Manche Dinge geschehen ohne einen, obwohl man dabei war. Oder war man es am Ende gar nicht? War man zwar da, aber nicht dabei – oder dabei, aber nicht da? Dann liest man in den Akten der Erinnerungen und findet sich nicht. Dann ist es, als führte ein anderer das Regiment über das eigene Leben. Als hätte ein Schwamm die Tropfen des Gewesenen aufgesogen, restlos, und nur eine blitzblanke, leere Oberfläche im Oberstübchen zurückgelassen. Sie dürfen nun andere beschreiben.

All das frug ich mich heute morgen, als ich las, Frau Dr. Merkel habe der Premiere des Schauspiels „Der Menschenfeind“ von Molière gestern beigewohnt. In Berlin, im Deutschen Theater, in Reihe 6, Parkett Mitte. Ich schaute auf meine Eintrittskarte und fand die Ahnung bestätigt, dass ich tatsächlich gestern zur selben Zeit am selben Ort weilte. In Reihe 7, Parkett Links, Platz 20. Grob geschätzte dreieinhalb Meter Luftlinie schräg hinter der Bundeskanzlerin – ohne sie gesehen, bemerkt, gehört zu haben. War sie wirklich da? Oder spielt hier gerade ein Gerücht stille Post, bis niemand mehr weiß, was da gestern wirklich geschah, in der Hauptstadt, zwischen halb acht und zehn nach neun, in einem Theater oder sonstwo, wo die Kanzlerin applaudierte oder gar nicht da war?

Auf der Bühne war als Dauermiesepeter und Titelheld Monsieur Alceste da, dargeboten von Ulrich Matthes, über dessen hinaustrompetete und durch allerlei Moralfanfarentum bekräftigte SPD-Sympathie man beinah‘ schon vergessen hätte, dass er im Hauptberuf Schauspieler ist und zwar ein sehr guter, was ihn deutlich abhebt von Martin Schulz, beispielsweise. Alceste stößt in seinem humorlosen Einsatz für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit im absolutistischen Frankreich eine jede und einen jeden vor der Kopf: „Ich habe keine Lust, mir die Zunge zu verrenken / und vor allem, was ich sage, nachzudenken.“ Was ihn schon weniger abhebt von Martin Schulz, beispielsweise.

Alceste begehrt den in Franziska Machens‘ Darstellung hanseatisch nölenden Vamp Célimène, eine junge Witwe von hohem Wuchs und etwas minderen Geistesgaben. Welche freilich reichen, die drei ebenfalls um sie werbenden Gecken Oronte, Acaste und Clitandre turmhoch zu überragen. Star des Abends freilich war Alcestes Freund Philinte, der bei Manuel Harder vom Stichwortgeber zum menschenfreundlichen Melancholiker wird; er weiß, die Menschen könnten besser sein, doch andere als jene, die wir haben, sind derzeit nicht im Angebot. Alcestes Devise, „dieser Irrsinn ist kaum noch zu ertragen / ich könnt‘ die ganze Welt erschlagen“, ist das seine Motto nicht. Philinte vertritt gewissermaßen die Bonner Republik gegen die Zumutungen des Berliner Dampfdruckkessels. Regisseurin Anne Lenk hat das alles geschwind, sportiv, munter inszeniert, ohne sich um vordergründige Aktualisierungen zu scheren. Kein Trump twittert von der Bühne herab, kein Habeck nimmt übel, keine Greta panikt. Nur Angela Merkel, die genoss ganz gelöst in Reihe 6, Parkett Mitte. Hieß es tags darauf.

Hätte ich sie erkannt, die Kanzlerin, wäre die Luftlinie noch ein wenig geringer gewesen zwischen ihr und mir: Hätte ich ihr ein Wort zugerufen, ein kräftiges? Ihren inneren Abschied gemaßregelt vom Amt, das sie noch innehat? Ihr schlechtes Deutsch im Blitz karikiert? Ihre Wurstigkeit treffend gespiegelt? Ihren Schlingerkurs bezwingend gekontert, fix und vif? Ach, es hätten meine fünf Sekunden werden können in den Akten der Weltgeschichte. Reihum saßen Journalisten, jemand hätte meinen gerechten Furor, ganz im Stil Alcestes, aufgezeichnet, ihn ins Netz gestellt, eine Debatte losgetreten für Wochen: Eklat im Theater – Haben Politiker kein Recht auf Privatleben?

Ich aber sah sie nicht, hörte sie nicht, bemerkte sie nicht. So wurde es ein schöner Abend. Für Angela Merkel und für mich.