Angela, Annegret und die Dame ohne Unterleib
Am Anfang war der Zirkus. Das gleißende Licht in der Arena, der Geruch nach Holzmehl, Farbe und Kamel, der Geschmack von Zuckerwatte. Der Schminke der Clowns, der Schweiß der Artisten. Das knisternde Papier in der Hosentasche. Meinen ersten Zeitungsartikel schrieb ich über den Zirkus. Er war zu Gast in der Stadt, in der ich aufwuchs. Im Fernsehen lief, ewig wiederholt, „Salto Mortale“, die Geschichte einer Zirkusfamilie, jeden Freitagabend. Gustav Knuth als Patriarch, Hans-Jürgen Bäumler unter der Kuppel. Und das Lachen der Zirkusfamilie Doria über die „Dame ohne Unterleib“, die es nicht gäbe. Diesen Klassiker des Varietés, ein Trick nur, ein optischer Trick. Natürlich. Kein Mensch kann leben ohne Unterleib.
Heute sind wir schlauer. Die Dame ohne Unterleib gibt es. Sie heißt CDU. Sie kann nicht laufen, nicht stehen, nicht gehen, sich nur begaffen lassen. Sie thront auf der Illusion ihrer selbst. Die CDU ist, was übrigbleibt, wenn wir nichts erwarten von Politik außer Gewöhnung. So sehr hat man sich an den Anblick dieser Partei ohne Unterleib gewöhnt, dass es uns am Ende – am Ende der Ära Merkel – kaum noch auffiel. Natürlich, da ist kein Unterleib, stimmt. Na und? Hast du etwas gegen Damen ohne Unterleib, Parteien ohne Unterbau? Wie altmodisch, wie diskriminierend. In der Ära Merkel wurde das Außergewöhnliche als normal angesehen. Nun begräbt das Normale eine außergewöhnlich gewordene CDU unter sich. Der bürgerliche Konservatismus will seine Partei zurück.
Als Partei ohne Unterbau war die CDU programmatisch ohne Programm. Sie war Fleisch vom Fleische Merkels und also angelegt aufs Funktionieren. Politik bedeutete, dass der Apparat Politik produziert, dass er also Reden, Gesetze, Kommissionen, Koalitionen, Kompromisse hervorbringt – an diesen Trugschluss hatten wir uns gewöhnt. Wir dachten wirklich, Politik finde statt, wenn Politiker reden. Wenn sie reisen und reden, tagen und reden. Wenn wir ihnen zuschauen bei Auftritt, Kunststück, Abgang, wie im Zirkus. Alles das bricht nun zusammen. Die Manege verschwindet, die Politik kehrt zurück.
Die Unfähigkeit Merkels zur programmatischen Aussage war keine Laune der Natur, sondern notwendig. Wenn die Bundeskanzlerin, Vorsitzende der CDU immerhin 18 Jahre lang, das Eine sagte und das Gegenteil auch und nichts Bestimmtes, dann war der Sinn erfüllt. Der Sinn des Merkelschen Redens bestand nicht darin, etwas auszusagen, sondern anderen Aussagen im Weg zu stehen. Ihr Reden schluckte den Schall derer, die etwas auszudrücken gehabt hätten. Verdrängte die Luft anderer Argumente. Leerer Schall und Nichtargumente waren die besten Mittel.
Ein idealer Merkelsatz lautete: „Es ist in den vergangenen Jahrzehnten vieles erreicht worden, aber es bleibt einiges zu tun.“ Unmöglich ist es, einen solchen Satz zu bestreiten, und darum wird er ausgesprochen. Der Klang der Worte wird zur Spachtelmasse für das Hirn. Dort verklebt er die Synapsen und verdickt das Denken. Die Gedanken gehen ein, weil keine Idee sie bewässert. Der Kopf schweigt. Auch diesem Merkel-Satz gelingt solch Geistverdrängung: „Wir stehen im Augenblick ja vor großen und riesigen Herausforderungen.“ Das stehen wir immer, das ist nie falsch, das sagt stets null aus. So wird im Rausch der Banalität die Wirklichkeit zugedeckt. So schieben sich Kulissen der Zufriedenheit vor unsere Augen und machen uns blind für die Wirklichkeit. Auch die Wirklichkeit kehrt nun zurück.
Mit Merkel-Sätzen kommt man unfallfrei durch Kabinette und Krisen. Man raubt aber einer Partei die Luft zum Atmen. Leben kann eine Partei nur in der Luft des Streits, des Arguments, der Programme. Sollte die CDU wirklich sterben, ginge sie zugrunde an der Angst vor dem Tode. An Leidenschaft für das Nichts aus Furcht vor dem Etwas. Der Merkel-CDU war eine Partei ohne Unterbau, weil sie sich das Nachdenken hat abtrainieren lassen. Die CDU betrachtete nicht mehr die Wirklichkeit, sondern ihr Einverständnis mit ihr. Die CDU pfiff auf Programme und Prinzipien, weil Programme prinzipiell den Weg zur Macht verlängern.
Heute, am 10. Februar des Jahres 2020, zahlte Annegret Kramp-Karrenbauer den Preis, der Angela Merkel zugedacht war. Die Parteivorsitzende gab ihren Verzicht bekannt auf die Kanzlerkandidatur 2021, der ein Verzicht darauf ist, weiterhin der CDU vorzustehen. Annegret Kramp-Karrenbauer öffnete das Fenster, damit sie hinausfliegen kann in die Wirklichkeit – und damit die Luft des Lebens wieder bis zur CDU vordringt. Zu stickig war es geworden in der Merkel-CDU, zu geistfeindlich, zu genügsam, zu gehorsam, zu brav, zu dumpf. Der Tanz ums goldene Kalb der Macht ließ alle verstummen. Die Merkel-CDU, deren Nachlassverwalterin heute zurücktrat, war stumm geworden in heilloser Geschwätzigkeit. Starr im Zittern, hohl in ihrer Anbetung vermeintlicher Stabilität.
Wird sich das schnell alles ändern? Natürlich nicht. Die Dame ohne Unterleib ist noch nicht abgespielt. Eine Partei aber ohne Programm, anschlussfähig in alle vier Windrichtungen, kann immer nur eine bizarre Ausnahme sein. Heute ist ein guter Tag für unsere Parteiendemokratie. Die Wirklichkeit kehrt zurück, die Politik kehrt zurück, Programme werden folgen. Der Unterbau wird wachsen. Da ist viel Luft da draußen. Das Leben ist voller Ideen. Ihr Augen, seht. Ihr Beine, geht. Noch ist nicht aller Tage Abend.