Eine Documenta auf der Höhe der Zeit
Das Fatale am Enden: es geht fast immer weiter. Der Mensch lässt sich nicht unterkriegen, glücklicherweise, und dennoch hört irgendwann alles auf, endgültig. Abschiede folgen auf Neuanfänge, die sich den Tod bereiten, bis das Rad stillsteht. Momentan ereignen sich im nordhessischen Kassel nicht die letzten Tage der Menschheit, vermutlich wird auch die Kunst den Antisemitismus-Skandal der Documenta überstehen.
Zu Ende aber ging – oder hat sich zumindest der Lächerlichkeit überführt – eine bestimmte Art, die Welt ins Raster politischer Erwartungshaltungen zu pressen. Diese Art der instrumentellen Zurichtung von Welt hat den Antisemitismus-Skandal erst möglich gemacht. In Kassel enden viele Erzählungen. In Kassel stirbt die Postmoderne.
Um nur einige dieser kollabierenden Irrtümer zu nennen: Das Kollektiv sei dem Individuum überlegen. Der globale Süden sei eine immer wertvolle kulturelle Bereicherung. Der Westen befinde sich grundsätzlich und zu Recht auf der Anklagebank. Alles sei relativ, es gebe keine absoluten Werte. Der Mensch sei, als was er sich empfinde. Aktion schlage Kontemplation, die Betroffenheit das Argument. Es genüge, für eine bessere Welt einzutreten.
Der Antisemitismus-Skandal entzündete sich an judenfeindlichen Darstellungen, die das kuratierende „Künstler*innenkollektiv“ Ruangrupa aus Jakarta nach Kassel gebracht und die ein anderes indonesisches Künstlerkollektiv namens Taring Padi zu verantworten hat. Ein Jude mit Schweinsgesicht, ein Jude mit Raffzähnen waren zu sehen auf einem gigantischen Wimmelbild. Es wurde am vierten Tag der Ausstellung nach einem Proteststurm abgehängt.
Obwohl das Plakat rund zwanzig Jahre alt ist – Auftragsarbeiten waren programmatisch unerwünscht –, hat sich die Documenta-Leitung nicht darum gekümmert, was da wohl eingeflogen werde. Ruangrupa steht seit langem unter Antisemitismusverdacht. Der Direktorin bleibt jetzt nur der Rücktritt. Auch die grüne Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth, erweist sich durch ihre Verharmlosungen als fehlbesetzt.
Momentan wird vielerorts ein Triumphzug der Kollektive in der Kunstszene behauptet. Wenn es so wäre, wäre es ein reaktionäres Vergnügen, denn die selig entschlummerten 1970er Jahre waren die hohe Zeit der kollektiven Autorschaft. Auch im Warschauer Pakt wurde, zumindest rhetorisch, das Kollektiv hochgehalten. Kollektive Kunst aber ist misslungene Kunst, ist oft gar keine Kunst. Wo kein Künstler Verantwortung übernimmt für seine Musen, kann der Freiheitsfunke nicht überspringen. Kollektive Kunst entspricht der Individualität einer Pauschalreise.
Schmerzlich zu lesen und darum erhellend ist die Hymne, die wenige Tage vor der Eröffnung die Wochenzeitung „Die Zeit“ anstimmte. Eine „Documenta der globalen Verschwisterung“ sei es, nichts liege den Ruangrupa-Leuten ferner als Hass, Hetze und „Herumpolitisieren“, das oberste Ziel laute Einvernehmlichkeit.
Auch die antisemitischen Pinsler von Taring Padi bekamen eine Extraportion Lob. Ihre Protestbanner seien „eindrückliche Bilder, angefüllt mit kämpferischen Figuren, die für eine bessere Welt eintreten.“ Dass diese bessere eine judenfreie Welt sein soll, lässt sich am erst später aufgehängten Poster sehen. Dort, gaben pseudoklug die Documenta und deren Generaldirektorin zu Protokoll, könnten gewisse Figuren zwar „antisemitisch gelesen“ werden, das Ganze müsse aber im Rahmen der indonesischen Gewalterfahrung verstanden werden.
So hohl läuft die Rede, wenn sie sich von der Welt entkoppelt. Da ist nur ein zynisches Schwatzen übrig. Der Antisemitismus-Skandal ist eben auch ein Abgrund an Realitätsblindheit und Folge eines hermetisch zugespitzten Werterelativismus, wie er Gemeingut wurde in den Gesellschaften des Westens. Von je weiter her eine Botschaft kommt, mit desto größerer Achtung wird ihr begegnet. Geografie zählt mehr als Vernunft, denn Vernunft hat keinen Ortsstempel. Antisemitismus kann jedoch durch keine regionale Spezialerfahrung gerechtfertigt, toleriert oder relativiert werden. Antisemitische Indonesier sind Antisemiten und nicht Weise aus dem globalen Süden, dieser denkfaulen Chiffre für Standpunktlosigkeit.
Der Westen unterspült seine Fundamente, ohne Not. Er beruht auf einer durch Gewaltenteilung verbürgten und darum belastbaren Liberalität, die im Recht ihre Grenzen findet. Recht aber wird zur Fiktion, wenn das subjektive Empfinden den Richter abgibt – und bestellte Richter findet, die ihm im Gerichtssaal beispringen. Wenn der Mensch ist, als was er sich gerade empfindet, dann gilt das Recht nur situativ, momentan, kontingent und also nicht. Objektivität wird zum diskriminierenden Akt. Und wer wollte dann Menschen verwehren, ihren subjektiven Judenhass situativ zu äußern und nichts daran zu finden?
Auch die Kunst implodiert in der Endmoräne des Subjektivismus, widmet sie sich doch, so abermals „Die Zeit“, auf der diesjährigen Documenta der „Bienenzucht, Milchwirtschaft, Heilpflanzen, der Initiative ZukunftsDorf22 oder auch der eminent politischen Frage, wie sich Äcker, Wälder oder ein Steinbruch kollektivieren lassen“. Der Ungeist des Kollektivismus verheert alles, in erster Linie aber das Denken. Wer darin, wie es die Macher dreist behaupten, einen Fortschritt erblickt, ist nicht nur realitäts-, sondern auch geschichtsblind. Diese Documenta ist dem Wortsinne nach eine idiotische Veranstaltung, empfindet doch der Idiot „alles, was er empfindet, als selbstgemachte Empfindung. Von keiner Welt, keinen Sternen, keinen fremden Augen verursacht.“ (Botho Strauß)
Einer weltlosen, sternenfernen Documenta aber kann man ihre Blindheit letztlich nicht vorwerfen. Sie gibt getreulich wieder, woraus in den letzten Jahren und Jahrzehnten weite Teile des öffentlichen Redens im Westen bestand: aus einem zynischen Werterelativismus, einer stolzen Instrumentalisierung des Anderen zu politischen Zwecken und einer allumfassenden Scheu, über das Subjektive hinaus zu gelangen.
Diese Documenta kann darum schon heute, an ihrem fünften Tag, für beendet erklärt werden. Sie hat ihren Zweck erfüllt. Sie wird uns alle überleben in der Chronik von den späten Tagen des Westens.