Eine Schale Reis stand zwischen ihnen und sonst nichts. Er hatte sich dann doch entschieden, nur eine zu kaufen für sie beide, das würde genügen. Reis sättigt. Basmati-Reis mit etwas Salat, etwas Gemüse, etwas Koriander, einer Soße nach Zitrone und Tamarinde. Reis asiatisch im recycelten Karton. Hellbraun und tief war die Schale, aus der sie aßen, Vater und Sohn. Manchmal kamen sie sich beim Löffeln nah, als wollten sie sich gegenseitig die Bissen kühlen. Ehe einer vor dem anderen zuschnappte. Traurig blickte der Sohn, neugierig der Vater.

Mai, Deutschland 2019

Es war Mai in Berlin, und in den Anden graste ein Alpaka. Ihm genügen Sonne, frische Luft, Gras und andere Alpakas. Ein Einzelgänger war das Alpaka nie. Zweimal im Jahr wird es geschoren. Seine Wolle ist begehrt. Sie wärmt unvergleichlich. Nach der Schur sieht das Alpaka sehr nackt aus. Nur am Kopf bleibt das Fell stehen. Seinen stolzen Blick lässt das Alpaka sich nicht nehmen, dort in Bolivien oder Chile oder Peru. Wer es in die Enge treibt, den bespuckt es. Das Alpaka ist ein friedlicher Vegetarier und versteht sich zu wehren. Auf Lateinisch heißt es Vicugna pacos.

Die Haare des Jungen waren blond und fielen schwungvoll herab über beide Ohren. Vor der Schulter machten sie Halt. Er hatte braune Augen und einen durchdringenden Blick. Seine Hose war blau, sein Hemd rot, seine Jacke beige. Er sprach klar, ohne Zögern, ohne Dialekt, ohne Korrekturen. Er fühlte sich zuhause in seinen Worten, wie es Greise am Ende allen Missverstehens tun, doch seine Worte machten ihn nicht froh. Was nützt es, alles über Alpakas zu wissen, den Vater damit zu beeindrucken, Fragen zu stellen und selbst zu beantworten, wenn man an einem kalten Maientag in Berlin sitzt und die Hitze vom Löffel bläst? War das hier ein richtiges, war es sein Leben überhaupt? Abermals bildete sich auf der Stirn des zwölfjährigen Jungen eine gekrümmte Linie. Sie führte von der linken Braue bis an die rechte und machte nicht kehrt.

Welches Lied der Vater am liebsten gemocht habe, als er jung war? Ob er lieber heute ein Kind wäre als damals, als er es war? Beide Fragen stießen in ein Schweigen hinein. Der Vater, keineswegs ein alter Mann, blond auch er, doch dünneren Haars und leiserer Stimme, musst lange überlegen. Welches Lied? Da fiel ihm auf die Schnelle keines ein. Es waren so viele. Der Sohn täte es, endlich gefunden, nicht kennen. Vielleicht von Sade? Vielleicht von Bowie? U2? Und die andere Frage sei unbeantwortbar. Man wisse ja zu keinem Zeitpunkt, was käme, und man wisse nicht, wie man wäre, wenn man noch einmal die selbe Phase durchlebte. Also zurückfiel ins Heute gewissermaßen. Alles in allem, letztlich, wenn er es sich aber genau überlege: Er wäre lieber heute Kind als damals in diesen Achtzigern, Neunzigern. Diese ganzen Möglichkeiten heute.

Der Sohn musste nicht überlegen. Er schien auch diese Frage nur gestellt zu haben, um sie selbst beantworten zu können. Bei ihm sei es umgekehrt. Er wäre lieber damals ein Kind gewesen. Ein Eiseshauch der Fremdheit stand plötzlich zwischen den beiden. Der Reis dampfte nicht mehr. Das Gemüse war verschwunden. Die Schale aus der Mitte hin zum Sohn gewandert. Wortlos war der Vater überrascht und fand keine Worte für seine Überraschung. „Damals?“ Sein Blick wurde Echo. Hinter dem Gitter der Stirn jagten die Gedanken einander. Litt der Sohn an seinem Kindsein? Sehnte er sich nach einem frühen Ende? Nach raschem Reifen? Nach einem Verschwinden?

Der Vater grübelte und leerte die Schale. Nach einer Weile fiel aus dem Mund des Sohns ein Wort auf die schon leere Fläche zwischen den beiden, und alles löste sich, ohne sich aufzuklaren. Ein Wort nur, das Wort vom „Klimawandel“, lag da nun und entsiegelte die Rede. Damals sei das alles noch nicht so schlimm gewesen wie heute. Damals war die Katastrophe weiter entfernt als heute. Damals gab es weniger Grund zur Trauer als heute. Er könne sich nicht freuen am Heute, nicht freuen auf Morgen. Er wäre lieber damals Kind gewesen.

Der Vater zahlte. Sie verließen den Tisch. Ein Zug wartete. Brachte sie irgendwo hin, weit weg. Alpaka sein. Draußen sein. Es warm haben in den Anden, menschenfrei.