungen hinweg geht, sieht in ARD und ZDF, was sie gerade nicht sind: freie Verbreiter privater Ansichten.

Wer von der Allgemeinheit bezahlt wird, um Öffentlichkeit mitzugestalten, muss sich an die Grenzen der Schicklichkeit halten. ARD und ZDF sind keine Künstler im Dienste eines Mäzens, die heute dieser und morgen jener Laune frönen, solange es dem Fürsten gefällt. Der Souverän von ARD und ZDF sind die Bürger, die ihren Beitrag entrichten, sind wir alle. ARD und ZDF haben Teil an unserer gemeinsamen Öffentlichkeit, weil die Allgemeinheit ihr dieses Mandat erteilt hat. ARD und ZDF übersetzen gewissermaßen die Volonté général in ein plurales Medienangebot. Zumindest der Theorie nach.

Mit dieser Theorie unvereinbar ist es, minderjährige Mädchen ordinäre Texte singen zu lassen und das filmische Dokument dieser Instrumentalisierung weiterzuverbreiten. Welchen kommunikativen Status man auch immer der Liedzeile des WDR-Kinderchores „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“ zusprechen möchte – es ist ein ordinärer Satz. ARD und ZDF verstoßen gegen ihre Geschäftsgrundlage, wenn sie Mädchen zwischen neun und 13 Jahren zu öffentlicher Vulgarität anstiften. Hinzu kommt: Der Auftrag, den die Allgemeinheit ARD und ZDF erteilt hat, fällt in dem Augenblick in sich zusammen, da ARD und ZDF die Allgemeinheit oder wesentliche Teile beschimpfen. ARD und ZDF verlieren das Recht auf Finanzierung durch die Allgemeinheit, wenn sie diese verhöhnen.

ARD und ZDF wird es aufgrund stabiler Verträge vermutlich noch sehr lange geben. Und vielleicht fügt sich manches wieder zum Guten. Es wäre uns allen zu wünschen. Zu wichtig sind unabhängige, kompetente Medien für eine liberale Republik. Vielleicht aber auch war die „Umweltsau“-Affäre rückblickend der Kipppunkt, an dem ARD und ZDF erst ihre Öffentlichkeit und dann ihr Recht auf diese abhanden kam. Allen hier ein gutes Jahr 2020.

Weihnachten kommt immer so plötzlich

Das ironische Sätzlein hört man oft: Weihnachten kommt immer so plötzlich. Gemeint ist damit die offensichtlich himmelschreiende Diskrepanz zwischen einem fixen, jährlich wiederkehrenden Termin und unseren Anstalten, sich auf ihn einzustimmen, vorzubereiten, geschenketechnisch vor allem. Mann rennt am 23. Dezember panisch in die nächst gelegene Parfümerieabteilung? Weihnachten kommt ja immer so plötzlich. Frau druckt am Morgen des 24. Dezember panisch ein Konzertticket aus? Oh, dieses plötzliche Weihnachten!

Dabei ist, recht besehen, Plötzlichkeit das Erkennungsmal von Weihnachten. Womit niemand rechnen konnte, das hat sich ein für allemal wirklich ereignet, in der Nacht zu Bethlehem, damit es nun Jahr um Jahr auf uns zukommt. Was niemand erwartete, obwohl es verkündet worden war, überraschte, überschauerte die Menschen. Bis heute. Ein Weihnachten, das nicht plötzlich käme, wäre kein Ereignis mehr. Eine Nacht ohne Plötzlichkeit kann nicht geweiht sein. Sie wäre das Gegenteil, wäre Routine, Vorhersehbarkeit, langer Weg ohne Ziel. Kreis ohne Pfeil, Dunkelheit ohne Blitz, Erde ohne Segen.

Gestärkt ins neue Jahr / Foto: A. Kissler

Im zurückliegenden Jahr konnte ein neues politisches Sachbuch von mir erscheinen. Es dürfte das 14. gewesen sein, die kleineren mit eingerechnet. Auch das wird nie Routine: „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“ – die elektronische Fassung lässt sich auch noch unmittelbar vor der Bescherung beziehen, ganz ohne Panik, und als Antidot zu mancher Weihnachtspredigt.

Einige Male durfte ich 2019 zu Gast sein in der „Phoenixrunde“ des Fernsehsenders „Phoenix“, zuletzt am 21. November zur Zukunft der CDU, einmal im ARD-„Presseclub“, dreimal im Podcast „Morning Briefing“ von Gabor Steingart, zuletzt am 2. Dezember, als ich Botho Strauß aus Anlass von dessen 75. Geburtstag würdigte. All das hat mich sehr gefreut. Dass ich noch beim „Cicero“ bin und gern bin, dürfte den Wenigsten entgangen sein. Das Dreier-Gespräch über den Jubilar Fontane war gewiss ein Höhepunkt. Welcher „Konter“ bei cicero.de besonders gelungen ist, liegt freilich im Auge der Betrachterin.

Dass wir in erhitzen Zeiten leben und damit nicht der Klimawandel gemeint ist, legt uns, die wir öffentlich denken, eine Verantwortung auf: Einzustehen für das, was zu sagen nottut, sich nicht beirren zu lassen, nicht mutlos und nicht traurig zu werden – und zugleich die Contenance zu wahren. Der wunderbare Max Hermann-Neiße schrieb am 8. März 1930 aus Berlin an seinen Freund Friedrich Grieger: „Ministerpredigt gegen Individualismus – zum Kotzen!“

Von den vielen Lektüren hat mir jene der Aldous-Huxley-Biografie von Uwe Rasch und Gerhard Wagner einen neuen Kosmos erschlossen, schön und herb zugleich. Auch an entlegener Stelle trug sie Früchte, man lese nur nach zum inneren Zusammenhang von Trägheit und Spektakel. Huxley, dessen dreibändige Essayausgabe bei Piper ich nur empfehlen kann, schrieb 1935: „Die Politik ist eines jener Tätigkeitsfelder, die der Mensch gewählt hat, um sich wie ein wild gewordener Affe aufzuführen.“ Und 1937 uns allen ins Stammbuch: „Genaues Denken ist die Bedingung richtigen Verhaltens. Es ist überdies in sich selbst ein moralischer Vorgang; denn wer genau denken will, muss beachtlichen Versuchungen widerstehen.“

Was das neue Jahr bringen wird? Ich weiß es nicht, zwei Buchprojekte aber werden mich beschäftigen. Einmal, wie üblich fast, als den Autor eines politischen Sach- und Debattenbuchs, das ins Herz unserer schlingernden Zeit zielt. Und als den Herausgeber und Moderator eines europäischen Gesprächs über die Bedrohungen der Freiheit, derer wir heute gewahr werden, und die Notwendigkeit eines neuen Bürgertums. Bei Twitter, bei Instagram – Follower stets willkommen –, auf der Homepage und im Newsletter werde ich mit Neuigkeiten nicht hinter dem Berg halten.

So wünsche ich allen formidable Weihnachten, ein glamouröses Silvester, einen glücklichen Start ins neue, noch ganz und gar ungeschriebene Jahr 2020 hinein. Ganz gewiss werden da Plötzlichkeiten sein – und dennoch: „Wer feste Überzeugungen besitzt, darf gerade deswegen aufs Denken nicht verzichten.“ (Huxley)

Dieses verdammte Berlin

Er sei da gar nicht involviert. Aber auch kein Einzelfall. Und noch nie im Krankenhaus gewesen. Außer vielleicht bei seiner Geburt. Da sei er sich nicht sicher. Nun aber das: 60 Stunden habe man ihn unbehandelt gelassen im Waldkrankenhaus. Mit Menschenwürde habe das nichts zu tun. 60 Stunden, die letzten ohne Nahrung, ohne Wasser. Es gebe Zeugen. Der Arzt, nur am Umsatz interessiert, ein arrogantes Arschloch. Die Schwestern nicht ansprechbar. Man habe ihm gedroht. Das Bein müsste vielleicht abgenommen werden. Lachhaft. Wegen drei Insektenstichen. Als er sich beschwerte, drohte der Arzt ihm erneut. Er werde dafür sorgen, dass er an keinem Berliner Krankenhaus aufgenommen werde. Natürlich sei er da eingeschüchtert gewesen. Nirgends werde man in dieser Stadt gefördert. In Prag, wo er gerade herkomme, sei das ganz anders. Er sei dann davon gehumpelt, unbehandelt, habe sich eine Plastiktüte über den malträtierten Fuß gestülpt.

Ob er noch einmal kurz rekapitulieren dürfe, was da eben vorgefallen sei, bitte schön? Der Mann im Oberdeck des zum Bahnhof Zoo fahrenden Busses griff sich in seine Haare, dünne, glänzende Strähnen, verschieden lang über den Ohren herabhängend. Er war unrasiert. Schwärze unter den Fingernägeln. Vielleicht 56, vielleicht 62 Jahre alt. Seine Stimme tönte voll, war Monologe gewöhnt. Zwei Kopfhörerknöpfe steckten in den Ohren, ein Ring nur im linken. Die Krücke hatte er auf den Platz neben sich gelegt.

Dort baumelte auch, leicht angewinkelt, der lädierte Fuß. Er habe ihn selbst verbunden, das habe einen Tag gedauert. Durch die Stadt zu laufen, diese riesige feindselige Stadt, und sich alles zusammenzusuchen. Er habe ja keine Erfahrung darin. Verbandszeug, Pflaster, Schere. In sieben Schuhgeschäften sei er gewesen, ergebnislos. Kein einziger Schuh wollte über seinen geschwollenen Fuß passen. Die Leute hätten Reißaus genommen, des Gestanks wegen. Das sei nun glücklich überwunden. Er hinke nur noch. So habe ja diese ganze Misere heute angefangen. Er rekapituliere jetzt noch einmal kurz.

Doch da stand die Fahrerin des Busses schon im Gang und schrie ihn an. Ihre Borstenhaare, gelb gefärbt, waren der Schmuck eines Totems, der die Götter des Untergangs heraufbeschwor. Ob er jetzt endlich Ruhe gebe! Sie habe hier das Sagen, „und wenn du nicht sofort ruhig bist, fliegst du hier raus, kapiert?“ Der Totem verfärbte sich ins dunklere Gelb. Sie wäre bereit gewesen, die schmächtige Wütende, den humpelnden Mann eigenhändig durch den Notausstieg zu werfen. Oder war sie an den Falschen geraten? Sehr laut wurde der augenblicklich wieder, wie vorhin, als alles begonnen hatte: Ob er sich hier duzen lassen müsse? Er spreche 12 Sprachen und sei promoviert. Was sie sich erlaube, ihn so anzugehen. 

Er habe vorhin nur die Passagierin gegenüber darauf hingewiesen, dass er humpele. Höflich. Eine rücksichtsvolle Geste sei das gewesen. Dass er von drei Insekten gestochen worden und unsicher auf den Beinen sei. Wenn diese Frau ihm solche Rücksichtnahme schlecht vergelte und ihren Platz wechsele, sei das diskriminierend und typisch für dieses schlimme Berlin, wo jeder sich in die Angelegenheit anderer einmische, aber niemand einander helfe, niemand ihn unterstütze. „I have the right to complain“, donnerte er der Fahrerin entgegen, die sich mit Blicken und Silben wie von Hera revanchierte. „Noch ein Ton und du fliegst!“ Es hätte eskalieren können. 

Zur Wahrheit gehöre natürlich auch, sagte der große Mann im dünnen Mantel, indem er sich zum Fahrgast hinter ihm wandte und die „Proletentussi“ keines Blickes mehr würdigte, dass er in Marburg studiert habe, Kunstgeschichte, ein Künstler sei und also sensibel, bitte schön. Dafür habe Berlin natürlich kein Verständnis. In Dahlem liefen alle mit diesen Samsung-Boxen herum. Kein Wunder, dass die da verrückt werden.

Neulich erst, vor seinen Augen, landete ein Hubschrauber am Bahnhof, vier Polizisten sprangen aus dem Gebüsch, locker die Pistolen um die Hüfte geschwungen. Eine Frau aus ihren Reihen habe ihm mehrfach auf die Brust geschlagen. Da frage er sich: Warum? Gehe man so mit Menschen um? Er habe einige Tage im Freien schlafen müssen, sein ganzes Geld sei weg. Aber sei das ein Grund? Als er sein Cello abholen wollte aus der Gepäckaufbewahrung, erklärte man ihm dreist, das Fach sei aufgebrochen worden und leer gewesen, aber er habe Zeugen.

Seine tschechische Freundin sei schließlich die zweitreichste Frau des Landes, zweieinhalb Milliarden schwer, nach dem Ministerpräsidenten, „Babitsch oder so“, der habe wohl vier Milliarden. In Tschechien habe er im Keller eines Schiebers echte Picassos gesehen, „12 Stück oder so“, und einen echten Braque. Alle gestohlen natürlich. Beutegut. Und ganz andere Gemälde noch. Wenn man da jeden Monat nur eines für 20000 Euro verkaufe, könne man gut davon leben. Er sprach nun tatsächlich, das erste Mal an diesem Freitagmorgen, in Zimmerlautstärke. Seltener nur drehten sich die anderen Fahrgäste nach ihm um. Der Sicherheitsabstand aber blieb gewahrt. Er hatte sich ein eigenes Reich von sieben leeren Reihen ertrotzt, erkämpft, erschrien. Im Reden war er König. Wer wollte es da mit ihm aufnehmen? Er versprach sich nie.

Angefangen hatte alles mit den Kurzgeschichten eines Zwölfjährigen. Er durfte sie vorlesen, als einer von nur zwei Jungs. Und der andere war, „da kommen Sie jetzt nie drauf“, ein Nachfahre Rippentropps, ein Alexander. Der las auf der großen Bühne. Der schreibe auch heute noch – Alban Nikolai Herbst nennt er sich. Das habe ihn damals im Alter von zwölf Jahren beklommen gemacht, und so blieb für ihn nur eine Besenkammer zum Vortrag, „ich übertreibe jetzt. Nennen wir es doch une chambre privée, das klingt dann gleich nach Proust.“ Da lachte er kurz meckernd auf, und die Strähnen zitterten. 

Jammerschade wirklich, dass er seine tschechische Freundin gerade nicht erreichen könne. Sie lebe auf einem abgeschiedenen Areal, zu Ostblockzeiten völlig unzugänglich und noch heute ohne Telefon. Da wäre vieles jetzt leichter, sagte er, als draußen gerade die Sonne im Triumphzug die Wolken besiegt hatte. In Prag habe er einmal Karlheinz Böhm getroffen, den Schauspieler, „auch ein alter Nazi“. Und Franco Nero, den Mann von Vanessa Redgrave, das wüssten ja die wenigsten. Der Nero und die Redgrave, was ein Paar. Er lachte in sich hinein. 

Damals habe er die Menge zum Rasen gebracht, das sei unglaublich gewesen. Mit seinem Kontrabass, seinem E-Bass, seinem Piccolo-Bass, einfach unglaublich. Mit dem Drummer von Michael Jackson habe er gespielt, es gebe Aufnahmen. Heute sei er solo unterwegs. Mit dem Drumcomputer. Und dazu live sein Bass. Das verlerne man nicht. 

Hier in Berlin fördere einen niemand. Und da rede er jetzt nur von der ersten Instanz. Es ginge ja gar nicht um ihn. Er sei nur ein Symptom. Überall nähmen die Verrückten überhand, Erdogan, der Nordkoreaner, Trump. Er sei da letztlich gar nicht involviert. Aber nun natürlich verängstigt. Wie damals im chambre privée, wo er seine ersten Texte las, die später dann Volker Lechtenbrink aufgenommen habe. Verängstigt, eingeschüchtert, das schon. In diesem verdammten Berlin.

Igor, Elena und ich

Die Menge teilte sich, als Igor Dodon hinab stieg. Und schloss sich gleich wieder um ihn, vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Er war der Magnet, der einen engen Kreis der Anziehung schuf, einen wandernden Kreis. Mütter drängten sich zu ihm vor, riefen nach ihren Kindern, die aus dem Dunkel gereicht wurden, sich schüchtern, aber schnell in den Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit stahlen. Väter schoben ihre Wange in Igor Dodons Atemnähe, damit der Sohnemann, hart dahinter, den Rahmen des Smartphonefotos nicht sprenge. Babuschkas, ganz ohne Handy, den Haarkranz unter einem bunten Tuch, die Beine unter einem breiten Rock verborgen, verbeugten sich tief, griffen nach Igor Dodons Hand, wollten sie küssen, taten es vielleicht, die Schwerkraft zog sie zu Boden. Igor Dodon strahlte durch den Rücken nach hinten. Dort stand ich, 100 Zentimeter vom Staatspräsidenten der Republik Moldau entfernt, an einem Samstagabend im August, in Chisinau, und es war sehr warm.

Foto: A. Kissler

Die Präsident hatte geladen, und die halbe Hauptstadt schien auf den Beinen. Der Boulevard des Großen und Heiligen Stefan war vor dem Regierungspalast gesperrt, eine Bühne aufgebaut worden, groß genug für eine Hundertschaft von Chören, Musikern, Sängern, eine Moderatorin, einen Moderator. Feierlicher Ernst stieg aus den Darbietungen zum Himmel hoch. Stockende Rhythmen, nach dramatischen Pausen neu zusammengebunden, jubilierende Akkorde, vor dem Höhepunkt abgebrochen, breite Bögen, kraftvoll im Ab und Auf und Ab, Texte zwischen Deklamation und Credo, ironiefrei, schnell im Ausrufezeichen endend. Man sprach auf der Bühne viel Russisch in der freien Republik Moldau, deren Amtssprache das Rumänische ist, aus einem historischen Anlass. Er stand im ovalen Bogen über dem Bühnengestell: „75 Jahre Befreiung von der faschistischen Besatzung“.

Im Juli 1941 war das damalige Bessarabien von rumänisch-deutschen Truppen besetzt worden, zuvor war es eine sozialistische Sowjetrepublik gewesen, Landkollektivierung und Zwangsumsiedlungen inklusive. Unter den neuen Herren gab es dann Pogrome und Todesmärsche. Eine aufwendige Dokumentation zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wird an diesem lauen Augustsamstag auf der großen Bühne gezeigt. Am 20. August 1944 sorgte die 75 Jahre später immer wieder als zeitlicher Index eingeblendete „Operation Iasi-Chisinau“ für die sowjetische Rückeroberung. Igor Dodon, an dessen Nähe zu Russland niemand zweifeln darf, wird von Frieden sprechen in seiner kurzen Rede auf der Bühne später und vom deutschen Faschismus.

Was aber sind fest gesetzte Worte gegen Silben wie Pfeile, Blicke wie Donner, Töne wie Salven, gegen Elena also? Elena Vaenga trat auf, als die Nacht so schwarz geworden war wie das knielange Kleid, das sie trug, eine Uniform fast, die schwarzen Haare streng nach hinten gebunden. Dem Star aus Russland war nicht zum Lachen zumute. Sie war die Frau, mit der nicht zu spaßen ist, Mnemosyne und Demeter zugleich. Sie besang „Leningrad“ und das siegreiche „Bataillon“, stampfende Märsche, die sich zuverlässig emporschraubten zum eruptiven Ende. Hinter ihr, auf der großen Leinwand, robbten Soldaten durch eine Ebene, auf die Bomben niedergingen, fuhr die Kamera an Soldatengesichtern unter schwerem Helm vorbei. So war das gewesen mit der ruhmreichen Sowjetarmee.

Foto: A. Kissler

Auf kleineren Monitoren rechts und links liefen in Endlosschleife Mahnmäler, trauernde Männer mit Maschinengewehren, kämpfende Männer mit Granaten, Gesten der Vergeblichkeit nach bitterer Schlacht, Arme fallen schwer zu Boden, Panzer im gefrorenen Tanz auf brüchigem Grund, kantige Gesichter in rotem Beton, grauem Stein, schwarzem Granit. Heldengedenken, Totengedenken, Männergedenken. Elena sang, ihr zwölfköpfiges Orchester blies sich die Backen wund, zupfte die Saiten heiß, ließ das Akkordeon glühen. Pace. Leningrad. Mir.

Nach einem Solo für zwölf Orchestermänner und drei Chorsängerinnen entpuppte sich Mnemosyne als Demeter. Elena war zurück auf der Bühne, nun aber im weißem Kleid, das körperfüllend einen goldenen Pokal zeigte mit überquellenden Früchten der Erde, Blumen und Weizen und Obst, vielen Rosen. Sie wollte nicht mehr erinnern an Schlimmes, sondern künftiges Glück nähren. Sie wollte tanzen und singen, Spaß haben, Freude. Die ährenbindende war die fruchtbringende Frau geworden. Welch Rollentausch, welch Stilwechsel. Salsa erklang nun, Funk, Pop, auf der Leinwand drehten sich bunte Chakren im jagenden Kreis, das Leben ein Fest aus Farbe und Flamme, endlich auch hier. Igor Dodon kam zum zweiten Mal auf die Bühne, überreichte dem Stargast einen Strauß mit dreißig sehr langstieligen Rosen. Deren zwei fielen prompt zu Boden. Überfluss war alles und Gelächter und Heiterkeit.

Foto: A. Kissler

Ein Feuerwerk explodierte über dem Regierungspalast, Vivaldi erklang, Beethoven jubilierte. Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Die Smartphones waren weit nach oben gerichtet, ein Oh, ein Ah, ein Gold und ein Blau und ein Rot und noch einmal von vorne, bis die Bühne leer war und nur noch der Himmel tanzte. Dann war auch das vorbei, die Menge trollte sich beseelt. Vom Stadtpark drang eine leichtere Weise herüber, junge Leute spielten Folkmusik, griffen zur Gitarre, Nicoleta Plămădeală sang betörend, kraftvoll und schattiert, eine Stimme wie Haley Heynderickx. Warm war es noch immer an diesem Samstagabend im August, in Chisinau.

Foto: A. Kissler

Nachhaltigkeit

Mein altes Lexikon ist dumm. Es kann nichts dafür, denn es stammt von 1984. Und damals reichte es vollkommen, hinter dem Stichwort „Nachhaltigkeit“ einen Pfeil zu platzieren, der weiterleitete zu „Holzeinschlag“. Der Eintrag für „Holzeinschlag“ klärte dann auf: „In einer geordneten Holzwirtschaft ist der Holzeinschlag streng an die Nachhaltigkeit gebunden, das heißt, es darf jährlich nur so viel Holz im Wald eingeschlagen werden, wie der Zuwachs beträgt.“

Foto: H. P. Rabit

Glückliche Zeiten waren das, anno 1984, als die Nachhaltigkeit streng begrenzt war auf den Raum der Natur, des Waldes, des Holzes. Mein Lexikon hätte nicht zu träumen gewagt, dass eines fernen Tages Nachhaltigkeit zum Etikett werden würde, das man jeder Erscheinung der belebten oder der unbelebten Natur verpassen kann. Es bezeichnet nicht mehr die schonende Bestandspflege der Bäume unter industriellen Bedingungen, sondern etwas ungleich Simpleres: die lange Dauer.

Nachhaltig soll heute alles sein: der Abbau von Schulden ebenso wie der Aufbau von Elektromobilität. Der Konsum und der Tourismus. Die Politik und die Wirtschaft. Der Sport und der Joghurt. Wir werden ermahnt, nachhaltig zu shoppen, nachhaltig zu reisen, nachhaltig zu essen, nachhaltig zu duschen, nachhaltig zu lieben. Der entgrenzte Begriff dient einem moralischen Imperativ: Handle stets so, dass dein Tun in einer möglichst weitreichenden Zukunft möglichst wenig negative Spuren hinterlässt.

An einem solchen Konzept ist einerseits nichts zu tadeln – andererseits büßt es in rhetorischer Endlosschleife seinen Ernst ein, nachhaltig sozusagen. Wer auf allen Feldern an Nachhaltigkeit appelliert, entwertet den Grundsatz, den er verwirklichen will. Es ist schlicht unmöglich, jedes Handeln an der Elle zukünftiger Folgenminimierung zu messen. Folgen sind oft unkalkulierbar, und eine Nachhaltigkeit hier kann geradewegs in die Mittelverschwendung dort führen. Wie etwa sollte man umgehen mit jenem Batterieschrott, veritablem Sondermüll, den flächendeckende Elektromobilität verursachte?

Vor allem aber halten die Nachhaltigkeitsapostel sich zu selten an das erste Nachhaltigkeitsgebot überhaupt: Rede stets so, dass deine Worte einen klaren Sinn haben und ihn auch in Zukunft behalten werden. Die Wette wag‘ ich: In dreißig Jahren wird kein Lexikon mehr wissen, was in die seltsamen Menschen des Jahres 2019 gefahren war, die nicht wussten, wohin die Reise gehen soll, wohl aber, dass es nachhaltig geschehen müsse – unbedingt. 

Woraus wir gemacht sind

Es war sehr heiß, und sie waren zu siebt. Das Leben war nicht über sie hinweg gegangen, es war in sie hineingekrochen und saß da nun und sprang hervor in glücklichen Stunden wie dieser. Die Sonne prallte ab von den beiden Sonnenschirmen über ihnen, Reben rankten empor, Schatten spross, ganz in der Nähe schoss Wasser in einem Brunnen hinab. Sie waren drei Paare und die Königin des Tischs.

Foto: H. P. Rabit

Gekommen waren sie zum Frühstück. Nicht zum ersten Mal, und wie immer waren sie erstaunt über die Größe der Portionen, die sie sich an den Tisch gebracht hatten, nachdem sie aufgerufen worden waren. Nein, nicht alle sieben waren es gewesen, nur einer hatte den Botengang übernommen in die Schankstube und retour, siebenfach. Strahlend jeweils war er zurückgekehrt mit Butter, Brot, Schinken, Käse, Marmelade, hartgekochten Eiern, Obstsalat, Lachs und diesem ganz besonderen Senf, der fast schon ein Honig war. Der Bote saß an der Spitze des Tischs und war ein stiller Genießer. Rot leuchtete sein Hemd, weiß schimmerten die Haare. Früher erzählte er gerne Witze. Die Tolle im Haar sah nach Brillantine aus, doch wer weiß das schon.

Schräg neben dem roten Boten saß des Boten Frau. Sie färbte sich die Haare, lange schon, in einem Rosskastanienbraun, sie bekannte es offen. Anders könne sie nicht von sich denken, Gott bewahre, man müsse Fasson halten. Die lustigen Sieben wussten es. Auch die Frau, die das Wort führte, um es nicht teilen zu müssen, hatte das Bekenntnis schon oft gehört. Nein, das käme ihr nie in den Sinn. Das Leben sei kein Wunschkonzert, Älterwerden nichts für Feiglinge. Worauf die Frau direkt gegenüber, die Frau in der Vogelbluse, erwiderte: Das sei kein Wunder, sie habe auch einen sehr schönen Farbverlauf, da wechsele es zwischen hellerem und dunklerem Grau, ein paar blonden Strähnen, einem grundierenden Weiß. Schön sei das, abwechslungsreich. Die Wortführerin lehnte sich beglückt zurück. Und schwieg für Augenblicke. Die Vogelfrau lächelte triumphal.

Hinein ins stumme Ausatmen nahm ein Mann das verwaiste Wort, der zweite von links. Er hatte zum T-Shirt gegriffen am Morgen dieses heißen Tages. Groß stand darauf der Name eines Ortes, der nichts zur Sache tut, weil die Sache allen bekannt war. Wie sie denn nun mit der Einladung verfahren sollten, die an sie alle ergangen sei? Man wisse ja um die notorische Unzuverlässigkeit der Einladenden. Da sei mal von fünf die Rede, und dann ginge es nicht vor sechs los oder sei um sieben schon vorbei. Er sprach laut. Andererseits wäre eine Absage ein Affront. Ob er nicht anrufen und sagen solle, sie kämen alle gern, aber es ginge eben nur um vier? Schön sei es dann ja meistens doch geworden bei diesen Hallodris. Da lachten alle bis auf den dritten Mann. Sprachen wir schon von ihm?

Sprechen wir zuvor von der Königin des Tischs. An dessen anderem Ende saß sie, weit entfernt vom Botenmann. Sie war allein erschienen, wie sonst, trug ein blütenweißes Kleid und flüsterte, als lachte sie, lachte, als flüsterte sie. Sie griff sich an die Schläfe und wurde wieder 16 – ohja, das ist sie einmal gewesen –, und alle freuten sich, wenn sie mit wenigen Worten schöne Schicksale heraufbeschwor. Damit, versicherte ihr die Vogelfrau, hast du ja nie Probleme gehabt, mit deinem leuchtenden Apfelrot. Alle lachten auf, hielten ihr Lachen aber so klein und knapp, dass sie das Lachen der Königin nicht übertünchten, es nicht hinaustrieben in den Wald, der sie alle barg. So wie die Königin ein Geheimnis.

Der dritte Mann hatte noch etwas zu sagen. Er setzte an, mehrfach, doch die Wortführerin ließ ihm die Rede nicht. Rot wurde er im Gesicht. So sei das jedes Mal. Sie lasse ihn nicht zu Wort kommen. Aber natürlich, schon immer. Röter stets färbten sich die Züge, der Schopf leuchtete wie Hermelin, auf der Stirn zogen sich Falten zusammen. Die Wortführerin zog das Tempo an, der dritte Mann erhitzte sich im Reden, die fünf anderen wichen ins Gehäuse der Teilnahmslosigkeit zurück, und schließlich räumte die Wortführerin doch das Feld.

Wasser schoss hinab, der Schatten schwand, und der dritte Mann fing zu erzählen an: „Früher gab es bei diesen Einladungen immer Truthahn. Mächtige Tiere. Fünf, sechs Kilo und mehr. Da wurden alle satt. Hat wunderbar geschmeckt. Ganz wunderbar. Das ist lange her. Ich weiß gar nicht, wo es heute noch Truthähne gibt. Nirgends mehr.“ Und er machte eine Pause, schaute in die Runde und setzte energisch, verbissen, trotzig die Pointe: „Es war immer schön.“

Fast gebellt hatte er diesen Satz, der ein abrupter Schluss war, kein Ende. Darauf war es ihm angekommen, unbedingt. Das musste er sagen, in fast testamentarischer Strenge, über jeden Einwand, alle Vertrautheit hinweg, ohne den Anflug eines Lächelns: „Es war immer schön.“ Vielleicht ist eine Pointe, die keine ist, das Fazit eines Lebens, das sich einmal auch in glücklichen Stunden zusammenballte wie dieser.

Im Phrasentümpel hängt ein Leporello

Die Phrase kennt keine Sommerpause, und so waren auch die zurückliegenden Tage Festspiele im unaufhörlichen Platitüdenwettbewerb, den sie Politik nennen. Phrasen, wir erinnern uns, sind Begriffe, die sich entleert haben durch bedingungslosen Gebrauch, weshalb man sie ein scheinbar letztes Mal unter hohem moralischem Druck aufruft. Und noch einmal. Und abermals. Und wiederum. Am Ende, das nie kommt, reden wir ständig und verfehlen uns stets.

Foto: H. P. Rabit

Wenn Bundesfinanzminister Olaf Scholz von der SPD auf Schloss Meseburg erklärt, man wolle durch geeignete Maßnahmen „sicherstellen, dass es für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Welt mit guten Arbeitsplätzen bleibt, die Respekt bieten“ – dann versteht und bezieht er Respekt falsch. Arbeitsplätze können keinen Respekt bieten, Respekt ist die nichtmaterielle Anerkennung für achtenswerte Leistung. Arbeit wird nach Maßgabe geltender Verträge bezahlt. Und wenn Bundesaußenminister Heiko Maas von der SPD die Ausrüstung der Bundeswehr zur „Frage des Respekts“ erklärt, macht er aus dem Selbstverständlichen, der zweckdienlichen und verfassungsgemäßen Bundeswehrausstattung, einen Gegenstand des Wünschens, der Gunst, der Option. Die Bundeswehr, heißt das, könnte verlottern, wenn sie keinen „Respekt“ mehr in den Augen des Außenministers verdient. Bei Licht betrachtet: Tut sie es nicht längst? Explodiert die Rede vom Respekt – „Respekt für meinen Fahrstil! Respekt für meine Zweitfrau!“ – nicht derart, weil wir in Respektlosigkeiten zu versinken drohen?

Phrasen lassen sich in zwei Gruppen teilen, in Forderungsphrasen und in Absichtsphrasen. Gefordert wird für andere, Absichten erklärt man für sich, wodurch man aller Verantwortung sich entledigt, denn Verantwortung ist eine Forderungsphrase. Vertrauen ebenso. Wenn Armin Laschet von der CDU mehr „Vertrauen in den Staat“ und Frank-Walter Steinmeier von Schloss Bellevue mehr „Zukunftsvertrauen“ fordert, dann fassen sie die Bürger energisch ans Portepee. Optimismus wird zur Pflicht des guten Deutschen, der seinem Staat, wie schwach auch immer er ihn erleben mag, treu ergeben sein soll. Zur Erinnerung: Im Staat bündelt sich die Exekutive, deren demokratischer Souverän das Volk ist. Auch die Judikative ist an den vom Souverän mittelbar vorgegebenen Rahmen gebunden. Letztlich soll also nun der Souverän seinem ausführenden Organ vertrauen, der Hund dem Schwanz – blind? „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“

Gefordert hat jüngst auch Annegret Kramp-Karrenbauer von der CDU viel. Und zwar ausnahmslos Selbstverständliches, weshalb man sich wie im Falle Maas fragt: Auf den Verlust welcher Selbstverständlichkeiten soll der Bürger vorbereitet werden, wenn heute schon das Unumstrittenste umstritten zu sein scheint? Annegret Kramp-Karrenbauer erklärte: „Es darf keine No-Go-Areas geben. Der Staat muss für seine Bürger da sein. Es ist Aufgabe der Polizei die Bürger zu beschützen. Es ist Aufgabe der Gerichte Straftaten zu ahnden. Antisemitismus darf nicht als Kavaliersdelikt abgetan werden.“ Was fehlt noch? Morgens ist es heller als abends? Rechts vor links im Straßenverkehr? Im Phrasentümpel ist gut baden. Vor allem, wenn dieser im Saarland steht. Landsmann und Parteifreund Tobias Hans versprach, nun in der Klimapolitik ordentlich „auf die Tube zu drücken“. Lupenreine Absichtsrhetorik – wie auch die Bilanz von Kanzleramtsminister Helge Braun nach der Ankündigungsklausur des Bundeskabinetts: „Wir haben uns viel vorgenommen.“ Das ist’s ja grade: Vornehmen kann man sich sehr viel. Erledigt ist damit noch nichts. Im Reich der Absichten schlägt keine Stunde.

Auf die Tube drücken, Kavaliersdelikt, Tagesordnung: selten waren die Phrasen abgehangener, abgestandener. „Wir werden das Thema Wohnungsbau ganz oben auf der Tagesordnung haben“, versprach die Kanzlerin auf dem Deutschen Mietertag. Dummerweise stehen dort schon alle anderen Felder, für deren Erledigung die Bundesregierung gewählt worden ist. Die Traktandenliste dieses Kabinetts ist eine grafische Unmöglichkeit: Die erste Liste, die aus nur einer einzigen, freilich endlosen Zeile besteht. Die erste Tagesordnung, bei der alle Punkte ganz oben stehen. Ein waagrechter Leporello. Ein Blasebalg der Erregung. Alles ist erstrangig wichtig, Digitalisierung, Bildung, Gesundheit, Integration, Multilateralismus, Wohnungsbau etc. pp. Sprachliche Tollkühnheit landet beim tollen Denken. Wie viele Biere haben Sie schon, fragt der Kellner den lallenden Gast. Es ist mein erstes. Immer mein erstes. Prost!

„Das Boot ist voll“

Joseph Roth nennt seinen schönsten Roman einen Bericht. „Die Flucht ohne Ende“ beginnt mit dem programmatischen Hinweis: „Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu ‚dichten’. Das Wichtigste ist das Beobachtete.“ Das war 1927, und Franz Tunda, den Helden, werde ich nie vergessen.

Foto: H. P. Rabit

92 Jahre später betritt eine Frau den Bahnhof Friedrichstraße in Berlin. Sie hat ihre beste Zeit nicht hinter sich. Sie hat ihre beste Zeit. Ihr Kleid ist schwarz und ein Cocktailkleid. Ihre Schuhe sind flach und ebenfalls schwarz. Sie trägt eine silbern schimmernde Kette aus kleinen Quadern. Die Haare sind blond und nur an den Seiten gewellt. Es war ein Werktag zur Mittagszeit, die Oper hatte noch geschlossen, das Theater nicht geöffnet. Draußen schien die Sonne, drinnen trat die Frau an den Imbissstand. Eine Frau und zwei Männer versahen ihren Dienst zwischen Lachsbrötchen, Paella, Matjes und Seelachs. Die Tische waren besetzt.

Und die Frau hob an zu sprechen. Was sie sprach, begann schon im Gehen, und formte schon im Gehen eine stählerne Glocke um sie. Soviel sie auch sprechen sollte, keine Widerrede konnte sie erreichen. Sie sprach nach einem Gesetz, das nur sie kannte. Laut sprach sie hinein in den Tresen, zwischen Stulle und Aal: „Ausländer raus. Das Boot ist voll. Das ist jetzt mein Motto.“ Und nach einer kurzen Pause, in der sie funkelnden Blicks verdutzt lächelnde Augenpaare parierte: „Ich habe lang genug gezahlt.“ Und bestellte sich einen Fischteller.

Größer konnte die Spannung nicht sein zwischen Erscheinung und Dasein, Anblick und Rede. Da griff eine mit beiden Händen ins brackige Ressentiment, die bei anderer Beleuchtung an anderer Stätte das Lied von der Forelle gesungen, die Ode an die Freude deklamiert, die Menschenrechte gepriesen hätte. Deklassiert war sie nicht, nur wütend. Und ihre Wut wollte sich nicht legen, als der Fischhändler – stammte er aus Pakistan, Indien, Bangladesch? – ihr den Teller zuschob. Zwei Sorten Filet, eine Portion Reis, Cocktailsauce, Salatattrappe, Messer, Gabel, Serviette. Und sie setzte sich, fand den letzten freien Platz, steuerte ihn triumphal mit einem Dacapo an: „Ich habe lange genug gezahlt.“

Ihr Appetit litt nicht unter dem Vortrag. Sie war eine Dame von Welt, doch die Welt kam ihr gerade abhanden. Nervös pendelte die Schuhspitze des linken Beins im Nichts unter dem Tisch, Ballons anzielend, die da nicht waren und also nicht platzten. Ihr Mund hatte viel zu tun. Er nahm auf, was die Gabel ihm zwischen die Lippen stoß, und musste, kaum hatte die Zunge die Fetzen zum Gaumen geschoben, die immergleichen Laute in den Orbit unter den Gleisen senden, crescendo: „Das Boot ist voll. Das ist mein Motto jetzt.“ Ein „Ha!“ nicht des Lachens oder der Verwunderung, ein „Ha!“ der Entschlossenheit, mehr Satzzeichen als Botschaft, verdickte die Rede zum Manifest. Niemand außer ihr sprach ein Wort. Sie wurde gefährlich. „Ha!“

Und aus dem Stoßen ein Schaufeln, dem Hunger ein Tritt. Was hätte man erwidern sollen? Dass sie sich irre? Dass sie sich beherrschen solle? Dass Berlin Stadt der Toleranz sei? Das Cocktailkleid war ihr Kokon. Einer solchen Frau käme man besser nicht mit Zurechtweisungen, Argumenten gar. Ihr Repertoire war erkennbar eng, scharf und eng. Man kennt es von den Bühnen jenseits der Gleise. Die Person, die sich plötzlich an der Rampe echauffiert, ansatzlos anhebt zur wüsten Suada, ist in der Regel schnell verschwunden. Ist die komische Figur, die ein Gelächter unter sich begräbt. Die tragische Figur, die sich selbst aus dem Leben nimmt.

Lang dauerte es auch hier nicht. Den Teller ganz zu leeren, wäre ihr kleinbürgerlich erschienen. Sie ließ ihn stehen und verschwand, kauend noch und ein letztes Mal rufend: „Das ist jetzt mein Motto.“ Wohin sie aufbrach, weiß ich nicht. Zum zahmen Dienst nach der Mittagspause in Anwaltskanzlei, Steuerbüro, Architekten-AG? Zum einsamen Piccolo im Park? Zum echten Theater? Ein Duft nach Orange und Flieder blieb zurück, legte sich über Aal und Barsch und kündigte noch im Vergehen von der, die hier Rast gehalten hatte für eine Weile: der Bürgerin als Furie.

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