Es ist ja nicht so, dass ich nur gelitten hätte. Im Gegenteil. Ich bin ein Kind der Achtundsechziger in jenem Sinn, dass ich von ihnen erzogen wurde. Anders war es in der späten alten Bundesrepublik nicht oder nur unter allergrößten Anstrengungen möglich. Die Eltern waren keine Achtundsechziger, doch erzogen wurde man von Lehrern, Freunden, Sängern, den Umständen, und diese waren alle Achtundsechziger. Sie misstrauten Traditionen und Autoritäten und der Macht und teurer Kleidung. Sie wollten lässig sein, Kumpel sein und anders als alles Vorgefundene. Achtundsechzig war für uns, die Nachgeborenen, zu gegenwärtig, um hinterfragt zu werden. Wir waren so jung, wie sie ewig bleiben wollten.

Foto: A. Kissler

Erwachsen werden, das hieß, den Geist, der einen umwehte, zu verstehen, den Geist von Achtundsechzig. Hieß begreifen, warum die Lehrer wurden, was sie waren, und weshalb auch uns es frommte. Kein Marcuse war nötig, kein Adorno, doch das feuchte Gras unter den Zehen, der Schoppen vom Bio-Weingut, das kommunale Kino, der Kaffee aus Nicaragua, die Schokolade aus dem Eine-Welt-Laden, Haare unter den Achseln. Achtundsechzig, das waren andere Genüsse und frische Gedanken. Und immer der Blick auf ein Versprechen: dass das Leben ein Fluss ist, dessen Geschwindigkeit unsere Füße machen.

Irgendwann wurde ich wirklich erwachsen und emanzipierte mich von den Emanzipierten. Nicht im Groll, doch aus eigenem Antrieb, aufrechten Gangs. Wege werden zu den eigenen, wenn man die Richtung ändert. Trittsicherheit gewinnt man nicht in fremden Fußstapfen. Der Geist will mehr, als die Seele anderen versprach. Adieu denn, adieu, bleibt den Genüssen verbunden und dem tieferen Schwur, haltet für verwandelbar, was euch drückt, fragt nach, hakt nach, redet in den Sonnenuntergang hinein und hofft am Morgen, das Licht sei für euch aufgegangen.

Heute hat der Marsch durch die Institutionen nicht die Macht, aber die Achtundsechziger verwandelt. Der Apparat, gegen den sie rebellierten, hat sie zu Apparatschiks gemacht. Die Altachtundsechziger und die Neuachtsechziger treffen sich im Rechthaberischen. Sie fragen nicht, sie stellen fest. Sie hinterfragen nicht die Macht, sie wollen Macht. Sie klöppeln sich Dogmen. Sie fremdeln nicht mit dem System, sie sind es. Nicht überall, nicht immer, natürlich, aber längst allgemein geworden ist ihre Vernarrtheit in den Status quo. Sie wollten agieren und wurden Reaktionäre.

Wie kam es dazu? Was hat die Achtundsechziger so ruiniert? Ich vermute: Die Widerstände sind zu schwach geworden. Auf roten Teppichen organisiert man keine Revolten. Im Applausorkan ruft man nicht zum Barrikadensturm. Der Geist der Achtundsechziger, wie er sich in SPD und CDU und traditionell den Grünen manifestiert, wie er zur ewigen Krönungsmesse lädt in Medien und Büchern, ist fraglos geworden – und also stellt er keine Fragen mehr. Er hat das Gedankenfett des Saturierten angesetzt. Gesellschaft und Politik haben sich in ihren wesentlichen Protagonisten entschieden, gut zu finden, was die Achtundsechziger einmal als gut erkämpfen mussten, den Internationalismus, den Antimilitarismus, den Antikapitalismus, das Gefühl, den Leib, das ewige Gespräch. Die Wirklichkeit auf der Anklagebank des Vorgestellten. So wurden aus Differenzerfahrungen Dominanzgesten: Bist du schon oder wirst du noch?

Die Pandemie bringt es an den Tag. Sie zwingt uns alle, uns zu ihr zu verhalten. Sie ist die Probe auf das Exempel unseres Selbstverständnisses. Sie entstellt Ängste zur Kenntlichkeit. Sie formt uns nach dem Bild, das wir uns von anderen machen. Systemkritiker verteidigen Systeme, weil sie systematisch Rendite einstreichen. Staatsskeptiker sprechen den Staat von allen Sünden frei, weil er sie nährt, mal geistig, mal im Fleisch. Widerständler preisen die Verhältnisse, die sie zum Experten schlagen. Das Denken verpufft im Haben, der Ehrgeiz im Sein. Links geht es nur an der Ampel voran.

Die Pandemie zeigt: Wer Freiheit nicht vermisst, der war nie frei.